Peter Leeb

Peter Leeb ist Aktivist bei FRISCH - Freiraum Initiative Schmelz und lehrt am Institut für Kunst und Architektur. Er ist Architekt und Partner von NURARCHITEKTUR in Wien.


Der 100. Todestag Otto Wagners ist Anlass von Ausstellungen und Veranstaltungen, um den großen Architekten aus dem Hintergrund des Wiener Alltags in den Vordergrund der Reflexion zu bringen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es bereits her, als das Werk, im damals noch als Historisches Museum der Stadt Wien bezeichneten Haus am Karlsplatz, zum ersten Mal überhaupt vertieft gezeigt worden ist. Seit damals rückte der (Wiener) Vater der Moderne vermehrt ins architektonische, aber auch ins touristische Bewusstsein. Hier sollen zwei Ausstellungen besprochen werden, eine im Wien Museum und eine im Museum für angewandte Kunst.

Die aktuelle, unter dem schlichten Titel Otto Wagner, im Wien Museum von Andreas Nierhaus und Eva-Maria Orocz zusammengestellte Schau ist die bisher größte zum Gesamtwerk und gliedert dieses in chronologischer Ordnung. Im gesamten Obergeschoß des Hauses werden unzählige Zeichnungen und Modelle aber auch Möbel sowie persönliche Gegenstände – die Sammlung von Fotografien und Visitenkarten bekannter und berühmter ZeitgenossInnen lassen hier eine vergangene Welt wiedererstehen – in 12 Stationen dem Publikum vorgestellt. Die atemberaubende Qualität der Zeichnungen, die durch die unermüdlichen MitarbeiterInnen Otto Wagners entstanden sind, überzeugt auch uns noch durch deren Klarheit und Schönheit. Die Blätter waren natürlich nicht Selbstzweck, sondern gezielt eingesetzte Mittel zur Durchsetzung von Projekten, ob als Wettbewerbsbeitrag bzw. mit oder ohne spezifischem Auftrag. So zeigt sich Wagner als früher Meister der Öffentlichkeitsarbeit. Für uns ist es aufschlussreich, im Fall gebauter Wirklichkeit, das Verhältnis zwischen Projektion und Realisierung zu erkunden, ein Thema mit durchaus aktuellem Bezug. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Ausstellung genau an dem Ort stattfindet, für den Wagner ein neues Stadtmuseum als städtebauliche Rahmung des Karlsplatzes vorgesehen hatte und der derzeit auf seine Erweiterung in Form eines Aufbaus auf den Bestand wartet. Wagners überragende Könnerschaft wurde allerdings durch eine Bauaufgabe befördert, die in Art und Umfang ohne Beispiel war, nämlich der Gestaltung sämtlicher Bauten der neuen Wiener Stadtbahn. Seit dem Wettbewerbserfolg für den Wiener Generalregulierungsplan 1892 war Wagners strategisch-moderner Zugang zu den Problemen der rasant wachsenden Großstadt bekannt. Ein Zugang, der bewusst im Gegensatz zu den romantischen Vorstellungen seines Zeitgenossen Camillo Sitte stand. Obwohl für Wagner die brachiale Methodik eines Baron Haussmann in Paris nicht in Frage kam – er versuchte Bestehendes weitgehend in seine Planung zu integrieren – stellt die bewusst gewählte horizontale Trassierung der Stadtbahn gegenüber der Wiener Hügellandschaft einen topografisch radikalen Schritt dar. Die Bogen- und Stationsbauwerke gelangen auf diese Weise zu deren unverwechselbaren lokalen Eigenart. Wagners Meisterschaft wird aber auch beim eigentlichen Benützen der Bauwerke deutlich: gibt es denn bequemere Stufen oder angenehmere Geländer und Handläufe? Die überaus klar organisierten Stationen, ob nun als Torbauten über Niveau geführter Geleise oder als Pavillons einer unterirdischen Trassenführung, werden bis zum heutigen Tag vom Publikum einmütig geschätzt wie kein anderes Infrastrukturprojekt der Stadt, die Donauinsel einmal ausgenommen. Sind auch einige Stationsbahnhöfe und beinahe auch eine ganze Brücke fortschrittsgläubiger Erneuerungsbestrebungen zum Opfer gefallen – der Kampf um genau jene markiert ein Umdenken in der hiesigen geschichtlichen Architekturrezeption. So ließ sich die Stadtbahn in das heutige U-Bahnnetz der Stadt integrieren und ist derart im Nachhinein zu einem herausragenden Beispiel zukunftsweisender Gestaltung geworden, das bei jeder gegenwärtigen Planung ernst genommen anstatt als selbstverständlich vorausgesetzt werden sollte.
