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Besprechung von »Rome Las Vegas – Bread and Circuses« von Iwan BaanDas Architektenpaar Denise Scott Brown und Robert Venturi erkundete 1968 gemeinsam mit ihrem Kollegen Steven Izenour den Vegas-Strip. Sie wollten ihn mithilfe neuer visueller Erkundungsformen, welche sie insbesondere der künstlerischen Fotografie von Ed Ruscha oder Stephen Shore entlehnten, als extremes Beispiel für eine zersiedelte, urbane Landschaft untersuchen. Fünftausend Farbdias, dreitausend Filmmeter sowie eine Fülle von prä-digital gefertigten Dokumenten, Karten und Tabellen nutzten sie, um in einer konzeptuell orientierten Analyse von strip und sprawl die Gegend städtebaulich zu analysieren. 1972 entstand daraus die Publikation Learning from Las Vegas, die bis heute zurecht als ein Standardwerk der spätmodernen Architekturtheorie gilt. Die autoorientierte Metropole Las Vegas vermessen die drei Autor:innen vor dem Kontrast der antik und klerikal geprägten Innenstadt von Rom. Venturi war 1954 einen zweijährigen Aufenthalt an der dortigen American Academy angetreten. Bis zu seinem Tod 2018 feierte er dort jedes Jahr seinen ersten Tag in Rom – nicht zuletzt waren seine Vorfahren einst aus Abruzzo und Puglia nach Philadelphia ausgewandert. Seine im Süden Afrikas aufgewachsene Partnerin Denise Scott-Brown wiederum interessierte sich in Italien insbesondere für lokale und selbstproduzierte Architekturen. Bei längeren Aufenthalten untersuchte sie die Verkehrsnetze zwischen Venedig und Mestre und vertiefte als Mitarbeiterin am Masterplan für Rom ihre Kenntnisse.
Ein Spalier von Legionären wacht vor einem Casino und ziert das mit dem Schriftzug »Die große proletarische Kulturlokomotive« umrandete Poster für die Präsentation von Studentenarbeiten, die im Rahmen des Learning from Las Vegas Research Studio an der Yale School of Architecture 1969 entstanden sind. »Wir haben Rom als Metapher benutzt«, kommentiert die Architektin, Planerin und Fotografin in einem späteren Interview die Las-Vegas-Studie. So gesehen romantisierten Venturi und Scott Brown die antike und heilige Stadt der Vergangenheit. Zurecht mahnt deshalb Ryan Scavnicky: »Die letzte unserer idealen Bildwahrheiten, die sich entfaltet, ist die Vorstellung, dass Rom alt und Las Vegas neu ist. Rom ist eine moderne Stadt mit 2,8 Millionen Einwohnern, mit Architektur, Autobahnen, Zügen und allen anderen Formen der Neuheit.«
Dieses Zitat findet sich in Iwan Baans neuestem Bild-Buch Rome Las Vegas – Bread and Circuses. Es ist Hommage des vielbeschäftigten niederländischen Stadt- und Architekturfotografen auf Venturi und Scott Brown und erschien gut 50 Jahre nach der opulenten Erstveröffentlichung von Learning from Las Vegas. Damit begibt er, der sonst für die großen Architekturbüros die Welt bereist, um ihre Gebäude zu fotografieren, sich in die nicht gerade kleinen Fußspuren der Pionier:innen visuell gestützter Stadterkundungen. In der späten Nachfolge Venturis stellt er als Photographer-in-Residence in der American Academy in Rom 2022 die Beziehung zwischen den beiden Städten noch einmal heraus.
»Baans allwissende Kamera« (Lindsay Harris) beobachtet herab vom Hubschrauber Las Vegas und Rom, um sich dann in Ausschnitten und Zooms mit einer überwältigenden Menge von Bildgruppierungen vom Boden aus den Städten zu nähern. »Der Las Vegas Strip ist keine chaotische Zersiedelung, sondern eine Reihe von Aktivitäten, deren Muster wie in anderen Städten von der Technologie der Bewegung und dem wirtschaftlichen Wert des Landes abhängt […]. Wir bezeichnen es als Zersiedelung, weil es ein neues Muster ist, das wir noch nicht verstanden haben«, hieß es vor über 50 Jahren. Bei Iwan Baan steht eher das Staunen, die Klage und die Überwältigung im Vordergrund: »In diesem Buch wird die Stadt des globalen Tourismus als ein Horror […] dargestellt. Wer die Fotografien betrachtet, sieht die Stadt als eine von Menschenhand geschaffene Maschine, die sich unserem Verständnis entzieht«, so Ryan Scavnicky. Immer wieder taucht auf Baans Bildern The Sphere auf, der mit 54.000 Quadratmetern größte LED-Bildschirm der Welt auf einer Kugel vor einer Konzerthalle in Las Vegas, als Verschmelzung von Display und Gehäuse.
Das bei Lars Müller Publishers erschienene Buch – de facto ein Stapel zusammengetackerter Farbdrucke, die mühsam umgefalzt wurden – beschießt die Augen. Die ersten und letzten Doppelseiten zeigen als Rahmung ein Gegenüber beider Städte, wo schwer zu erkennen ist, wo das gerade sein könnte: »Sowohl Vegas als auch Rom drehen ihr Image ständig um, und wie ein Meisterdieb kommen beide damit durch«, bemerkt hierzu Ryan Scavnicky. Illusionistischer Fake und trumpesker Pomp schwappen über den Atlantik, wenn Baan zu Sitzbänken umgeschliffene Säulen mit Steckdosen einer Mall oder das over-touristifizierte Rom als Open-Air-Themepark ablichtet. In Vegas sieht man einige Obdachlose auf der Straße oder Fun-Dienstleister:innen in den Rauchpausenecken, doch Bewohner:innen scheinen beide Städte nicht mehr zu haben.
Robert Venturi veröffentlichte 1966 auf der Basis seiner Rom-Besuche die wichtige Studie Complexity and Contradiction in Architecture: »Ich spreche von einer komplexen und widersprüchlichen Architektur, die auf dem Reichtum und der Zweideutigkeit der modernen Erfahrung basiert, einschließlich der Erfahrung, die der Kunst innewohnt. (…) Ich mag Elemente, die eher hybrid als rein sind, die eher Kompromisse eingehen als sauber sind (…) die eher entgegenkommen als ausgrenzen. (…) Ich ziehe das Sowohl-als-auch dem Entweder-oder vor. (…) Eine Architektur der Komplexität und des Widerspruchs muss eher die schwierige Einheit der Einbeziehung als die einfache Einheit der Ausgrenzung verkörpern.« Das klingt wie ein Programm, geschaffen für die Jetzt-Zeit.
50 Jahre später wird Rome Las Vegas zwar von drei Texten begleitet, ist jedoch vor allem ein reichhaltiges Bilderdepot, wobei Las Vegas mehr Aufmerksamkeit erhält. Wir schauen dabei zu, wie die beiden prototypischen Städte Mitte der 2020er Jahre ausgesehen haben werden. Die Schlüsse aus den »Mustern, die wir noch nicht verstanden haben«, werden dann andere ziehen müssen.
Iwan Baan
Rome Las Vegas – Bread and Circuses
mit Texten von Lindsay Harris, Izzy Kornblatt und
Ryan Scavnicky
Zürich: Lars Müller Publishers, 2024
320 Seiten, 45 Euro
Jochen Becker ist Autor, Kurator und Dozent in Berlin. Er ist Mitbegründer von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten.