Susanne Karr


Erstmals in der Geschichte lebt die Mehrheit der Menschen in Städten, und 2050 werden es nach heutigen Berechnungen 75 Prozent sein. Die Stadt ist das Territorium des 21. Jahrhunderts. Ein Spezialfall unter den vielen städtischen Gebilden ist die Kulturstadt. Wenn sich eine Stadt mit diesem besonderen Merkmal schmückt – meist ist dieser Hinweis eine Eigenzuschreibung –, wirft das die Frage nach dem Wesen eine­r solchen Kulturstadt auf. Was macht sie aus? Was macht sie anders?

Im Sammelband Phantom Kulturstadt widmen sich 29 AutorInnen dem Thema. Fragen der Ökonomie, der Raumordnung, der Kunst und der Gesellschaft werden unter verschiedenen Perspektiven verhandelt. Die Analysen fallen sehr unterschiedlich aus, gemeinsam ist ihnen jedoch der Anspruch, sowohl positive als auch negative Aspekte aufzuzeigen. Der urbane Raum wird als Konfliktzone begriffen, in der sich globale und gesellschaftliche Tendenzen zeigen und unterschiedliche Interessen miteinander kämpfen.

Die Steigerung der Kulturstadt ist die Kultur­hauptstadt, deren Initiierung vorrangig wirtschaftspolitische Überlegungen zugrunde liegen. Damit einher geht der Trend, Städte als Marken zu etablieren (Anm.: siehe dazu den Schwerpunkt Visuelle Identität in dérive 23). Wie kann eine Stadt zur Marke werden? Wieso soll man das überhaupt wollen? Eine Marke, eine „Brand“, soll in einer Gesellschaft, die sich auf globale Marken verlassen will, als Versicherung funktionieren, das richtige Attribut zur eigenen konsumkulturellen Identität zu wählen. Die Marke funktioniert wie ein Stammes­fetisch, wie eine Ikone. Sie schafft Kohärenz, obwohl sie gleichzeitig Differenzierungen ermöglicht. Wenn sich eine Stadt als Marke etablieren will, hinterlässt das oft einen seltsamen Eindruck, weil man spürt, dass Stadt und Marke zusammengezwungen wurden. Es kann aber auch eine Art Motto werden, wenn die AkteurInnen der diversen Kulturszenen zusammen arbeiten. So wurde etwa das „Kunstwunder“ Wien vor etwa 20 Jahren von der Zeitschrift art ausgerufen. Inzwischen hat Wien als Kunst-Stadt längst aus einem international relativ abgeschotteten Inseldasein herausgefunden – ob es als „Wunder“ gelten soll, sei dahingestellt, erst recht, ob es sich zu den global players des Kunstbetriebes rechnen kann. Es zeigt sich jedoch, dass durch den Anspruch, Kulturstadt zu sein, unterschiedliche Dynamiken erzeugt werden. Einerseits natürlich die Debatte um die Definitionsmacht. Kultur dient als Hoheitszeichen. Welche kulturellen Aktivitäten sollen gefördert werden? Was soll sichtbar, hörbar gemacht werden, was wird beworben, was totgeschwiegen? Kulturproduktion gilt als Distinktionszeichen. Der besondere Mehrwert, der durch die Anwesenheit von Kultur erzielt werden kann, hat KulturpolitikerInnen bereits vor einiger Zeit veranlasst, ihre Entstehung voranzutreiben. Produktion heißt das, und die Branchen, die sich der Produktion widmen, sind bekanntermaßen die Creative Industries, ihre AkteurInnen, die Creative class, innovative Menschen, die sich optimal vernetzten und gegenseitig anspornen. Soweit der Plan.

Kultur gilt als etwas, das zum positiven Image einer Stadt beiträgt, dem Standort quasi zur höheren Ehre gereicht. Diese Erhöhung findet nicht nur auf dem Imagesektor statt, sondern hat im Fall der Gentrification auch räumliche Auswirkungen. Das Paradebeispiel: Wo „die Kreativen“ sich ansiedeln und mit Werkstätten, Ateliers, Cafés, kleinen Läden und Galerien ein Stadtviertel aufwerten, da wollen bald auch andere, in der Regel finanzstärkere StadtbewohnerInnen hinziehen, was in den meisten Fällen zu Mietsteigerungen und Verdrängung führt. Andererseits hat es einige Projekte gegeben, die durch Förderungen, etwa von Ateliermieten, oder die zeitweise Bereitstellung von Räumen, KünstlerInnen die nötige Plattform boten und Etablierung ermöglichten. Im Rennen um das Label Kulturstadt gibt es starke internationale Konkurrenz, die hippere Kulturstadt entzieht dann womöglich den konkurrierenden Städten ihre Kräfte. Dabei ist nicht immer eindeutig, wer tatsächlich Trendsetter ist. Lohnend ist allemal die Frage, wieso überhaupt Kultur dieses non plus ultra sein soll. Sie führt ins Zentrum der Gesellschaft, zu Werten, Ängsten, Wünschen. Das Verlangen allein, die Nachfrage quasi, ist aber kein ausreichender Garant für das Entstehen von Kultur. Die Produktionsbedingungen sind differenzierter zu sehen. Subventionen allein genügen nicht, ebensowenig verhindern fehlende Subventionen die Kunstproduktion. Die Idee der Kulturfabrik dient als ein Gegenentwurf zur Idee der Creative City. Sie versteht Kulturproduktion als wesentlich komplexer: nämlich maschinischer, sozialer, gegensätzlicher, als die modischen Kreativitätskonzepte einen glauben machen wollen. In ihr zeigen sich die starken Verflechtungen der einzelnen Sphären, die materiellen Folgen wie die immateriellen Arbeitsleistungen. Es ist notwendig, die gegenseitigen Abhängigkeiten anzuerkennen, das Freund-Feind-Spiel in Schwarzweiß – hier der arme Künstler, da der böse Kapitalist – zu überdenken und sich den realen Herausforderungen, die über Behübschung, Bereicherung und Imagepolitur weit hinausgehen, zu stellen.


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