»Randale! Bambule! Hamburger Schule!«
Wer sich in den letzten Monaten des vergangenen Jahres vor dem Schlafen gehen noch einmal nach draußen begab, um durch das Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli, das Schanzen- oder das Karolinenviertel zu schlendern, stellte dabei oftmals ganz eigene Erwartungen an das nächtliche Unterhaltungsprogramm, die zumeist nicht enttäuscht werden sollten. Vielleicht hatte man vorher in der WG-Küche noch kurz das Radio angeschaltet, um sich über den aktuellen Ort des Geschehens zu informieren, vielleicht zog man aber auch einfach los mit der Gewissheit, schon irgendwo auf die „Schill muss weg“- und „Bambule“-Sprechchöre zu treffen. Darüber hinaus boten Blaulichter und permanente Sirenengeräusche verlässliche Orientierungshilfen, meistens wiesen einem Wasserwerferstrahlen und manchmal sogar der Flutlichtkegel eines Hubschraubers den direktesten Weg.
Am 4.11.2002 wurde der Bauwagenplatz Bambule im Karolinenviertel früh morgens von einem Großaufgebot der Polizei geräumt. Zwei Stunden später zogen die Bauwagen in Begleitung etlicher Wasserwerfer, Räumpanzer und anderer Polizeifahrzeuge durch die Stadt. Dieser recht skurrile Umzug ließ den Verkehr in Hamburg weitestgehend zusammenbrechen und tausende Autofahrer stundenlang im Stau stehen. Am Abend desselben Tages kam es zu einer ersten Spontandemo mit 700 Menschen, der die Polizei mit Schlagstock- und Wasserwerfereinsätzen gegenübertrat. Es entwickelte sich eine Dynamik, die keiner für möglich gehalten hatte. Anstatt sich wie üblich am offiziellen Abschlussort aufzulösen, zog die Demo, angetrieben von den immer wiederkehrenden „Weiter“-Rufen, stundenlang durch die Straßen. An jeder Kreuzung wurde die weitere Laufrichtung spontan entschieden und die Polizei auf diese Weise vor erhebliche Probleme gestellt. Diese Dynamik sollte auch die Proteste der folgenden Wochen prägen. Über zwanzig Demonstrationen, an denen sich bis zu 5000 Menschen beteiligten, fanden im November und Dezember des letzten Jahres statt. Das Spektrum der Beteiligten ging dabei weit über die autonome Szene hinaus. Zudem beschränkte sich der Widerstand gegen die Räumung des Bauwagenplatzes nicht nur auf Demonstrationen, sondern fand in vielfältigen Praktiken – eingeworfenen Schaufensterscheiben von Banken und Kaufhäusern, einem Laternenumzug, SleepIns in der Innenstadt, Diskussionsveranstaltungen, Dokumentarfilmen und einer Konzertreihe bekannter Hamburger Pop-Bands – seinen Ausdruck.
Eine wichtige Rolle spielte während der gesamten Zeit der linke Radiosender Freies Sender Kombinat (FSK), der nicht nur zu den jeweiligen Veranstaltungen mobilisierte, sondern darüber hinaus in deren Verlauf mit Live-Schaltungen ausführlich über die aktuellen Entwicklungen informierte. Zugleich beteiligte er sich auch mit eigenen Aktionen an den Protesten. Viele hundert Menschen folgten an einem Samstagnachmittag dem Aufruf „Kauft keinen Scheiß! Kauft Radios!“ von FSK zum öffentlichen Radiohören im Vorweihnachtsgeschäft, um auf diese Weise das während der gesamten Proteste verhängte Verbot von Demonstrationen durch die Innenstadt zu unterlaufen. „Die über den Raum verstreuten Hörerinnen und Hörer bilden in ihrer Zerstreuung einen gemeinsamen akustischen Raum. In diesem Raum erklingen Töne und Inhalte, die aus der Innenstadt ausgeschlossen waren. Die Klänge der Bambule-Demos suchen die Einkaufenden heim.“ (FSK)
Der Hamburger Rechtssenat setzte bei der Räumung und im Verlauf der darauf folgenden Proteste zunächst allein auf polizeiliche Repression. In einem Interview mit der Bild-Zeitung äußerte sich der rechtspopulistische Innensenator Ronald Schill: „Nach dem erfolgreichen Einsatz der Polizei werden sie die Lust an der Randale verloren haben. Deeskalation wie in früheren Zeiten macht ihnen nur Lust zu Gewalt.“ Der seit 1987 bei der Polizei angestellte Politologe, der bei Demonstrationen als Deeskalationsbeauftragter wirken sollte, wurde entlassen. Erst als es unter dem Eindruck zunehmender Polizeibrutalität (man hatte mittlerweile mehrere unbeteiligte PassantInnen sowie eine Gruppe eigener Zivilbeamter verprügelt) zu einem Umschwung in der medialen Berichterstattung kam, lenkte der Senat ein und stimmte Verhandlungen mit VertreterInnen des Bauwagenplatzes zu. Bis heute haben diese Verhandlungen zu keinem Ergebnis geführt.