In der Ausstellung wird immer wieder die Modernität Otto Wagners betont. Was aber bedeutet diese? Wagner erkannte, dass der Historismus keine adäquaten Antworten auf die Fragen dynamischer Industrialisierung und den sich daraus ergebenden Veränderungen des Lebens bieten kann. Sein Vorschlag eines Nutzstils, der Material, Konstruktion und Funktion sinnvoll vereinen sollte, ist die Vorwegnahme späterer revolutionärer Entwicklungen. Die Postsparkasse sollte für diesen Stil das prominenteste Beispiel werden. Leider lässt die ansonsten so umfangreich ausgestattete Schau gerade hier keine Vertiefung für das interessierte Laienpublikum zu: denn die Trennung von Haut und Struktur ließe sich durchaus darstellen und würde zu einem besseren Verständnis fortwährend wiederholter Gemeinplätze werden. Die Postsparkasse macht nämlich auch ein wenig die Tragik von Otto Wagner deutlich, ist sie doch durch den entmaterialisierten Kassensaal ein epochal revolutionärer Bau, der allerdings inmitten von massiven Baumassen, die eher an das 19. Jahrhundert erinnern, hineingebaut ist. Dieser Umstand tut der berühmten Fassade mit ihren konstruktiv-erläuternden aluminium-bekappten Eisenbolzen, die bekanntlich keine statische Aufgabe erfüllen, keinen Abbruch, denn gerade diese unaufgelösten Widersprüche öffnen den Raum für eine kritische Auseinandersetzung noch in unseren Tagen.
Im Gegensatz zu formal-konstruktiven waren Überlegungen zu sozialen Fragen dem großbürgerlichen Großstadtarchitekten erst in seinen letzten Schaffensjahren wichtig – und das wohl auch nur vor dem Hintergrund des Krieges und seiner schwierigen Folgen für die Metropole. Wagner war kein Architekt der sozialen Reform, für ihn war es der Raum, den es zu ordnen galt, um darin die Kontinuität eines modernen Lebens zu gewährleisten, das in seiner grundsätzlichen Ordnung als ein gegebenes angenommen wurde. Seine Vision der Großstadt wirft so räumliche Schatten auf die eigentliche Moderne, welche oftmals dieses Modell bereits als Ziel und nicht als Mittel zu ersterem gesehen hat. Insofern wäre einer der wenigen Kritikpunkte an dieser im Hinblick auf das gezeigte Material hervorragenden Ausstellung ein Mangel an Vergleichen mit internationalen Strömungen dieser Zeit, um ein erweitertes Verständnis der Stellung und Wirkung von Wagners Werk zu erhalten. Der so umfangreich wie sorgfältig gestaltete Katalog wird andererseits eine Vertiefung des Themas ermöglichen, auf die man sich jedenfalls freuen kann.
Verzichtet man im Wien Museum weitgehend auf internationale Bezüge, so öffnet das MAK mit der von Sebastian Hackenschmidt kuratierten Ausstellung Post Otto Wagner einen äußerst ambitionierten Referenz- und Resonanzraum. Die gesamte Fläche des Obergeschoßes des Traktes an der Weißkirchner Straße wurde für die Schau in grundsätzlich drei Themenbereiche gegliedert: Dimensionen, Formen und Konstruktionen, wobei die beiden ersten in jeweils 16, die dritte in 9 Stationen unterteilt sind. Zudem werden im zentralen Raum Möbel von Wagner und anderen gezeigt. Das Post kommt hierbei von der Architekturikone der Postsparkasse einerseits und dem Wirken von Wagners Werk bis in die Zeit der Postmoderne andererseits. Das Verständnis von Querverweisen und Zusammenhängen wird durch zahlreiche Kurztexte zu den Stationen unterstützt, wobei die Zuordnung der Einzelgegenstände (Zeichnungen, Fotografien usw.) leider nur durch eine auszuborgende Broschüre möglich ist, was einer gewissen Ungezwungenheit beim Betrachten der Schau nicht so zuträglich ist. Das aber nur am Rande.
