Neue Mitten und Ex-Zentrische Orte. Praktische Kritik der unternehmerischen Stadt
Besprechung von »Bignes? Size does matter« von Jochen BeckerJochen Becker (Hg.)
Bignes? size does matter
Image/ Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt.
b_books
Berlin, 2001
Prognostizierte de Certeau Anfang der Achtzigerjahre den Niedergang der Konzept-Stadt und das Überleben urbaner Klammheimlichkeiten des alltäglichen Handelns, so verweisen konsum- und kontrollorientierte Megaprojekte und Festivalisierungskonzepte zunächst auf eine konträre Entwicklung: Nur städteplanerische und architektonische Größe, so das Bigness-Postulat des niederländischen Architekten Rem Koolhaas, werde dem »Regime der Komplexität« gerecht. Die Konzept-Stadt nach der Moderne entsteht im produktiven Chaos einer entfesselten Ökonomie, und die Architektur schwingt sich auf zur Be-, Um-, Erbauung der unternehmerischen Stadt.
Der von dem Künstler und Kurator Jochen Becker herausgegebenen Sammelband bignes? Kritik der unternehmerischen Stadt spürt den Macht- und Herrschaftseffekten nach, die diese Projekte hervorbringen und den Verhältnissen, aus denen sie erwachsen. Zugleich sammelt der Band Anzeichen der immanenten Krisenhaftigkeit großmaßstäblicher Projekte und oft wenig bekannte Beispiele linken städtischen Handelns. Gerade diese letzte historisierende und archivarische Perspektive des Samplers verbindet die kritischen Praktiken zu einer widerspenstigen Spur durch die postfordistische Stadt.
bignes? ist damit im besten aller möglichen Sinne ein Reader, der das Format des Readers mehr als übersteigt: Der Band ist die Dokumentation und Weiterführung einer Film- und Vortragsreihe, die die Filmkuratorin Madeleine Bernstorff und Jochen Becker für das Sonderprogramm der Oberhausener Kurzfilmtage 1999 erstellten. Die Eröffnung des Konsum- und Erlebniskomplexes »Neue Mitte Oberhausens« auf der Industriebrache eines ehemaligen Stahlwerks - inkl. Mega-Mall, Multiplexkino, Arena, Gastronomiemeile, Freizeitpark und dem zum Ausstellungsraum umgebauten Gasometer - lieferte den lokalen Anlass für die Konzeption des Sonderprogramms. Rem Koolhaas’ Propagierung von Bigness den theoretisch-planerischen Kontext für eine kritische Bearbeitung.
Bereits in der Einleitung betont Becker das höchst ambivalente Verhältnis zwischen unternehmerisch dynamisierten Großprojekten und Politik, das mit dem Begriff der Privatisierung nur verkürzt zu (be)greifen ist: Proklamieren Erstere zwar stets die Vorteile einer ungebremsten Marktdynamik für die Stadtplanung, so laufen Finanzierung und Auftragsvergabe oft über die öffentliche Hand. Geraten Großprojekte in die Krise (anzeigende Stichworte wie »Marktübersättigung«, »Wartestand« etc. lassen sich dann auf den Immobilienseiten der Presse finden), so tragen das finanzielle Risiko in den meisten Fällen die Kommunen. Ein Bild des Schiffbruchs präsentiert der im Band durch Ausschnitte vertretene Videofilm »A country’s new dawn« von Sandra Schäfer, der die Versteigerung des Interieurs nach nur einem Jahr Millennium Dome zeigt. Auf die produktive Spitze treibt der Beitrag »Zeit abgelaufen« von futur_perfect die Möglichkeit des Scheiterns. Er phantasiert die Besetzung und Nutzung des (gerade im Bau befindlichen) Space Park Bremen nach dessen ökonomischem Niedergang im Jahr 2010. Zugleich verdeutlicht der Text, dass derartige Megaprojekte für die Imageproduktion der im Standortwettbewerb stehenden Städte eine zentrale Funktion haben, die kaum vom anschließenden »Gelingen« des Projekts abhängig ist.
In dem analytisch angelegten Aufsatz »Konsumfestungen und Raumpatrouillen. Der Ausbau der Städte zu Erlebnislandschaften« zeigt Stadtforscher Klaus Ronnenberger, wie sich ökonomische Umstrukturierung und revanchistische Vorstellungen der Mittelklassen, verbinden. Es entsteht ein »neuer Kontrolltypus«, der sich in den diversifizierten städtischen Räumen unterschiedlich niederschlägt. Ronneberger kritisiert, die Mall-Kultur nicht auf dem Hintergrund der »Europäischen Stadt«, die er zurecht als Mythos benennt: nicht die »Amerikanisierung«, sondern die Normalisierung von Verhaltensstandards und die Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse seinen für eine Bewertung ausschlaggebend. Detailreich sammeln die beiden Notizen des Filmemachers Harun Farocki »Amerikanische Einstellungen« und »Kontrollblicke« Schnipsel über ökonomisch-funktionalistische Anordnung und elektronische Evaluierung des Mall-Interieurs und den neuen Kontrolltyp der elektronischen Überwachung im privatisierten Gefängnis. Die Parallelsetzung der beiden Notizen im Buch verdeutlicht die Nichtrepräsentierbarkeit des neuen Gefängnistypus, wie auch die Relevanz von BetreiberInnen und deren SpezialistInnen in der Produktion homologer Raummilieus im Gefängnis und der »Kathedrale Mall«.