Bezeichnenderweise entsteht jetzt auf dem ehemals von der Bambule besetzten Grundstück eine Kleingartenkolonie. Dieser grelle Kontrast zwischen dem Bauwagenplatz auf der einen und den Schrebergärten auf der anderen Seite ist der Ausgangspunkt unserer Analyse. Ausgehend von diesem Widerspruch werden wir versuchen, auf die Frage, welche Bedingungen jene Dynamik, sowie die Breite dieser Bewegung in den letzten Monaten ermöglichten, eine Antwort zu finden.
Bauwagen vs. Kleingärten
Der Bauwagenplatz Bambule wurde Anfang der 90er-Jahre im Karolinenviertel, das im Zentrum Hamburgs liegt, gegründet. Von der Stadt geduldet, lebten zuletzt 40 Menschen in alten Zirkuswagen, umgebauten Bauwagen und LKWs auf einem besetzten Grundstück und der dort angrenzenden Straße. Im Jahr 1994 scheiterte ein Räumungsversuch, nachdem es schon im Vorfeld – quasi als präventive Maßnahme – zu heftigen Straßenschlachten mit der Polizei gekommen war.
Bambule ist einer von vielen Bauwagenplätzen in ganz Deutschland. Ein Bewohner aus Hamburg beschreibt die Motivation, auf solch eine Weise zu wohnen, wie folgt: „Wir leben auf einem besetzten Stück Land, was für uns auch in der Kontinuität der Häuserbewegung steht.“
Einen weiteren wichtigen Anreiz, um sich für eine solche Wohnform zu entscheiden, stellt zudem der Umstand dar, keine hohen Mieten bezahlen zu müssen. Bauwagenplätze stehen nicht nur auf besetzten, sondern auch auf gepachteten Grundstücken, wobei einige dieser Plätze geduldet, andere jedoch von der Räumung bedroht werden. Die Entscheidung, auf einem Bauwagenplatz zu wohnen, hat zudem nicht nur materielle Gründe. Besonders das Bedürfnis nach kollektiven Wohnformen jenseits der Familie ist eine wesentliche Motivation für diese Lebensweise. Im Aufruf für eine Demonstration in Hamburg im Jahr 1994 heißt es: „Für uns stellt Wagenleben auch noch eine der wenigen Möglichkeiten dar, mit vielen anderen zusammen wohnen zu können und sich nicht mit höchstens 2 oder 3 anderen in eine Wohnung quetschen zu müssen.“ Außerdem ist auch der Wunsch nach Beweglichkeit und Flexibilität nicht zu vernachlässigen: „Das Fahren ist genauso ein Teil des Wagenlebens wie das Durchsetzen von Plätzen in Vierteln, wo wir stehen und leben wollen. Indem wir uns bewegen und die Orte wechseln können, haben wir auch oft mit verschiedenen Gegenden und vor allem Menschen zu tun, die uns von sich erzählen und umgekehrt (...) Das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ist für uns hier Wirklichkeit geworden.“ (Aufruf für die bundesweite Aktionswoche, die 1991 von den Hamburger Bauwagenplätzen organisiert wurde) Autonomie und Eigenverantwortung gehören zu den Bedürfnissen, die von BauwagenbewohnerInnen formuliert werden. Auch Ökologie und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen spielen eine wichtige Rolle, weshalb viele Bauwagenplätze sich als „grüne Nischen in der Stadt“ begreifen.
