Nerven – Körper – Kamera
Besprechung von »Wiener Bilder. Fotografien von Lothar Rübelt« von Matthias Marschik und Michaela PfundnerMatthias Marschik, Michaela Pfundner
Wiener Bilder. Fotografien von Lothar Rübelt
Schleinbach: Edition Winkler-Hermaden, 2020
160 Seiten, 34,90 Euro
Lothar Rübelt ist kein Unbekannter. Der Wiener Fotograf (1901–1990) gilt als einer der umtriebigsten und innovativsten Bildreporter des letzten Jahrhunderts. Seine Schaffenszeit umfasste mehr als vier Jahr- zehnte, von den Anfängen kurz nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre. Wie wenige andere prägte er – stilistisch wie inhaltlich – die moderne Fotoreportage. Und damit gleichzeitig auch unser Bild von Wien. Denn seine Heimatstadt spielte für ihn stets eine besondere Rolle und blieb all die Jahre über im Zentrum seiner Arbeit.
So ist es denn auch naheliegend und durchaus vielversprechend, dass die beiden Kulturwissenschaftler*innen Matthias Marschik und Michaela Pfundner ihr jüngst herausgegebenes Buch über Lothar Rübelt Wiener Bilder nennen. Es beinhaltet eine Auswahl des in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Nachlasses und gibt uns wertvolle Einblicke in die Geschichte der Stadt, die ab der Zwischenkriegszeit nicht nur einem grundlegenden städtebaulichen Wandel unterworfen war, sondern sich auch kulturell, sozioökonomisch und politisch mit enormer Rasanz veränderte.
Mit welcher Vehemenz die Moderne endgültig Einzug in Wien hielt, geht aus den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Buches gut hervor. Egal ob Sport (die eigentliche Domäne Rübelts), Kultur, Politik, Mobilität, Gesellschaft oder Wirtschaft, in jedem Bereich lässt sich der Bildhunger jener Jahre und die Sehnsucht nach dem Neuen erahnen. Anschaulich demonstrieren Rübelts Fotografien die Beschleunigung des urbanen Alltags in all seinen Facetten.
Er selbst galt schon zu Lebzeiten als rasender Reporter – und als Meister der Selbstvermarktung. Das Firmenschild Phot Rübelt zeigt einen Mann auf einem Motorrad stehend und durch eine Kamera blickend, allzeit bereit zum Betätigen des Auslösers. Alles wirkt schnell, kurz und unmittelbar. Ein kongeniales Sujet, angelehnt an Dziga Vertovs Film-Klassiker Čelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera). Mit Hilfe des Motorrades konnte Rübelt von seiner zentral gelegenen Innenstadt-Wohnung in der Wollzeile jedes Ziel in kürzester Zeit erreichen und seine Aufnahmen danach auch schnellstmöglich an die Zeitungsredaktionen abliefern. Österreichs erster motorisierter Bildberichterstatter war geboren.
Von Jugend an sportlich und technisch interessiert, verkörperte er so das Bild des modernen Fotografen, der sich, wie er selbst einmal bemerkte, auf seine Nerven, seinen Körper und seine Kamera verlassen kann, denn »jagende Hast ist sein Lebenselement, stets muß er startbereit sein.« Sein bevorzugtes Equipment, die Leica, passte dazu ideal; als mobile Kleinbildkamera war sie einfach und schnell zu bedienen.