Die Metapher der Kathedrale, die als solche noch mal extra zu befragen wäre, taucht auch in anderen Beiträgen auf. Während Rolf Sachsse in »Barocke Städte unter amerikanischer Nacht im All« eher die Überhöhung und Virtualisierung von Monumentalprojekten in den Repräsentationsvideos der Architekturbüros untersucht, konfrontiert Gunnar Ulbrich in »Sensible Zonen« das kathedralistische Image des für die Fußball WM 1998 gebauten Stadions von Saint-Denis in der nördlichen Banlieue von Paris mit dem Quartier und dessen BewohnerInnen. Dass sich die Konzeption von Arenen nicht nur an der monumentalen Massenbelustigung und den Profitbedürfnissen der Freizeitindustrie orientiert, sondern wiederum eng mit den Methoden der Aufstandsbekämpfung verknüpft ist, zeigt sehr deutlich der Text »Logistik der Massen« von Jochen Becker.
Die Diskussion um Macht und Raum zieht sich - teils verdichtet, teils fragmentiert- durch das ganze Buch. Die Verteilung und Lokalisierung von Macht im Raum, und die Bedeutung der Kontrolle des Raums, stehen ebenso im Mittelpunkt, wie die Überschneidungen mit Wissen und Diskursen, die für die Produktion von Imagestrategien und Machttechnologien zentral sind. So weist auch der Beitrag von Ludger Basten über die Verlagerung von Entscheidungszentren in der Oberhausener Stadtverwaltung in diese Richtung, der zeigt, dass der Umbau zum »Amt ohne Ämter« das unternehmerische ExpertInnentum fördert und die kommunalen Gremien entpolitisiert. Oder Mogniss H. Abdallah’s Analyse der »Banlieue Show«, die evident die Medialisierung einer nicht mehr auf das Soziale ausgerichteten Stadtpolitik am Beispiel des Abrissspektakels von Wohnblocks in den Pariser Banlieues nachvollzieht.
bignes? ist aber nicht nur eine Sammlung äußerst lesens- und betrachtenswerter Visualisierungen und Analysen unternehmerischer Stadtgroßprojekte und Imageproduktionen, sondern zugleich ein eminent wichtiges Archiv städtischer, kritischer, künstlerischer Praxis. Es finden sich Beiträge zu einzelnen Projekten der Neunzigerjahre wie InnenStadtAktion, A-Clip, die »Mission« in Hamburg, Reclaim the Streets, das Berliner Architektur-Kollektiv »freies fach« oder City Crime Control aus Bremen. Die Collage aus Videoschnipseln, Quartierserzählungen und Interviewauszügen von Margit Czenki und Christoph Schäfer über die Hamburger Initiative »park fiction« bezieht sich zum Beispiel auf ein Projekt, das mit seiner quartiersbezogenen Perspektive in der Tradition der Kiezpolitik steht. Die Initiative setzt darauf, gegen die hamburgerische Imageproduktion Elbrandbebauung eine »kollektive Wunschproduktion« im Sinne eines von BewohnerInnen geplanten Parks durchzusetzen. Ebenso finden sich im Sampler Beiträge, die in sich bereits wertvolle Archive darstellen: Von Carsten Does etwa die Geschichte der Videoöffentlichkeit, die historisch, informativ und materialreich ist, Axel John Wieders Darstellung der Videoinitiative AK Kraak, die inzwischen bereits auf zehn Jahre Gegenöffentlichkeit zurückblicken und -greifen kann.
Eine wichtige Erweiterung der Perspektive (und zugleich ein erneutes Archiv in diesem archivarischen Buch) bietet der Artikel von Madeleine Bernstorff, der einen Überblick über die von ihr für Oberhausen konzipierte Kurzfilmreihe bietet. Informelle Ökonomien, migrantische Erfahrung, virtuelle und gated communities und Rem Koolhaas in der de certauschen Turmperspektive tauchen hier auf und damit erscheint im Filmblock etwas, was im Buch ansonsten nur sporadisch Platz findet: Städtisches Handeln nicht nur in Aktionsform, sondern aus der Perspektive des Alltags. Diese Perspektive schillert immer zwischen der Hoffnung, dass alltägliches Handeln das Diskrete, Verborgene, Heterogene darstellt, und der Befürchtung, es finde eher die Regulierung des Lebens als Alltäglichkeit statt. Dennoch erhält städtisches Handeln erst dann eine breitere Relevanz, wenn eine Art »Veralltäglichung« stattfindet, wenn die Auseinandersetzungen um neue Arbeitsbedingungen und neue Formen der alltäglichen Subjektivierung hinzukommen. Unter »Los« hat uns Jochen Becker im Vorwort mehr dazu versprochen. Darauf freue ich mich jetzt schon.
Ellen Bareis ist Professorin für gesellschaftliche Ausschließung und Partizipation an der Hochschule Ludwigshafen. Ihre Schwerpunkte sind Alltag und soziale Kämpfe, die Produktion des Sozialen from below und Transformationen des Städtischen.
Becker, Jochen (Hg). Bignes? Size does matter. Image/ Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt, b_books, Berlin 2001.