Die Anfänge der Bauwagenplätze in Deutschland gehen bis in die 70er-Jahre zurück, wobei ihre Geschichte eng mit der Revolte gegen die Disziplinierung verknüpft ist. In Kommunen, Wohngemeinschaften, besetzten Häusern, Bauwagenplätzen und anderen experimentellen Wohnformen finden die neuen Bedürfnisse ihren Ausdruck. Die ersten Bauwagen tauchten im Zusammenhang mit Musikfestivals in Form von Verkaufsständen auf, deren BetreiberInnen in umgebauten Zirkuswagen wohnten. Die erste Generation von WagenbewohnerInnen siedelte sich in den 70er-Jahren im Umfeld von Kommunen und WGs auf dem Land an. Erst Mitte bis Ende der 80er-Jahre tauchten die Bauwagen im Kontext der ausklingenden Hausbesetzerbewegung in den Städten auf. Auch die Lage des Bauwagenplatzes Bambule verweist auf diesen Zusammenhang. Das Karolinenviertel und die angrenzenden Viertel waren eines der Zentren der Hausbesetzerbewegung in den 80er-Jahren, die in den Auseinandersetzungen um die Hafenstraße ihren Höhepunkt fand.
Kleingärten stehen für all das, wogegen sich die Kämpfe nach 1968 gerichtet haben und ihre Geschichte ist eng mit der Geschichte der Disziplinierung verknüpft. Kleingärten waren immer wieder Gegenstand staatlicher und philanthropischer Interventionen. Sie bildeten einen wichtigen Stützpunkt bei dem Versuch, die ArbeiterInnen zu disziplinieren. Im Jahr 1850 verfasste der selbstständige Buchhalter Franz August Adolf Garvens unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution von 1848 eine Denkschrift, in der er die Schaffung von Kleingärten befürwortete, um die „zwischen den verschiedenen Classen eingetretene Spannung und Spaltung schwinden zu machen“. Dem die Sittlichkeit und den Fleiß fördernden Kleingarten stellt er St. Pauli gegenüber: „Ceres, Pomona und Flora haben hier ihren bescheidenen Sitz aufgeschlagen, nicht weit davon treibt Venus vulgivava ihr abscheuliches Unwesen. Ein greller Contrast.“ 57 Jahre später übernahm die Patriotische Gesellschaft die Verwaltung der Grundstücke, auf denen sich Kleingärten befanden. Der Vorsitzende der Patriotischen Gesellschaft, der Arzt Georg Hermann Sieveking, bezeichnete die Kleingärten als „Pflegestätte der Familie“ und stellte sich damit in die Tradition von Garvens. Im Jahr 1923 beschrieb der Leiter der Kleingartendienststelle, Karl Georg Rosenbaum, Kleingärten als ein „notwendiges Gegengewicht gegen die Fabrik und Kontorarbeit“. Der Arbeiter „ist in seiner Freizeit dem Wirtshaus, der Agitation entzogen. Er schafft über die vorgeschriebenen 8 Stunden hinaus nützliche Arbeit. Er hat einen „Besitz“ und hierdurch Achtung vor dem Besitz des Nächsten. Er kommt zurück zur Scholle, und das abhandengekommene Heimatgefühl lebt wieder auf.“
Die Kleingärten fügten sich ein in die „Strategie der Familiarisierung der unteren Schichten“ (Donzelot), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Daneben waren auch Volkserziehung, Sonntagsruhe und die Unterweisung in häuslicher Hygiene von hoher Bedeutung. Im Mittelpunkt dieser Strategie stand die Sozialwohnung. Der Bau von Sozialwohnungen richtete sich gegen die in den unteren Schichten übliche Aufnahme von Untermietern, durch welche die Wohnung zum öffentlichen Raum wurde, und darüber hinaus gegen die „Versuchung des Außen, das Wirtshaus und die Straße“. An die Stelle der verwinkelten und unübersichtlichen Gänge und Häuser trat die Mietskaserne. Jacques Donzelot schreibt über die in Sozialwohnungen lebende Kernfamilie: „Als isolierte Zelle ist sie fortan stärker der Überwachung ihrer Abweichungen ausgesetzt.