Frieda Kersting

Josef Küselak


In diesem Sommer blühten nicht nur die Landschaften wieder, auch politische Interventionen mit der Spraydose schossen aus dem unberührten Boden der europäischen Wälder. Kann man bei Graffitis in »freier Natur« von einem reclaim-Aspekt sprechen? Der Neoliberalismus pflügt selbstbewusst wachstumsfördernde Risse in den Kulturacker, wer sagt, dass da nicht mal Landstriche außer Kontrolle geraten...
Ein Reisebericht durch die Wahnwelten des neuen Bürgertums; der Versuch einer Karthographierung des Mythenreichs »New X«[1].
»(...) Mittlerweile leben wir in der von Unkraut gereinigten Gartenanlage namens Europa, in der die Rasenflächen endlos sind, die Blumenpracht maßlos, die Berge mächtig und die Vögel farbenprächtig zwitschern. So stand mir das Graubündner Albulatal gegenüber, genau an der Stelle, an der die durchs Tal ziehende Eisenbahn sich in den Berg hineinbohrt, darin zwei Schleifen übereinander dreht, um weiter oben wieder herauszustoßen. Diese Bahn, die die Einheimischen als ‚Achterbahn' bezeichnen, bescherte nicht nur einer ansässigen Familie als ihrer Erbauerin großen Reichtum und Status, sie machte auch viele andere wohlhabend, die den hereinschwemmenden Touristinnen schon Anfang des 20. Jahrhunderts das Tal zur Prostitution freigaben. Seitdem kann jeder kommen, um den Beweis zu begutachten, dass Schönheit möglich ist und dem nervenzerrenden Lärm, als der jeder Ton, jedes Wort mittlerweile in den staatsbürgerlichen Ohren empfunden werden muss, nur durch schweigsame Andacht beizukommen ist.
Inmitten dieses Gottesdienstes reißt mich ein Knall aus der Fassung: Auf einem Felsen, der sich im Zentrum einer steinigen Wiesenebene 2x3 m aufbaut, steht mit feurig-fluoriszierender Farbe geschrieben: ‚DIE LETZTEN 6 GEFANGENEN AUS DER RAF MÜSSEN RAUS.' Die Wirklichkeit ist zurückgekehrt.(...)«

»Urlaub in Kalmückien.«

»Eine andere Wirklichkeit: Die Bundesstraße 100 durchfließt das Drautal in Ost-Tirol. Zu beiden Seiten ist das Tal zwischen Bergketten eingebettet. Verlässt man nicht unweit vom Kärntner Tor den Straßenverlauf in Höhe des Nikolsdorfer Bahnhofs, überquert die Gleise um den bewaldeten ‚Hochstadl' hochzuwandern, wird man von obskur gesprayten Wegweisern empfangen. Noch ein Kilometer, noch ein halber, noch 200 Meter, dann beginnt die Freiheit, wird angekündigt. ‚Faschismus Ende!' wird versprochen. Der Wanderer lässt ein Truppenübungsgelände rechts liegen und steht unvermittelt vor einem natürlichen Tor. Der Eingang ist eingefasst von zwei ca. zehn Meter hohen Felsen. Durch diese schmale Gasse muss man durch, dann beginnt ‚Kalmückien'. (...)
Am Eingangstor wird man von gesprayten Inschriften willkommen geheißen. Neben Schmähschriften gegen Jörg Haider, der zur Zeit das Nachbarland Kärnten regiert, findet man Dokumente, die Kalmückien als ‚Hyperrepublik' bezeichnen, in der eine hyperreale Politik simuliert werde. Wie diese aussieht, wird verschwiegen. Einzig einige Drohgebärden, die den Feinden Kalmückiens mit Bürgerkrieg drohen, lassen ein politisches Programm erahnen.
Mir widerfährt das Schicksal Robinson Crusoes: Die Äußerung eines Fußabdrucks am Strand seiner menschenleer gewähnten Insel, der Auftritt seines späteren Gefährten Freitag stürzte ihn in die Feuersbrunst ohnmächtiger Fantasien. Tagelang verfolgen den Tagebuchschreiber Ahnungen von Kannibalismus, dem entweder er zum Opfer fällt, oder der ihn selbst übermannt - falls er des anderen habhaft wird (...)«

