Pop Goes The World
Besprechung von »Könnte Köln sein« von Andreas NeumeisterAndreas Neumeister erzählt in seinem jüngsten Werk Könnte Köln sein abseits aller erzählerischer Geschlossenheit vom Leben in den (neuen) Städten. Der deutsche Autor beweist sich in diesem Textstrom, einem Werk von ungemeiner Konstanz und Dichte, erneut als Monteur: Lose Notizen, Assoziationen und Analysen fließen im vorliegenden Band ineinander, lassen Neumeisters Topographie des Urbanen als baustellenhaftes Journal des Beobachtens und Reisens begreifbar werden. Mit dem sprachlichen Nachvollzug der Städte, ihrer Umschrift ins Druckwerk, geht das Abklopfen des Materials auf Mentalität und Authentizität hin einher. Als Tourist mit geschärftem Sinn für das Tatsächliche und das Mögliche, das unfassbar Wirkliche und das, im Sinne von uneingelöster Potenzialität, Virtuelle, begibt sich der Literat auf die Spur der Städte und ihrer Planbarkeit. In der Auseinandersetzung mit Oberfläche und geschichtlicher Tiefenstruktur, mit Pop und allgemeiner Historie, gelingt es Neumeister, der von seinem „Basislager“ München aus aufbricht, ein facettenreiches Kaleidoskop über die Verfassung der Städte rund um den Globus und ihrer Bewohner zu bieten. In der Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis der Moderne und den Herausforderungen der Spät- bzw. Postmoderne – den Verheißungen des Zukünftigen – verbindet er durchaus solide Architekturkritik schlüssig und stimmig mit einer genauen Beobachtung des Sozialen und des gesellschaftlich Vorvereinbarten. Sein Programm zur literarischen Begehung der weltweiten Stadträume entfaltet er zwischen den Polen der Bezugsgrößen des vorliegenden Buches: Gewidmet ist das Buch dem Künstler Gordon Matta-Clark (1943-1978) mit einem schlichten, dem Text vorangehenden für/for Gordon Matta-Clark. Gleich auf der gegenüberliegenden, ebenfalls noch unpaginierten Seite prangt das für Neumeisters Arbeiten so typische, Bilder evozierende Einleitungszitat, sein Aufrufen eines bestimmten Bildes aus dem Lesergedächtnis. In diesem Fall liest es sich folgendermaßen: „Titelkupfer: Gigant, sich über einer idealisierten Stadtlandschaft erhebend, in der Rechten das Schwert, in der Linken den Bischofsstab“. Unschwer ist darin das Titelbild des Leviathan (1651) zu erkennen: Der Frontispiz des Hauptwerkes des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) fasst bildlich zusammen, was dieser nüchterne Denker einer sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft in der Folge dann schriftlich darin ausführt.
Wollte man zuerst auf Matta-Clark (und seinen Stellenwert als Referenz für Neumeister) eingehen, so sieht man sich mit einem US-amerikanischen Künstler konfrontiert, der Häuser durchtrennt hatte und in seinen Texten zur Hinterfragung der vorgefertigten und präfigurierten Rollen und Relationen von Räumen aufrief. In seiner vom Gedanken der Entropie beeinflussten Anarchitektur sah er gleichermaßen die Negation als auch die bestimmte Interpretation von Architektur zusammengefasst, auf die Neumeister auf literarisch-textlicher Ebene in mehreren Punkten produktiv reflektiert: Das Konzept des gewaltvollen splitting und der durch Gebäude gehenden cuts, das ausgehend von einer neu geschaffenen „Zwischenzone von Architektur und Plastik“ (J.F. Hartle) aus Gewalt kritisieren soll und auf die klassische Grenze von Innen/Außen fokussiert ist, wird bei Neumeister zur Zwischenzone aus Literatur und Architekturkritik, zur kritischen Auseinandersetzung mit Heim und Heimat. Matta-Clark plante, auch das ist zu bedenken, immer die Zerteilung bewohnter Häuser – ein Plan, den er nie umsetzen konnte und den Neumeister nun mit ganzen Städten durchführt, wenn er dessen künstlerisches Programm der Splitter bzw. Zersplitterung aufnimmt und erweitert. Die eigenwillige Produktionsökonomie der Dematerialisierung des Visionärs ist im vorliegenden Buch zweifach vorhanden: Einerseits findet sich ein Fortschreiben einer von Georges Bataille inspirierten „sacrifical economy“ (P.M. Lee), die sowohl die soziale Dimension des Opfers als auch das notwenige, ritualisierte Ausmaß der Zerstörung meint. Die Abwendung von klassisch-ökonomischen Prinzipien, die auf Weiterentwicklung und Wachstum ausgerichtet sind, werden bei Neumeister als eine Abkehr von der klassischen Textökonomie