“ An die Stelle der vielfältigen sozialen Verbindungen, die eine Voraussetzung für Revolten bilden, trat die Kernfamilie. Michel Foucault schreibt in Überwachen und Strafen: „Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend.“ Die von Foucault am Beispiel des Gefängnisses beschriebenen Machttechniken gelten auch für die Sozialwohnung und den Kleingarten. Die Disziplinierung der ArbeiterInnen bildete eine wesentliche Voraussetzung für die industrielle Produktion, die in der Fließbandarbeit ihren Höhepunkt fand. Die Verbindung von Kleingarten und fordistischer Fabrik gipfelte 1954 in der beginnenden standardisierten Massenproduktion von Gartenlauben. Die Typenlaube mit zwei Modellen, dem „Hamburger“ und dem „Nürnberger Typ“ verhalf dem Versuch, das Erscheinungsbild der Kleingärten zu vereinheitlichen, zum endgültigen Durchbruch. Diesem Höhepunkt des Kleingarten folgte jedoch schon bald der rasante Abstieg, denn für die Halbstarken war der Kleingarten in den 50er Jahren der Inbegriff von Spießigkeit. So klagte die Zeitschrift Der Hamburger Kleingärtner 1957: „Die jungen Menschen wandern nicht mehr in ihrer Freizeit in die Natur hinaus wie einst in frohen Zeiten. Ihre Erholung finden sie im Kino, in Spielautomatenhallen und anderen Vergnügungsstätten.“
Revolte gegen Disziplinierung
Mit den Halbstarken kündigte sich die Revolte gegen die Disziplinierung an, die in der Explosion von 1968 ihren Höhepunkt erreichte. Auch die Autonomen sind als Teil dieser Bewegung zu begreifen. Tausende von Alltagspraktiken stellten fortan die traditionellen Formen des Wohnens und Arbeitens in Frage. Auf der einen Seite wurde mit Repression reagiert, auf der anderen Seite verleibte sich das Kapital die in der Revolte entstehenden neuen Formen der Kooperation und der Produktion von Wissen, Affekten und Subjektivität ein. Mit dem von postoperaistischen Theoretikern entwickelten Konzept der immateriellen Arbeit lässt sich die die Art und Weise fassen, wie sich die Kämpfe in die heutigen Arbeitsverhältnisse eingeschrieben haben. Von den Rändern der kapitalistischen Gesellschaft aus geraten die antikapitalistischen Praktiken in das Zentrum des Produktionsprozesses, wobei hierin Dienstleistung und Informationen eine zunehmend zentraler werdende Stellung einnehmen. Die veränderten Arbeitsverhältnisse erfordern dabei neue Techniken der Macht. Nach Brian Holmes hat sich der Idealtypus der flexiblen Persönlichkeit herausgebildet, die in engem Zusammenhang mit den ökonomischen Anforderungen, wie befristeten Arbeitsverhältnissen und Just-in-time-Produktion steht: „Und gleichzeitig bezieht sie sich flexibel auf ein ganzes Set von positiv besetzten Bildern, auf Spontaneität, Kreativität, Kooperation, Mobilität und nicht hierarchische Beziehungen, das Lob der Differenz und die Offenheit für neue Erfahrungen. Man könnte diese Muster als Erfindungen der Gegenkulturen der siebziger Jahre bezeichnen, doch sind sie gefangen im Zerrspiegel einer neuen Hegemonie.“
Das Schanzenviertel
Diese Veränderungen der Arbeitsverhältnisse lassen sich auch im Hamburger Schanzenviertel nachzeichnen. Das Schanzenviertel war während des Fordismus kleinbürgerlich und proletarisch geprägt. Auf die im Zuge der antifordistischen Kämpfe entstehenden alternativen Kleinbetriebe folgten in den 90er Jahren Werbeagenturen und Internetfirmen.