Beim Eintauchen in die Ausstellung wird man mittels lustvoll-kreativer Assoziationen daran erinnert, wie sehr unsere (post)moderne Welt doch zusammenhängt: da wird Ludwig Hilbersheimers Großstadtarchitektur neben einen von Le Corbusier verfassten Brief gestellt, in dem dieser bezeugt mit 20 zu dumm gewesen zu sein, um Wagners Werk entsprechend zu würdigen; ein Lüftungsrohr aus der Postsparkasse wird zum Ankerpunkt einer ganzen Architekturrichtung, welche sich besonders mit Haustechnikelementen befasst (etwa das Centre Pompidou von Rodgers und Piano oder die Staatsgalerie Stuttgart von James Stirling); Wagners städtische Zinshäuser werden mit Hans Holleins Haas Haus oder Marco Zanusos Kaufhaus La Rinascente in Rom verglichen. Weniger überraschend ist naturgemäß der Bezug zwischen Stadtbahn und den nach wie vor vorbildlichen Bauten der Wiener U-Bahnstationen durch die Architektengruppe U-Bahn. Hier wird sichtbar, wie prägend für eine ganze Stadt die qualitätsvolle Gestaltung eines Verkehrsbauwerks sein kann, ja eigentlich immer sein müsste. Was allerdings dieses Wiener Infrastrukturwunder mit den experimentellen Entwürfen von Walter Pichler, Raimund Abraham oder Günther Domenig zu tun haben soll, wird wohl nur auf nicht unmittelbar erkennbaren Metaebenen klar. Auch die zeitgleiche Modernität von Hochhäusern der Chicago Schule lässt sich nicht mit den doch wesentlich bescheideneren Konstruktionen in Wagners Gebäuden vergleichen. Mehrfach werden auch Projekte der italienischen Gruppe Superstudio wohl mit Hinblick auf das Konzept der Unbegrenztheit von Wagners Großstadtvision gezeigt. Ausgesprochen oft findet das Werk von Robert Venturi und Denise Scott Brown Erwähnung, was insofern interessant ist, als deren Popularitätszenit längst überschritten ist, während die Bedeutung von Wagner als etabliert gelten kann. Insgesamt sind die angeregten Verbindungen jedenfalls spannend und vor allem für die mit Vorkenntnissen behafteten BesucherInnen sehr reizvoll. In diesem Sinne ist es eine postmoderne Ausstellung, die in recht freier Weise, also ohne ein Gebot chronologischer Einordnung, betrachtet werden kann.
Die Schau fasziniert insgesamt in ihrem der Person und dem Werk Otto Wagners durchaus angemessenem Drang nach Größe und in dieser Größe liegt wohl auch ihr großartiges Scheitern. Welchen Reim sich BesucherInnen ohne einer gewissen Grundausstattung architektonischen Wissens zum 20. Jahrhundert machen sollen, kann hier nicht ergründet werden, wenn auch die Frage nach den kommunikativen Potenzialen einer Präsentation sich selten so deutlich stellt wie bei dieser absolut sehenswerten Ausstellung. Auf den Katalog, der für den kommenden Monat angekündigt ist, kann man gespannt sein.
Beide Ausstellungen können und müssen auf die gegenwärtige Relevanz der behandelten Themen befragt werden. Angemessenes Fortschrittsdenken, transparente Konzepte der Stadtentwicklung, konstruktive Klarheit in der Ausbildung von städtischer Infrastruktur, aber auch die Qualität der Einzelelemente im öffentlichen Raum – all das sind Fragen, die sich in größere Referenzräume einreihen und einem Vergleich mit Dingen, die vor über hundert Jahren schon erreicht worden sind, standhalten sollten.

Otto Wagner
Wien Museum
KuratorInnen: Andreas Nierhaus, Eva-Maria Orosz
Bis 7. Oktober 2018

Post Otto Wagner
Von der Postsparkasse zur Postmoderne
MAK
Kurator: Sebastian Hackenschmidt
Bis 30. September 2018


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