lesbar. Andererseits, und dies schließt unmittelbar an den ersten Punkt an, wird die Leere als Material, als wesentlicher ästhetischer Baustein eines Ausdrucks der Abstände greifbar. War bei Matta-Clark die Durchquerung und der Bruch der Ansatz zur Neustrukturierung, so findet sich bei Neumeister der bewusste Einsatz von Unterbrechungen zwischen den Prosapassagen, also ein Schreiben der Abstände. Damit wird, und hier setzt sich die Reihe der Bezüge weiter fort, nicht nur ein impliziter Ausdruck der Zurückweisung eines Modells kohärenter Subjektivität bzw. abgeschlossener Subjekte eingebracht. Vielmehr spiegelt sich im Betonen des Prozessualen und Konzeptuellen auch das Bemühen um die Aktivierung eines avantgardistischen Potenzials bei Matta-Clark, das sowohl Authentizität als auch Autorität stiftet. Bei seinen Schnitten ist weiters zu bedenken, dass damit die skulpturale Bedeutung des architektonischen Raums und „die politischen Grundlagen einer Strukturierung des gelebten Raums“ (J.F. Hartle) eine kritische Bezugnahme zur klassischen Ordnung der Räume eröffnet. Matta-Clarks Spiel mit politischer Geschichte und der Determinierung/Determiniertheit des Raums findet so auch Eingang in Neumeisters vorliegende Arbeit, die auch wieder ein Abarbeiten an der deutschen (Raum)Geschichte des 20. Jahrhunderts ist: „Bei Exkursionen zu Baustellen immer gerne mit dabei. Operation am offenen Herzen einer bewegten Landschaft.“
Hier bietet sich nun ein Übergang zum zweiten Referenzwerk an: Wie also verhält es sich, um den im vorliegenden Werk deutlich spürbaren Charakter des Politischen aufzugreifen, mit Thomas Hobbes? Matta-Clark kann ja mit seinem phänomenologisch inspirierten Abarbeiten am Minimalismus und den daran gekoppelten Formulierungen von Kontingenz, seiner kritischen unausgesetzten Infragestellung des brüchigen Subjekts, quasi als (eine mögliche) Gegenposition zur anti-scholastischen Philosophie verordneter politischer und philosophischer Stabilität bei Hobbes gelten. Hier lohnt sich, um das ambivalente Verhältnis Neumeister/Hobbes besser fassen zu können, ein Blick auf unsichtbare Abbildungen in Neumeisters Büchern. Blättert man in früheren Veröffentlichungen des Münchners findet sich in Äpfel vom Baum im Kies (1988) eine kleine Notiz maschinell nachgestellter Handschrift, in Salz im Blut (1990) keine Texttafel, aber der notathafte Stil einer eigenwilligen Spurensicherung, in Ausdeutschen (1994) ein eigenwilliges Zitat als Frage nach dem probaten Maß des Vergleiches, in Gut laut (1998 bzw. 2001) das thematisch stimmige Motto mit Bezug zu Welt- und Selbstentwurf aus dem Pop heraus: „Tonbandstimme sagt“ heißt es da als Auftakt. Angela Davies löscht ihre Website (2002) beginnt mit der Forderung „zurück zu den Sachthemen“ und mit dem vorliegenden Buch landet man dann konsequenterweise bei Thomas Hobbes, der ebenfalls die Konzepte der Geometrie bzw. des geometrischen Aufbaus benutzte, um seine politische Epistemologie abzusichern oder gar argumentativ aufzuwerten. Bei Hobbes ist dies wohl dem Wunsch – um Robert E. Stillman in seiner Leseweise des Leviathan zu folgen – geschuldet, im modernen Sinne wissenschaftlich zu sein. Der Philosoph wollte also, ebenso wie Matta-Clark mit seiner Anarchitektur, zugleich authentisch sein und Authentizität stiften. Neumeisters Schreiben fügt sich hier perfekt ins Wünschen, etwa aus Metaphern Tatsachen zu machen oder ihnen zumindest auf die Spur zu kommen, ein: „Steinerne Zeugen der Geschichte. Steinerne Zeugen der Zeitgeschichte. Steinerne Zeugen der Geschichte oder steinerne Zeitzeugen der Zeitgeschichte, oder wie soll ich sagen? Schichten. Stadtschichten. Trümmerschichten. Geschichte kommt womöglich von schichten, von aufeinandergeschichteten historischen Schichten.“ Für Hobbes galt dieser Umstand wohl noch stärker, zielte er mit seinen Arbeiten doch auf die Verfertigung historischer und politischer Fakten ab, ist seine Ökonomie der Rhetorik doch den Verhältnissen politisch unruhiger Zeiten geschuldet. Der von ihm vorgestellte Staat sollte als moderne Gesellschaftsform präsentiert werden, die der Überwindung des bedrohlichen Naturzustandes dient. Die vertraglich fixierte, freiwillige und unwiderrufliche Rechteübertragung der Individuen an den Souverän/Staat garantiert ein geregeltes Lebens im Rahmen der gesetzlichen Normen.