Die neue Machttechniken bleiben jedoch nicht auf den Raum der Unternehmen beschränkt, sondern finden sich auch bei den Wohnverhältnissen in diesen Vierteln wieder. Bedürfnisse, die in den antifordistischen Kämpfen formuliert wurden, haben Eingang in die neuen Strategien der Macht gefunden. Dieser Übergang wird in der Geschichte von Stattbau Hamburg GmbH deutlich. Stattbau Hamburg wurde 1984 von den Autonomen Jugendwerkstätten, dem Mieterverein Mieter helfen Mieter und dem Netzwerk Hamburg, das selbstverwaltete Betriebe fördert, gegründet. In dem 1989 von Stattbau herausgegebenen Buch über Wohnprojekte steht unter der Überschrift „Wir über uns“: „Mit der Einrichtung von Stattbau Hamburg wurde ein Instrument geschaffen, das den Mieterinitiativen und Wohngruppen, die abrissgefährdete Gebäude erhalten wollen, bei der Formulierung und Durchsetzung ihrer Interessen behilflich sein und gleichzeitig die Gewähr dafür bieten sollte, dass öffentliche Mittel für Selbsthilfeprojekte sachgerecht eingesetzt werden.“
Die ersten Wohnprojekte entstanden Anfang der 80er Jahre im Zusammenhang mit Hausbesetzungen, sowie Mieter- und Stadtteilinitiativen, die gegen die Sanierungspolitik kämpften. Seit 1984 gibt es Ansätze zur Förderung von Wohnprojekten durch die Stadt Hamburg. 1987 wurde schließlich Stattbau Hamburg als alternativer Sanierungsträger von der Stadt Hamburg anerkannt. In ihrem Buch über Wohnprojekte wird die Politik des Hamburger Senats wie folgt bewertet: „Das Hamburger Förderungsprogramm für Wohnprojekte ist nicht nur der Einsicht des Senats geschuldet, dass es neue Wohnbedürfnisse gibt, sondern auch dem Eindruck brennender Barrikaden in Kreuzberg und den Hausbesetzungen in Hamburg und anderswo.“ Stattbau Hamburg versteht sich heute als „intermediäre Agentur für soziale Stadtentwicklung“ und betreut eine Vielzahl von Wohnprojekten, von denen viele in St. Pauli, dem Karolinen- und dem Schanzenviertel liegen. Die Reflexion über die eigene Rolle bei der Befriedung sozialer Konflikte ist in der aktuellen Veröffentlichung verschwunden.
Die neuen Machttechniken werden auch bei der 1990 gegründeten Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg mbH (STEG) deutlich, die treuhänderischer Sanierungsträger der Hansestadt ist und unter anderem in den Innenstadtvierteln westlich der Alster mehrere Stadtteilbüros betreibt. Unter der Überschrift „Philosophie“ heißt es: „Bei Projekten achten wir darauf, dass möglichst alle Beteiligten an einen Tisch geholt werden. So werden mögliche Konflikte früh erkannt und alle wichtigen Aspekte in die Planungen mit einbezogen.“ Die STEG ist eine Reaktion auf den in den 80er-Jahren gescheiterten Versuch, Großprojekte gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. So wurde 1988 auf den geplanten Musicalpalast Neue Flora im Schanzenviertel mit der Besetzung des betroffenen Flora-Geländes geantwortet, das bis heute als linkes und nach wie vor besetztes Kulturzentrum Rote Flora existiert. Mit der frühzeitigen Einbindung von Teilen der Bevölkerung durch die STEG sollen heute Konflikte von Beginn an eingedämmt werden. Dabei standen und stehen die neuen Techniken der Macht jedoch nicht im Widerspruch zur Vertreibung von Junkies und Dealern aus dem Schanzenviertel, die deutlich rassistische Züge trägt. Vielmehr lässt sich die Situation als ein nebeneinander verschiedener Machttechniken beschreiben.