Die penetranten Kriegserklärungen hätten sich die Staatsgründerinnen geflissentlich sparen können. Allein die Aufdringlichkeit ihrer Felsmalereien in freier Wildbahn zwingt der zufälligen Betrachterin die Assoziation eines Feindes quasi auf.
Die Naturerfahrung, die ja das Ziel des Tourismus in diesen Gefilden darstellt (sei es das Albula- oder Drautal), dient dem Bürgertum als ideologisches Rekreationswerkzeug. Sie zeugt Identifikation mit den eigenen Lebensumständen, und seien diese noch so entfernt von Caspar David Friedrich. Wenn Natur kulturell also vor allem diesem Zweck dient - und die Prospekte der Reiseveranstalterinnen erklären dies einhellig und glaubhaft (wenn auch in verschlüsselter Form) - so kann der Identifikationsmechanismus auf verschiedene Weise seinen Dienst erfüllen, das Selbst der Naturbetrachterin zu rechtfertigen: Sei es die der Menschenleere anhaftende geistige Sterilität und Hygiene, oder die Unerschöpflichkeit an umwandelbarem Material durch Produktion, die die Natur bereithält und damit der zukunftsverängstigten Staatsbürgerin die Atemwege befreit: Immer wird sie als Kontrast zu den Gegenden gesehen, denen das Bürgertum bereits ihre Biographien und Lebensweisheiten mittels Kleingärten und Industriekomplexen eingeschrieben hat.

CRACK BOURGEOISE ABENDSTIMMUNG

»Unweit der Außengrenze von Schengenland wandere ich durch die ausgedehnten Wälder des Leithagebirges. Auf einer leichten Anhöhe steht seit Jahrhunderten die sogenannte Kaisereiche. Besteigt man die Plattform der alten Warte, wird der Blick über die Landschaft freigegeben - eingerahmt allerdings von roten und weißen Sprüchen in den verschiedensten Handschriften: ‚FERIEN VOM FASCHISMUS', ‚FUCK SCHENGEN', ‚FÄLLT DIE HAIDEREICHE' bilden mit der Aussicht ein weiteres Palimpsest wütender Graffitistinnen. (...)«
Die Neue Landschaftsmalerei bedient sich mit der Natur einer Oberfläche, die sie nur scheinbar in einem »jungfräulichen« Zustand vorfindet. Anfang des 19. Jahrhunderts bildete sich - ausgehend vom x-ten Revival antiker bukolischer Ideen - mit der Romantik der Grundstock eines bürgerlichen Naturverständnisses. Die ersten Sommerfrischlerinnen durchstreiften ihre neuen Nationen und errichteten flugs Aussichtswarten und später, von den Vereinigten Staaten ausgehend, National-Parks, deren Gebiete in geradezu militärischer Manie/r erobert und befestigt wurden. Ein Fall von imperialistischer Landnahme. Die Natur umgrenzen und festschreiben: dieser militärisch-kartographische Ansatz der (aus-)schwärmlerischen Naturfreundinnen findet seine allegorische Entsprechung gerade in den Aussichtswarten. Sie stehen für den Versuch des sich emanzipierenden Bürgertums, sich den militärischen Blick übers Land anzueignen.[2]
Die beginnende Industrialisierung stellte früh die Destruktion althergebrachter Umwelten in Aussicht. Es galt, das Erbe der Natur überschaubar zu machen und zu bewahren. Zwischen Zivilisation und ihrer Natur wurde eine Grenze gezogen, die einer ständigen Befestigung bedurfte. Sie schuf eine Distanz, mit der man arbeiten konnte: Natur wurde bewertbar, sie wurde zur ideologischen Verhandlungsmasse. Was unter romantischen Vorzeichen als Landschaftsbild entstanden ist, wurde vom Disziplinarregime der kapitalistischen National-Gesellschaften als identitätsstiftender Heimat-Code einzementiert.
Wir dulden keine neuen Entwicklungen! - im (vor)modernen Naturbild stand die Bürgerin inmitten der Ewigkeit. Diese war Voraussetzung einer Lust am neuen Konsens des Natur-Schönen und musste deshalb auf immer konserviert werden. Der Widerspruch einer solchen Auffassung zu Fortschrittsimperativen ist nur ein scheinbarer. Auch mittels einer ewigen Natur ließen sich die Großprojekte der tausendjährigen Nationen und Konzerne legitimieren. Das Naturschöne konnte nach und nach die Funktionen der aus sich selbst heraus ewigen und unmittelbaren Ikonen und Sakramente der vorangegangen christlichen Kultur übernehmen: Natur galt als Verkörperung einer nicht hinterfragbaren Erhabenheit. In den neuen Kultstätten der Nationalparks ließ sie sich kollektiv erfahren: Der Konsum der Natur, so die Gleichung, macht handlungsfähig zur Produktion.
Offensichtlich diente ab nun die Natur der Erholung. An die Stelle einer reellen Distanz zur (immer auch ängstigenden) Wildnis, also dem ursprünglichen Konzept »Erhabenheit«, tritt die Distanz einer in steigendem Masse simulierten Idee.[3] Diese Simulation des Ikonen/ Sakrament/ Natur-Komplexes zog zwangsläufig dessen Primärattribute - Heiligkeit, kollektive Erfahrung, Tod und Trost, und eben gerade die aus ihr erwachsende Handlungsfähigkeit - ins Lächerliche. Erhabenheit wird ersehnt, aber im Kontext einer Erholungs-Funktionalität gänzlich verunmöglicht. Funktionen der Freizeit füllen die Hohlräume: arriving tourism. Erholung statt Erhabenheit: Das mag Handlungsfähigkeit nach sich ziehen, allerdings eine ohnmächtige.
Wenn die versprochene Aussicht auf unberührte, »freie« Natur von einem nur allzu bekannten und ärgerlichen Graffitiunwesen verschandelt wird, muss zwangsläufig hysterische Reklamation folgen. Die Graffitis in den Kulturlandschaften Europas sind Kampfansagen an einen festgeschriebenen Naturbegriff. Die neoliberale Bürgerin kann es kaum fassen: ans lederbehoste Bein gepinkelt, wird's nichts mit Erholung und Erhabenheit.[4]

