» Texte / Plädoyer gegen die Unwirtlichkeit der Städte

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Der Place d’Austerlitz in Straßburg gilt allgemein als gelungenes Beispiel der Stadterneuerung: An dem einst grauen, von Verkehr und ankommenden Touristenmassen geprägten Ort ist ein begrünter, autofreier öffentlicher Raum entstanden, der Platz zum Verweilen und für Spiel bietet. Gesäumt von Cafés und hippen Bars hat er sich zum Anziehungspunkt für eine junge, urbane Klientel entwickelt, die hier gerne eine gute Zeit verbringt.
        So auch Mickaël Labbé, Direktor der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg und Inhaber des Lehrstuhls für Ästhetik und Philosophie der Kunst. Zumindest bis er beginnt »auf dem Platz bestimmte Instrumente der Ausgrenzung und Verachtung wahrzunehmen, (…) einzelne Sessel oder aber Bänke, die durch Armlehnen so unterteilt sind, dass man nicht auf ihnen schlafen kann. Kurz: obdachlosenfeindliches Mobiliar«. Bald nimmt er auch in anderen Teilen der Stadt immer mehr defensive architecture wahr, die auf die Verdrängung der schwächsten sozialen Gruppen abzielt, bemerkt, wie überall in der Stadt neue Viertel aufblühen, die »mit ihren Techno-Clubs und Start-Up-Inkubatoren, ihren Orten für Kunst und Kunsthandwerk, kleinen Craft-Beer-Brauereien und Biomärkten auf junge Akademiker wie mich zugeschnitten sind« und mit Strategien der Privatisierung, Ökonomisierung, Ausgrenzung und Kontrolle einhergehen. Mit seinem Lebensentwurf, so Labbé im Vorwort zu Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung, ist er »Handelnder wie Leidtragender« der Gentrifizierung gleicher­maßen – eine Erkenntnis, die ihn zur Lefebvre’schen Frage führt, die das Buch als roter Faden durchzieht: Wer hat ein Recht auf Stadt?
        Ganz der Sozialphilosophie und der kritischen Gesellschaftstheorie verpflichtet, reflektiert Labbé in drei, als »Streifzüge« bezeichneten Kapiteln die heutige Verfasstheit der Stadt im Taumel der alles durchdringenden Inwertsetzung des urbanen Raumes, die Verbundenheit und Aneignung zunehmend verunmöglicht: »Was wir sind oder sein wollen, können wir gar nicht bestimmen, wenn wir auf unser Wo keinerlei Einfluss mehr haben. Wie wir soziale und politische Gemeinschaften bilden, hängt von den Orten ab, an denen sie entstehen. (…) Die Krise der Demokratie lässt sich auch als Krise der demokratischen Orte lesen.«
        Doch was tun? Versuche eines Auswegs aus der heutigen Stadtentwicklung, »die eine grundlegend von Ungleichheit und Gewalt bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung ausdrückt, fördert und stützt«, ortet Labbé in drei Modellen aktueller sozialer Bewegungen: der Platzbesetzung, dem Protestcamp (ZAD, Zone à défendre) und der Neuerfindung des Rechts auf Stadt. Bei aller Hochachtung für die Proteste und Protestierenden der jüngsten Vergangenheit erkennt er nur in Letzterer das Potential, eine breit angelegte und nachhaltige Veränderung einzuläuten, indem das Recht auf Stadt »als Bedürfnis nach Aneignung des städtischen Territoriums, auf dem sich das profane Leben abspielt« neu gefasst wird.