Der Bauwagenplatz Bambule stand in einem Stadtteil, indem sich als Reaktion auf die Kämpfe neue Strategien der Macht herausgebildet und zugleich Flexibilität, Selbstverantwortung und Differenz Eingang in den Alltag der Menschen gefunden haben. In diesem Kontext und aufgrund der Duldung durch den rot-grünen Senat konnte der Bauwagenplatz, der in der Tradition der antifordistischen Revolten steht, keine politische Sprengkraft mehr entfalten.
Das Vorgehen des neuen Hamburger Rechts-Senats hat diese Situation grundlegend verändert. Innensenator Schill greift auf die Strategien der Disziplinierung zurück. Die Räumung des Bauwagenplatzes richtete sich nicht nur gegen die Besetzung, sondern gegen diese Wohnform im Allgemeinen. Die Innenbehörde verweigerte sich zunächst Verhandlungen und bot weder Wohnprojekte, noch ähnliche Wohnformen an, die für die BewohnerInnen akzeptabel gewesen wären. An die Stelle von Abweichung, Flexibilität und Autonomie stellt Schill den Kleingarten.
Schills Handeln sowie die Motive seiner WählerInnengruppe werden vor allem durch Normalitätsphantasien bestimmt, in deren Mittelpunkt das Modell des deutschen Familienvaters steht, der sein Leben lang in der gleichen Firma arbeitet. Diesem Modell können und wollen jedoch immer weniger Menschen entsprechen.
Der Hamburger Rechts-Senat greift im aktuellen Konflikt auf Machttechniken zurück, die im Widerspruch zu den Anforderungen der Arbeitsverhältnisse im Karolinen- und Schanzenviertel stehen. 123 Gewerbetreibende aus diesen Vierteln haben sich in einem Aufruf gegen die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule gewendet. „Uns ist Vielfalt wichtig; und das Zusammenleben und -arbeiten mit verschiedensten Minderheiten macht eben diese Vielfalt aus. Mit der durchgesetzten Räumung des Bauwagenplatzes ist eine andere, eine unkonventionelle Form des Wohnens verschwunden, und damit auch ein Stück Vielfalt.“ Hinzu kam im weiteren Verlauf die solidarische Beteiligung zahlreicher Hamburger Clubs als Ausrichtungsorte der Konzertreihe mit dem Titel „Let The Music Play - Regierung stürzen!“. Trotz der vielfältigen Aktivitäten und Solidaritätsbekundungen standen die Proteste auf der Straße im Zentrum der Bewegung. Ihre Dynamik wurde vor allem durch den Widerspruch zwischen den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die den Alltag vieler Menschen in diesen Vierteln bestimmen, und den Strategien der Disziplinierung von Seiten des Hamburger Senats erzeugt. Jedoch haben die Proteste nur dann eine Perspektive, wenn es ihnen gelingt, sich über den Widerstand gegen die Disziplinierung hinaus den neuen Strategien der Macht zuzuwenden, in die Flexibilität, Selbstverantwortung und Differenz schon längst in deformierter Form Eingang gefunden haben.
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Jacques Donzelot, Die Ordnung der Familie. Frankfurt am Main, 1980.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1994.
Brian Holmes, Mit den Fingern über den Tasten. Zur Kritik der flexiblen Persönlichkeit. in: Subtropen, Januar 2003.
Herbert Kropp, Wagenleben - Das Leben wagen. Empirische Studien über das Leben und Wohnen in fahrbaren Behausungen. Oldenburg, 1997.
Hartwig Stein, Wie Hammonia zum Kleingarten kam. Eine kurze Geschichte des Hamburger Kleingartenwesens von der Mitte des 19. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Leipzig, 2000.
Joachim Reinig, Wohnprojekte in Hamburg von 1980 bis 1989. Darmstadt, 1989.
Stattbau (Hg.): Wohnprojekte, Baugemeinschaften, Soziale Stadtentwicklung. Das Stattbau-Buch. Hamburg, 2002.