VOLIM TE SPRAY

»Am Strand von Rijeka (und wahrscheinlich nicht nur hier) haben es sich die Jugendlichen seit langem zur Angewohnheit gemacht, ihre pubertären Liebesgeplänkel auf den Strandfelsen zu verhandeln. Hunderte gesprayte ‚VOLIM TE xy' sowie anzüglichere Texte und Illustrationen leuchten aus dem Karst an der Küste. Haben sich hier, in der Grenzzone zwischen Stadt, Land und Meer, schon länger so etwas wie Vorläufer der Natur-Graffitis gebildet? (...) Mit dem Unmaß bei Platzierung und Phrasierung liegen diese vielleicht näher an den ersten New Yorker Graffitis als Tags zeitgenössischer Hip-Hop Kultur. (...)«
Was ist Graffiti? Als es Ende der 70er-Jahre den Aufstand der Zeichen in den Metropolen der Welt probte, jubelte Baudrillard auf. Was vorher unmöglich zu realisieren erschien, kündigte sich am Horizont in Form eines wilden, urbanen Kollektivs an.[5] Der Sprayeraufstand blies zum großen Angriff auf das Regime der Zeichen, um sie der Allgemeinheit zu Verfügung zu stellen. Die Stadt ließ plötzlich den Dschungel erahnen, die Graffitistinnen schienen die Kommunikation aus der Gefangenschaft der Eigentumsverhältnisse zu befreien.
Doch sie vermochten es nicht, die Stadt zu befreien. Sie wandten das Prinzip des kollektiven Raums (ansonst nur in der »freien Natur« verwirklicht) auf das kontrollierte Urbane an, und mussten daran im Großen scheitern. Nach anfänglichem Schock wurde dem Ansturm der Wind aus den Segeln genommen, und er ließ sich wieder unter urbanen Aspekten des Eigentums verhandeln. Im Gegensatz zu den Simulationen des New X erreichen die Landschaftsgraffitis mühelos den Status der Erhabenheit, indem sie sich deren wahrer Ausgangsituation ohne Umschweife nähern. Ähnlich ihren urbanen Vorfahren, entstand die Mehrzahl der entdeckten Landschaftsmalereien in wilden Akten kollektiver Entäußerung[6]. In der radikalen Wiederkehr der Erhabenheitsattribute wird das revolutionäre Potential einer Rezeption von Natur freigesetzt: die neoliberale Ohnmacht weicht einer Handlungsfähigkeit. Wenn die statische Reinheit der Natur den Bürgerinnen erst einmal geschändet erscheint, stellt dies auch die Bedingungslosigkeit des neoliberalistischen Flexibilitäts- und Fortschrittsglaubens in Frage.

