Per Anhalter durch die Galaxien: Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler
Besprechung der Ausstellung »Visionäre Räume – Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler« im Belvedere 21In den westlichen Industrienationen waren die 1960er Jahre geprägt von Optimismus und Aufbruchsstimmung. Der Wettlauf ins All befand sich auf dem Höhepunkt. Vor dem Hintergrund ungebremsten wirtschaftlichen Aufschwungs und technologischen Fortschritts erschienen sogar Zeitreisen denkbar – und damit die Begegnung und der Dialog von Protagonist:innen aus unterschiedlichen Epochen, die sich viel zu sagen gehabt hätten, vorausgesetzt, sie hätten zur selben Zeit am selben Ort gelebt.
Ein solcher Dialog zwischen zwei österreichischen Universalisten fand – ganz ohne Zeitreise – im Jahr 1963 in New York statt. Der bereits betagte Friedrich Kiesler (1890–1965), der 1926 in die USA emigriert war, traf auf den jungen Walter Pichler (1936–2012), der gerade in Wien Bekanntheit erlangte. Vermittelt wurde das Aufeinandertreffen der beiden Künstler, die sich einer klaren Zuordnung zu den Disziplinen Architektur, Malerei oder Bildhauerei entziehen, von Hans Hollein. Über inhaltliche Details ihres Austauschs ist wenig bekannt, doch Pichler sprach mit Zeitgenossen immer wieder über das Treffen und nannte Kiesler, der zwei Jahre später verstarb, als Referenz.
Bis Zeitreisen tatsächlich möglich werden, bleibt der genaue Hergang des Zusammentreffens glücklicherweise unergründet. Für das Belvedere 21 bildet gemeinsam mit den Kunstmuseen Krefeld diese ›real-spekulative‹ Begegnung den Ausgangspunkt für eine Reise durch den Kosmos der beiden Raumgestalter. Unter dem Titel Visionäre Räume werden ihre umfangreichen und vielschichtigen Werke miteinander in Be- ziehung gesetzt und auf Analogien und Parallelen abgeklopft. Der fiktive Diskurs wird durch eine gemeinsame Ausstellung ihrer Objekte, Malereien, Zeichnungen und Möbel ins Jetzt geholt – ein spannungs- reicher Dialog, der von visionärer Spekulation hin zum alltäglichen Gebrauch und von der Stadtutopie bis zum Möbeldesign reicht.
Trotz ihrer stark unterschiedlichen Gestaltungsansätze und historisch bedingter Werdegänge verbindet Kiesler und Pichler ihr holistisches Denken, das sie dem zu dieser Zeit vorherrschenden Rationalismus entgegensetzten. Beide Künstler dachten in umfassenden räumlichen Inszenierungen, die alle verfügbaren Mittel des künstlerischen Ausdrucks einbezogen – von Malerei und Zeichnung über Plastik bis hin zu Architektur und Bühnenbild. Pichler und Kieslers Arbeiten überschreiten die Grenzen der Disziplinen, wie die Kuratorin Verena Gamper betont, die diese Ausstellung in enger Kooperation mit der Installationskünstlerin Sonia Leimer umgesetzt hat.
Die Auflösung der Grenzen wird durch das Konzept der Ausstellungsmacher:innen schlüssig inszeniert und fortgeschrieben. Leimers filigrane, modular einsetzbare Stahlrahmenkonstruktionen verleihen den daran befestigten Objekten eine leichte und schwebende Wirkung, die den eigentlich wandlosen Raum des Belvedere 21 in einen offenen und fließenden, fast schwerelos erscheinenden Kosmos verwandeln. Die ausgestellten Objekte scheinen darin mal wie Satelliten im All, dann wieder wie Gesteinsformationen, die durch den Ausstellungsraum treiben, sich anziehen oder abstoßen oder kurz auf schmalen Vorsprüngen und Plattformen zwischenlanden.
Gezeigt wird auch eine von Kiesler in den 1950er und 1960er Jahren entwickelte Reihe von Werken unter dem Titel Galaxy. Diese Arbeiten sind Teil seines umfassenderen Konzepts des ›Correalismus‹, einer Theorie, mit der Kiesler die Wechselwirkungen zwischen Raum, Zeit und Menschen in der Architektur und im Design erforschte.
Den fiktiven Dialog gliedern fünf offene Themenbereiche, die als ›Berührungspunkte‹ zwischen den beiden Gestalterwelten fungieren. So entstehen unter den Oberbegriffen archiplastisch, spirituell, sensorisch, performativ und funktional eigene kleine assoziative Galaxien, an denen die Besucher:innen Halt machen können, ohne dabei einer vorgegebenen Flugroute folgen zu müssen. Die Ausstellung bietet Raum für Erkundungen, bei denen die Werke aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer neue Konstellationen entstehen lassen. Die Besucher:innen sind aufgefordert, ihren eigenen Kurs durch das gestalterische Universum von Kiesler und Pichler zu finden.
Dem Konzept der räumlichen Offenheit folgend bleibt die Ausstellung auch in den Stadtraum eingebunden. Durch die extra abgedunkelten Scheiben des mit seinen vielen verglasten Außenwänden für Kunstausstellungen herausfordernden Hauptraums, teils verdeckt durch silbrig schimmernde Vorhänge aus Raumfahrtstoff, wandert der Blick von den unter der Hitze ächzenden Bäumen des benachbarten Schweizergartens hin zu Pichlers architektonischen Plastiken unterirdischer oder von Glaskuppeln überwölbter Städte, die Assoziationen von Zufluchtsorten in einer durch atomare Katastrophen oder Klimawandel unbewohnbar gewordenen Welt hervorrufen. So wird aus einem bildhauerischen Objekt im Nu ein Haus oder eine ganze Stadt und umgekehrt. Sowohl Kiesler als auch Pichler wussten um die kraftvolle Wirkung des Maßstabssprungs.
Im weiten Ambiente des Belvedere 21 verschmelzen die Werke der beiden Künstler derart miteinander, dass es für Laien auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist, welches Werk von wem stammt. Die formalen und inhaltlichen Analogien sind offensichtlich: Beide Künstler grenzten sich vom Funktionalismus ab und entwickelten utopische Konzepte, die heute aktueller denn je und zugleich doch anachronistisch erscheinen. Überhaupt wirkt das Museum am Tag des Ausstellungsbesuchs wie eine gestrandete Raumkapsel in einer unwirtlichen Welt. Während draußen die Hitze lastet, treibt drinnen im ferngekühlten Ambiente die Erinnerung an die visionären Ideen des vergangenen Jahrhunderts wie Weltraumschrott an den Besucher:innen vorüber. Die Offenheit und Zurückhaltung in der Ausstellungskonzeption verweigert eine klare Einordnung und den einfachen Zugang, gewährt aber Raum für eigene Interpretationen und lädt zu einer spannenden Reise ein, die umso reicher wird, je mehr Zeit man mitbringt.
Visionäre Räume – Walter Pichler trifft
Friedrich Kiesler in einem Display von Sonia Leimer
Ausstellung im Belvedere 21
Kuratiert von Verena Gamper,
Assistenzkuratorin Anna Ewa Dyrko
28. Juni bis 6. Oktober 2024
Kunstmuseen Krefeld
22. November 2024 bis 31. März 2025
Katalog erschienen bei Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 256 Seiten, 30,70 Euro
Johannes Bretschneider forscht und lehrt am Forschungsbereich Städtebau der TU Wien.