» Texte / Ohne Gegenstimmen gibt es keine Möglichkeiten voranzukommen!

Ursula Maria Probst


Postponed — was soviel heißt wie verschoben — ist im Kunst- und Kulturbetrieb 2020 das wohl am häufigsten verwendete Wort. Die Covid-19-Krise zwang zum Umplanen und ständigen Updaten. Doch trotz aller Lockdowns blieb die Wiener Kulturszene aktiv, zeigte Biss darin, Alternativen zu entwickeln.
        So organisierte Impulstanz nach dem coronabedingten Ausfall von Indoor-Aktivitäten das Projekt Public Moves. An sieben verschiedenen öffentlichen Orten der Stadt wie der Kaiserwiese im Wiener Prater, der Zirkuswiese in Oberlaa, dem Arkadenhof im Wiener Rathaus, der Seestadt Aspern, der Papstwiese im Donaupark oder dem Goethehof in Kaisermühlen wurden 296 Schnupperworkshops von Bodywork bis African Dance gratis angeboten. 19.000 Tanzwütige quer durch die Generationen nahmen daran enthusiastisch teil. Damit gelang eine tolle Initiative, die zeigte, wie Kultur funktionieren kann, wenn dafür auch Orte an der Peripherie aktiviert und Signale gesetzt werden, dass Kunst und Kultur allen zugänglich sein muss. Eine Initiative, die unbedingt 2021 fortgesetzt werden sollte.
        Die Wiener Festwochen erfanden sich ebenfalls neu, nachdem im März klar war, dass das Festival unter dem Motto Last Time, this Time, next Time nicht wie geplant stattfinden konnte. Alle Künstler*innen, die bei den Festwochen aufgetreten wären, wurden eingeladen, am Tag, an dem ihre Premieren stattfinden hätten sollen, eine Botschaft — eine ,digitale Geste‘ — zu schicken, um gemeinsam eine virtuelle Plattform zu bilden, die weiterhin abrufbar ist. Unter dem Slogan Gesten eines abgesagten Festivals wurde trotz Skepsis gegenüber des Online-Theaters der digitale Raum in einem 35-tägigen Parcours von u. a. William Forsythe, Koleka Putuma, Michikazu Matsunes, Jussara Belchior, Eliane Radigue, Mamela Nyamza, Tiago Rodrigues mit Texten, Sound und Videos bespielt. Leben wir derzeit in einer Welt der Konjunktionen? Die Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara aus dem indigenen Clan der Tariano — des Volks des Donnergottes — eröffnete mit ihrer gemeinsam mit dem Theatermacher Milo Rau verfassten Rede Against Integration. Dieser Wahnsinn muss aufhören! die digitalen Festwochen und sprach über die Zerstörung des Amazonasgebiets als die grüne Lunge unseres Planeten durch den globalen Turbokapitalismus, das Wüten des Coronavirus in Manaus, der Hauptstadt des Amazonas, die Auslöschung von alternativen Lebensweisen durch die erzwungene Integration in kapitalistische Systeme und rief zur Solidarität auf: »Wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand Pflicht«. Milo Rau, bekannt dafür, antike Tragödien politisch ins Heute zu versetzen und an Krisenherden dieser Welt mit Betroffenen zu inszenieren, musste im März coronabedingt die Arbeit an Antigone am Amazonas abbrechen. Ja, es ist Zeit zu handeln: »Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt.« Wie gegen den drohenden Rückzug ins Nationale und gegen das Hochziehen von Grenzen und Restriktionen ankämpfen, die infolge der durch die Pandemie ausgelöste Gesundheitskrise sich erneut breitmachen? Live stattgefunden haben die Wiener Festwochen schließlich unter regem Publikumsandrang in abgespeckter Form trotzdem, nämlich von 26. August bis 26. September 2020 unter dem Titel Festwochen reframed mit elf international besetzten Produktionen.
        Der interdisziplinär arbeitende Künstler Thomas Geiger entwickelte mit seiner Performance-Reihe Bust Talks eine originelle Methode im Umgang mit historischen Denkmälern im öffentlichen Raum und deren Reaktivierung für akute Themen. Anlässlich des 250. Geburtstags von Ludwig van Beethoven fiel die Wahl in Wien auf dessen Bronzestandbild am Beethovenplatz. Dieses ist für Thomas Geiger kein seelenloses Objekt, sondern wird zum fiktiven Dialogpartner. Gestartet wird ein Gespräch, in dem es u. a. um die Corona-Pandemie, soziale Distanzierung, gratis Zugang zur Kultur für alle, die Freizügigkeit der Kunst und den Kampf der Freischaffenden mit den Finanzen geht.
        Mal — Embriguez Divina von Marlene Monteiro Freitas geriet durch die bewährte, strenge Formensprache ihrer Choreographie und das detailgenaue und groteske Schauspiel ihrer Performer*innen zu einem opulenten, karnevalesken Feuerwerk des Visuellen unter Hochspannung. Ausgehend von Schriften des französischen Schriftstellers und Philosophen George Bataille siedelte Freitas im Überschreiten von Grenzen das Böse in der Nähe der Kunst an, befasste sich mit der Entpersonalisierung des Negativen, mit der Zerstreuung des Übels und dem dadurch ausgelösten Leiden.
        Als Last Time, This Time, Next Time LAB fand ein Workshop von Julia Grill, Tania Traxler und Kalifornia Kurt bei freiem Eintritt im USUS am Wasser statt. Hier ging es um nichts weniger als um die Ausarbeitung verschiedener Denkmodelle zur ökologischen Krise und aktuellen Pandemie, darum wie verschiedene Zeitlichkeiten — menschliche und nichtmenschliche — entwickelt werden können. In der posthumanen Welt von Farm Fatale — was übersetzt verhängnisvoller Bauernhof bedeutet und trotz phonetischen Gleichklangs nicht mit Femme Fatale zu verwechseln ist — von Philippe Quesne gibt es Naturlaute nur durch Toneinspielungen. Genmanipulation und Pestizide haben die Tierwelten ausgerottet und zum Verstummen gebracht, zurück bleibt eine Poesie der Sehnsucht für das Unwiederbringliche.
        »Kunst ist kein Luxus, Kunst ist ein gesellschaftliches Grundbedürfnis, auf das alle ein Recht haben« — damit beginnt Tania Brugueras Manifesto on Artists’ Rights. Ein Manifest, das Kunst als Aufforderung, alles zu hinterfragen, als systemkritische Stimme, als Bedürfnis, die Realität zu ändern, ins Zentrum unserer derzeit von entscheidenden Veränderungen betroffenen Gesellschaft rücken will und gegen deren nachrangige Behandlung protestiert. Verstanden wird Kunst dabei als Gemeingut, als Ort des Zweifelns und Widerspruchs, als Recht, mit Führungsmächten und dem derzeitigen Status quo nicht einverstanden zu sein, als Metarealität für eine potenzielle Zukunft. Derzeit aktiv in die revolutionären Proteste gegen die Inhaftierung von Künstler*innen in Kuba involviert, wurde Tania Bruguera selbst von der Staatsgewalt entführt und wiederholt von Inhaftierung bedroht. Ihre Arbeiten für die Festwochen Eine Schule für Integration und Galileo werden nun 2021 gezeigt, wenn, wie zu hoffen ist, wieder alles wie geplant läuft.


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