Rübelt entwickelte eine eigene, sehr dynamische Bildsprache. Seine Kund*innen waren die illustrierten Zeitschriften, die ab der Zwischenkriegszeit einen enormen Boom erlebten, vom nationalsozialistischen Notschrei und dem sozialdemokratischen Kuckuck über Das Interessante Blatt bis hin zur Berliner Illustrirten. Für Letztere war er ab 1935 tätig – sein internationaler Durchbruch. Ein Jahr später war er bereits als offizieller Berichterstatter der Olympischen Sommerspiele in Berlin akkreditiert. Zur nationalsozialistischen Ideologie entwickelte Rübelt bekanntermaßen ein Naheverhältnis, was soweit ging, dass er später in Wien die jüdischen Anteile des arisierten Wollzeile-Kinos erwarb. Besonders gut nachvollziehen lässt sich mit seinen Bildern die sukzessive Neuordnung des öffentlichen Raumes. Immer wieder rückte er das städtische Verkehrsgeschehen ins Bild, zeichnete er anschaulich die beginnende Motorisierung nach. Automobile, Tank- stellen, Garagen, Autohäuser und Lichtampeln begannen das Straßenbild zu prägen. Ein Verkehrspolizist auf der Ringstraße vor dem Café Prückel, aufgenommen um 1930, wird bei ihm zu einem symbolhaften Bild der Zeit (das wohl nicht zufällig das Cover des Buches ziert). Neues Straßenmobiliar gehört hier ebenfalls dazu, von der händischen Ampelregelung über öffentliche Papierkörbe (»Abfälle nicht wegwerfen, sondern ...«), Getränkeautomaten bis hin zu einem kuriosen Bettlerautomat, von Hausbesitzer*innen gleichsam als Abstandshalter installiert, um die Armut auf der Straße zu belassen und ein Betreten des eigenen Hauses hintanzuhalten.
Zahlreiche klassische Wiener Typen finden sich in Rübelts Fotografien: der Schuhputzer bei der Oper, die Obstverkäuferin am Naschmarkt, der Kofferträger am Westbahnhof. Bis heute spürt man auf den Bildern die Anziehungskraft des scheinbar typisch Wienerischen, das unwiderstehliche Lokalkolorit.
Auch die zunehmende Kommerzialisierung des Stadtraums, in den völlig neue Werbemethoden Einzug hielten, ist immer wieder Thema. Das vielbestaunte durch die Straße spazierende Michelin-Männchen etwa, die bunten Werbefahrzeuge, die ihre Slogans per Automobil oder Straßenbahn verkünden, oder die neuen, teils riesigen Leuchtreklamen an Fassaden und Hausdächern. Letztere kamen natürlich insbesondere bei Nachtaufnahmen zur Geltung, ein Genre, das Rübelt ebenfalls mühelos beherrschte. Mit Fotos von weithin locken- den Lichtspielhäusern und genussvollen Szenen des Wiener Nachtlebens trug er wesentlich zur Verbreitung des zugkräftigen Images von Wien bei Nacht bei.
Und nicht zuletzt zeigte er auch, wie neue Sportarten den Stadtraum belebten: ein Staffellauf am Franz-Josefs-Kai, ein Radrennen in der Prater Hauptallee oder der zum Massenspektakel avancierte Schwimmwettbewerb im Donaukanal Quer durch Wien.
Politische Manifestationen durften in seiner urbanen Bildchronik natürlich ebenfalls nicht fehlen, von 1.-Mai-Feiern, Aufmärschen und Demonstrationen über den Justizpalastbrand 1927 bis hin zur Begeisterung der Massen im Anschlussjahr 1938. Ein diesbezüglich besonders aufschlussreiches Foto stammt von Anfang der 1930er-Jahre. Es zeigt die Bewohner*innen eines Hauses, die in ihren Fenstern den Aufmarsch diverser Gruppierungen auf der Straße verfolgen. Die jeweilige politische Überzeugung hatte man auf Transparenten zum Ausdruck gebracht. Während im ersten Stock die drei Pfeile der Sozialdemokratie prangten, war nur einen Stock höher das Hakenkreuz zu sehen mitsamt den jubelnden, Fähnchen schwingenden Anhänger*innen.
Mit Aufnahmen wie diesen wurde Rübelt zum einprägsamen Chronisten seiner Zeit. Dass sie nun – hochwertig reproduziert und klug kommentiert – in Buchform erhältlich sind, kann nur als Gewinn bezeichnet werden. Eine lebendige instruktive Wiengeschichte, kompakt und dennoch facettenreich. Bilder eines jahrzehntelangen urbanen Wegbegleiters auf höchstem Niveau.
Peter Payer, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.