Pfade, die sich verzweigen
Besprechung von »Janet Cardiff. The Walk Book« von Mirjam SchaubDieses Buch ist eine Einladung! Es soll funktionieren wie ein Garten, der einlädt, ihn zu begehen auf Pfaden, die sich verzweigen. So zumindest formulieren es in Anlehnung an Jorge Luis Borges die HerausgeberInnen von der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, die das Buch anlässlich der Wiener Ausstellung janet cardiff. walking thru‘ editiert haben. Es ist aber viel mehr als ein Ausstellungskatalog. Die Arbeiten der kanadischen Künstlerin Janet Cardiff, die seit Beginn der neunziger Jahre gemeinsam mit ihrem Partner George Bures Miller Soundinstallationen und Audiowalks produziert, werden nicht nur dokumentiert, sondern ihnen wird ein adäquates Medium gegenübergestellt, in dem sich die Eigenart der künstlerischen Arbeiten widerspiegelt.
International bekannt wurden Cardiff und Miller mit dem Münster Walk, den sie 1997 im Rahmen der Ausstellung skulptur.projekte Münster umgesetzt haben. Mit Kopfhörer und Player ausgestattet, wird der Besucher 17 Minuten lang durch die Münsteraner Innenstadt geleitet. Anstelle einer konventionellen Stadtführung eröffnen sich unerwartete Einsichten in Geschichte und Gegenwart des Ortes. In Wechsel und Überlagerung unterschiedlicher Stimmen, Erzählstränge und Geräusche bringt Cardiff die vielfältigen historischen Schichten der Stadt zu Gehör, über den Zweiten Weltkrieg bis ins 19. Jahrhundert zurückreichend. Intention der Audiowalks ist nicht die chronologische Dokumentation eines Ortes und seiner Geschichte, sondern die Bewusstwerdung und experimentelle Erweiterung subjektiver Kartografien, die wesentlich durch individuelle und kollektive Erinnerungen geprägt werden. Memory ist denn auch der Titel eines von acht Kapiteln, die der eigentlichen Dokumentation der Arbeiten vorangestellt sind. Die Autorin Mirjam Schaub, Filmtheoretikerin und Kunstphilosophin, verknüpft hier auf assoziative Weise die Projekte und Vorgehensweisen von Cardiff und Miller mit theoretischen Konzeptionen des Gehens, der Wahrnehmung und der Erinnerung. De Certeaus Abhandlungen über die urbane Praktik und Rhetorik des Gehens sowie über die Bedeutung der Erinnerung für die subjektive Raumaneignung in der Stadt nehmen hier ein zentrale Stellung ein. Das gilt ebenso für Borges‘ berühmte Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, die im Kapitel Walking in Gänze abgedruckt ist. Wie bei de Certeau wird dort Newtons absolutes Raum-Zeit-Konzept infrage gestellt. Mit Borges‘ Formulierung „unendlicher Zeitreihen, [...] ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten“ lassen sich Cardiffs Audiowalks charakterisieren.
Dem Buch ist eine Audio-CD beigelegt, die den/die HörerIn bzw. LeserIn auf einen Spaziergang durch das Buch begleitet. So wird man mit Cardiffs sowohl angenehmer als auch eindringlicher Stimme vertraut, die ein Wohlgefühl erzeugen möchte und zugleich Überraschungen und Irritationen einführt. Ein Prinzip, das Cardiff auch auf ihren Audiowalks anwendet, die auf der CD in Ausschnitten gehört werden können. Deutlich wird die Perfektion, mit der Cardiff und Miller gezielt Stimme, Klang und Lautstärke einsetzen, um den/die HörerIn fast unmerklich zu einer veränderten Wahrnehmung des Raumes und schließlich seiner/ihrer selbst zu verführen.
Für LeserInnen, die an performativen Praktiken der Raumwahrnehmung und –gestaltung interessiert sind, für SpaziergangsforscherInnen und FlaneurInnen eröffnet The Walk Book neue und tiefgreifende Dimensionen im Umgang mit Audio(z. T. auch -visuellen) Medien in Stadt und Landschaft. Die Arbeiten von Cardiff und Miller konfrontieren uns am eigenen Leib mit der starken Macht von Soundscapes, den/die HörerIn einzunehmen und zu verführen.
Das außergewöhnliche Layout von Thees Dorn und Philipp von Rohden (Zitromat) vermittelt dem/der LeserIn eine Art Gebrauchsanweisung zur dynamischen und assoziativen Erkundung des Buches. Manuskriptfragmente der Audiowalks sind typografisch verwoben mit Reflexionen der Autorin, Gastkommentaren, Anmerkungen, Planskizzen und Computerausdrucken von Soundtracks. Zu Recht wurde The Walk Book von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher 2006 in der Kategorie Kunstbücher prämiert.
Stefanie Krebs