        Zuerst aber geht es an die Anamnese der Stadt als »sinnliches Ökosystem der Anerkennung und Verachtung« mittels dreier hervorstechender Phänomene, die Labbé in Anlehnung an den Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth als »urbane Pathologien des Sozialen« bezeichnet: Ausgrenzung und Verdrängung unerwünschter sozialer Gruppen mittels »feindseliger« Architektur und Städtebau, Enteignung durch Overtourism und City Branding, sowie Privatisierung des öffentlichen Raums durch Business Improvement Districts. Obwohl diese Problemlagen von Stadtforscher:innen seit Jahrzehnten debattiert und angeprangert werden, rüttelt die spürbare Empörung des Autors auf, die ihn geradewegs zum nächsten Streifzug führt. Unter dem Titel Der Einsatz der Bewohner mit einer Interpretation von Henri Lefebvres Recht auf Stadt unter Einbeziehung des historischen Kontexts von paternalistischer Nachkriegsgesellschaft und funktionalistischer Moderne, folgt der Versuch einer Neubestimmung des Utopischen »als ein offenes, praktisch unabschließbares Experimentieren mit verschiedensten räumlichen Formen, die es uns erlauben, ein Maximum an menschlichen Möglichkeiten auszuloten«.
Von hier aus ist es nicht weit zur Foucault’schen Heterotopie, deren begriffliche Allgegenwart und Unschärfe Labbé kritisiert: »Aufgrund der Desillusionierung über das utopische Versprechen können Lösungen heute grundsätzlich nur lokaler und begrenzter Art, prekär und temporär sein (…) – die Vorstellungswelt alternativer Politik ist heute ihrem Wesen nach unbestreitbar heterotopisch.« Statt der Errichtung temporärer autonomer Zonen schlägt der Autor alternativ vor, dort »Löcher zu graben« (Ranciere), wo wir bereits sind, an »jenen banalen, gewöhnlichen, nicht immer perfekten und nicht besonders aufregenden Alltagsorten«. Die Besinnung auf »unsere Viertel« als »Orte der Wiederaneignung« ruft Jane Jacobs und das soziale Gewebe der Straße als öffentlicher (Möglichkeits-)Raum auf den Plan. »Occupy your Streets!« lautet folgerichtig Labbés Schlachtruf zur Aneignung der Viertel durch das Wagnis »eine nicht identitär aufgeladene Territorialität zu denken und zu leben«.
        Für diese Aneignung braucht es aber auch Bewusstsein in der Gestaltung, Räume, die mit ihrer Offenheit eine Einladung an Nutzer:innen aussprechen, sie zu einem Teil ihrer selbst werden zu lassen. Streifzug drei thematisiert daher die Rolle der Architektur für die Aneignungsfähigkeit des urbanen Raumes: Lina Bo Bardis SESC Pompéia in São Paulo (1977–1986) dient dem Autor als prototypisches Beispiel für eine »Architektur der Anerkennung«, während er im heutigen Architekturschaffen überwiegend eine »Desertion der Architekt:innen vom Feld des Sozialen« erkennt »zugunsten einer Konzentration auf technische und ästhetische Fragen«. Gegen die Idee von Stararchitektur und Landmark Buildings plädiert Labbé für eine Architektur als »Ästhetik des Gewöhnlichen«, ganz nach Auguste Perret: »Architektur ist die Kunst, einen Stützpfeiler zum Singen zu bringen.«
        Im französischen Original bereits 2019 erschienen und nun von Felix Kurz für die Reihe Nautilus Flugschrift erstmals ins Deutsche übertragen, versammelt Mickaël Labbé in seinem Plädoyer für eine Wiederaneignung der Stadt durch jene Menschen, die sie tagtäglich zu ihrem Werk machen, zahlreiche Diskurse der kritischen Stadtforschung und ihrer Aktivist:innen der letzten Jahrzehnte. Für engagierte Stadtforscher:innen entsteht dabei nicht viel Neues, aber seine Analyse der Produktion von Raum durch die sozialphilosophische Brille von Anerkennung und Verachtung rüttelt auf. Denn der absoluten Notwendigkeit des permanenten Platznehmens genau dort, wo sich der jeweilige Alltag abspielt, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Neben dem Was und dem Wo wäre eine stärkere Konkretisierung des Wie aber durchaus wünschenswert gewesen.


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