Dieser Staat wird bei Hobbes durch den Leviathan symbolisiert, jenes riesige Wesen, das sich aus einer Vielzahl von Untertanen zusammensetzt und die Menge der Individuen in die Umrisse eines souveränen Herrschers bannt: Ganz notwendiger Gegenentwurf zum Naturzustand steht er als Garant und Bewahrer über der modellhaften Stadt. In ihm verkörpert sich eine Philosophie der legitimen und notwendigen Autorität, die dem individuellen, berechnenden Wunsch nach Selbsterhaltung unverzichtbare staatspolitische Grenzen verschafft und das zutiefst egoistische und menschenfeindliche Wesen „Mensch“ in seiner Bedrohlichkeit einschränken soll. Hobbes’ Vorschlag der Hinwendung zum starken Staat fußt also, ganz im Sinne der neuzeitlichen politischen Philosophie, auf der Trias Naturzustand, Vertrag und Gesellschaft bzw. Staat. Der kritisierte Naturzustand wird bei Hobbes als ein alle Menschen umfassender und durchdringender Kriegszustand beschrieben. Mit dem begründeten Transfer von Rechten an einen Souverän oder Staat, die zuvor erwähnte Übertragung individueller Rechte, würde sich die Konfliktsituation „Jeder-gegen-jeden“ also in einen bindenden Vertrag „Jeder-mit-jedem“ wandeln. Dies meint auch die Übertragung von Freiheit – einem der Schlüsselbegriffe in Hobbes’ politischer Philosophie, die sich, wie etwa Quentin Skinner in Freiheit und Pflicht (2008) aufgezeigt hat, in mehreren Schüben entwickelte und den autorisierenden Transfer an den Staat an eine Vielzahl von rechtfertigenden Argumenten koppelt. Freiheit und Sicherheit, so will Hobbes sich verstanden wissen, ist nicht nur kein Widerspruch, sondern nichts weniger als die „Geburt des gewaltmonopolistischen modernen Staates aus der Selbsterhaltungsnot der Menschen“ (W. Kersting). Wie sieht aber nun die Praxis des frühen 21. Jahrhunderts für dieses „zeitlos gültige Staatsmodell“ (W. Röd) aus? Hier setzt nun Andreas Neumeister mit einer anders gelagerten Bezugnahme an, wenn er deutlich macht, wie wesentlich weniger harmonisch oder gerecht die neueste Variante des vernunftbetonten Friedensstaats, seine Medialisierungen und sein ihm innewohnendes „säkulares Moralsystem“ (J. Rawls) aussieht: „Der Staat, in dem wir leben. Das System, an dessen Rand ein paar bizarre Minderheiten leben. Immer wollen wir Monopoly spielen, nie wollten wir Halma spielen. [...] Ist die neue Weltordnung die bessere Hausordnung?“
Angelehnt an die Frage „Wollt ihr die totale Stadt?“ wird Neumeisters Buch als Pflichtenheft lesbar, als eine Auflistung angedeuteter Vorhaben, Themenvorschläge und Hinweise auf das Zukünftige und das Noch-Zu-Verhandelnde zwischen pre strike und post strike. Könnte Köln sein ist somit als eine meisterhafte Chronik der Gegenwart, der laufenden Ereignisse und Zumutungen zu verstehen. Die stromartige Reihung von Beobachtungen, Eindrücken, Erinnerungen, Auflistungen und Momentaufnahmen verschaltet Fakten und Fiktion miteinander. Das Collagieren und Strukturieren des Materials nutzt Neumeister (erneut) als Erzählformalismus, als narrativen Kniff, um der Realität und dem „heutigen Heute“ textlich beizukommen. Die Reihung der unterschiedlichsten Textsorten geht auch auf der klanglichen Ebene gut auf: Die Tanzbarkeit des Textes steht in einem Gleichgewicht zu den verwendeten musikalischen Produktionsweisen wie Loop oder Samplin g. Der bewusste Einsatz des Fragments als Kurzschrift unserer Zeit, das Spiel mit Offenheit und Prägnanz, wird in diesem Fall zur idealen Möglichkeit des Fixierens literarischer Momentaufnahmen. Andreas Neumeister eröffnet unter Bezugnahme auf die Intertexte Matta-Clark und Hobbes Perspektiven auf städtische Topographien und geopolitische Dimensionen, ohne die ihnen innewohnenden Paradoxien zu unterschlagen. Seine Beobachtungen und Ausführungen sind streckenweise fordernd, aber auf jeden Fall erhellend und bereichernd.
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.