SQUAT ALL EMPTY MYTHS

KAMPF DEM KULTURELLEN IMMOBILIENMARKT

Der selbstbewusste Umgang mit der Landschaft attackiert die bürgerliche Identität ungleich mehr als in der Stadt, wo schnell vor allem das Delikt der Sachbeschädigung von Eigentum in den Vordergrund trat. Auch in der Natur werden Eigentumsverhältnisse thematisiert, jedoch auf einer ungleich tiefer liegenden kulturellen Ebene. Gerade die selbstbewusste Aneignung des kollektiven Raums (und was gilt noch als kollektiver Raum, wenn nicht die Natur?) ist ein notwendiger Schritt zum Gefühl einer neuen Erhabenheit. Sind nicht die unbekannten Graffitistinnen diesem Gefühl näher als Freizeitkonsumentinnen, die eine eingefrorene Werteskala anwenden, in der man einer Naturerfahrung proportional zum Abstand zu befestigten Strassen näher kommt?
Das Graffiti hält New X den Spiegel seines wahren Dilemmas vor. Es bricht seine Identität, weil es seine Träume erfüllt, die als unerfüllbar galten. Sie mussten unerfüllbar sein, um Identifikation stiften zu können.[7] New X steckt in der Haut Robinson Crusoes.
Was ihr nie vergessen dürft: das Video ist wunderschön.

Fußnoten


  1. neu: Berlin/regieren/Mitte/Europa/Economy/etc... ↩︎

  2. »Die Lage des besten touristischen Aussichtspunktes stimmt überein mit der militärstrategisch besten Lage im Raum.« Rolf Nohr: Imaginäre Landschaften. Der Blick in den Raum, digitale Flüge und Wetterkarten. in: Holzer, Anton; Elfferding, Wieland (Hg.): Ist es hier schön. Landschaft nach der ökologischen Krise. Turia + Kant, Wien, 2000; S.84. ↩︎

  3. Z.B. lässt noch heute das Fernsehen in seinen Erzählungen diesen Glauben an eine nicht hinterfragbare Natur erkennen, meint Georg Seeßlen: Moralisch siegen tun dort immer die urwüchsigen Eingeborenen über die hysterischen Stadtbewohnerinnen mittels einer kräftigen Kanonade Bauernweisheiten. Sie haben immer Recht, und dafür brauchen sie gar keinen Grund. ↩︎

  4. Im Gegensatz zur regelmäßigen Normalität der Katastrophenfilme der letzten Jahre (Galtür, Lassing, etc.) stellt das Landschaftsgraffiti den bürgerlichen Naturbegriff von Grund auf in Frage. Während die Lawine die scheinbare Wiederkehr der wilderness ist und der kolonialisierten Natur die Erhabenheit retten will, aber damit erst recht die Trennung in Natur und Zivilisation bekräftigt, ist die Landschaftsmalerei ein Krieg gegen die Übereinkunft dieses Codes an sich. ↩︎

  5. »(Sie) haben keine Persönlichkeit zu verteidigen, sie verteidigen auf Anhieb eine Gemeinschaft. Ihre Anonymität ist zugleich Auflehnung gegen bürgerliche Identität und Anonymität. COOL COKE SUPERSTRUT SNAKE SODA VIRGIN - man muss diese Sioux-Litanei vernehmen, diese subversive Litanei der Anonymität, die symbolische Explosion dieser Kriegsnamen im Herzen der weißen Metropole.« Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Merve, Berlin, 1980; S.38. ↩︎

  6. und veranschaulicht so auch eher die Vulgär-Herleitung des Graffitis von der Höhlenmalerei ↩︎

  7. »Ein Abgrund trennt den fantasmatischen Kern des Seins des Subjekts für alle Zeiten von den eher 'oberflächlichen' Formen seiner symbolischen und/oder imaginären Identifikationen: Nähert sich das Subjekt diesem Kern zu sehr, verliert es seinen symbolischen Zusammenhalt, seine Identität zerfällt. Die erzwungene Verwirklichung des fantasmatischen Kerns meines Seins und in der gesellschaftlichen Realität ist die schlimmste, erniedrigendste Form der Gewalt, einer Gewalt, die geradezu das Fundament meiner Identität (meines ‚Selbstbildes') unterminiert.« Slavoj Zizek: Das rassistische Schibboleth. in: ders., Peter Weibel (Hg.): Inklusion : Exklusion - Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Passagen Verlag, Wien, 1997; S.152 ↩︎


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