Reclaim the Streets
Karneval und KonfrontationDer 18. Juni 1999 war wohl der erste internationale antikapitalistische Aktionstag, der als ‚Karneval' angekündigt und an über 40 Orten auf allen Kontinenten mit entsprechend unkonventionellen Mitteln durchgeführt wurde: Anti-business-lunch in Sydney, öffentliche Verbrennung eines Arschlochs in Kanada, Straßentheater vor der Weltbank in Mexiko, öffentlicher Thesenanschlag im Lutherschen Stil an den Toren der Amsterdamer Börse, Verwandlung einer Hauptstraße in einen Strand in Barcelona, Straßenparty in der City of London. Der folgende Text analysiert verschiedene Aspekte des Aktionstages.
Der 18. Juni 1999 war wohl der erste internationale antikapitalistische Aktionstag, der als ‚Karneval' angekündigt und an über 40 Orten auf allen Kontinenten mit entsprechend unkonventionellen Mitteln durchgeführt wurde: Anti-business-lunch in Sydney, öffentliche Verbrennung eines Arschlochs in Kanada, Straßentheater vor der Weltbank in Mexiko, öffentlicher Thesenanschlag im Lutherschen Stil an den Toren der Amsterdamer Börse, Verwandlung einer Hauptstraße in einen Strand in Barcelona, Straßenparty in der City of London. Der folgende Text analysiert verschiedene Aspekte des Aktionstages. Nach einigen allgemeinen Überlegungen in bezug auf die Akteure und die internationale Vernetzung des Protests steht im Mittelpunkt des Textes die Straßenparty, die sich am 18. Juni im Finanz- und Bankenzentrum der City of London abspielte und die zentrale britische Aktion an diesem Tag bildete. Im Hinblick auf diese Aktion sollen Möglichkeiten und Grenzen von Straßenparty und Karneval als Formen politischen Protests diskutiert werden. Inwieweit wurden am 18. Juni »die Symbole und Ideale der Autorität unterwandert« und die gesellschaftliche Normalität außer Kraft gesetzt? Haben dort tatsächlich, wie im Londoner Goldenen Flugblatt angekündigt, »die Marginalisierten das Zentrum übernommen und eine verkehrte Welt hervorgebracht« (Gold Leaflet)?
Zum Verständnis des Geschehenen aus einer bundesdeutschen Perspektive heraus ist es notwendig, auf einige Besonderheiten der britischen Politkultur einzugehen, so etwa bei der - notwendigerweise stark verkürzten - Beschreibung der Gruppe ‚Reclaim the Streets', die den Londoner Party-Protest koordinierte. Es ist vielleicht unvermeidlich, daß sich dabei gelegentlich ein distanziert-ethnographischer Blick einstellt. Die vorliegenden Zeilen wollen allerdings keine distanzierte, abschließend-objektive Bewertung der Ereignisse des Londoner June 18 geben. Vielmehr sollen sie eine Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen von politischer Aktion, Party und Protest anregen, die Erfahrungen aus verschiedenen kulturellen und nationalen Kontexten einbezieht und zusammenführt.
Kreative Interventionen als Form politischen Handelns
In einem gesellschaftlichen Klima, in dem der politische Mainstream ‚neoliberalen' Konzepten folgt und angesichts wachsender sozialer Probleme nach immer mehr Kapitalismus ruft, während traditionelle linke Theorien und Praxisformen viel von ihrer Anziehungskraft verloren haben, ändern sich die politischen Aktionsformen einer Linken, die aus der Defensive heraus neue Möglichkeiten politischen Handelns sucht. Wo oppositionelle Anliegen kaum mit breiter Unterstützung einer ‚Massenbasis' rechnen können, unternehmen zahlenmäßig kleine kritische Gruppen den Versuch, »die Codes zu entstellen, statt sie zu zerstören« (R. Barthes, zit. nach Handbuch der Kommunikationsguerilla). Anstelle in Frustration darüber zu verfallen, daß die Revolution ferner denn je scheint, sehen sie in semiotischen Störaktionen immerhin die Möglichkeit, die Legitimität der Macht punktuell, in konkreten Situationen, in Frage zu stellen. In Deutschland wurden diese Ansätze mit dem Begriff ‚Kommunikationsguerilla' bezeichnet, in den USA heißt das Schlagwort ‚Culture Jamming', in Großbritannien und Spanien findet man vergleichbare Ansätze am ehesten unter dem Etikett ‚Direkte Aktion'. Über nationale Grenzen hinweg und ungeachtet der uneinheitlichen Benennungen entstand in den letzten Jahren ein Netzwerk kreativer Kritik, bei deren Interventionen in die kulturelle Grammatik der Dominanzkultur sich politische und künstlerische Formen gerne mit Humor und Lust am Spiel verbinden. Kommunikation und Austausch werden durch die Nutzung des Internet erleichtert, sind aber auch von persönlichen Kontakten und verschiedenen Treffen und Tagungen getragen. Das verbindende Element scheint nicht wie bei früheren sozialen Bewegungen (Friedensbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Bürgerrechtsbewegungen) ein bestimmtes inhaltliches Thema zu sein, sondern eher die interventionistische Form der Kritik. So trifft man sich bei Veranstaltungen wie der Amsterdamer Tagung Next Five Minutes, die sich auf den ersten Blick als Treffen von Computerfritzen und MedienkünstlerInnen präsentiert, aber ebenso Gruppen anzieht, die allenfalls einen pragmatischen Zugang zu neuen Medien haben. Akademische Bildung, kulturelles Kapital und Beschäftigungsbereiche vieler Beteiligten legen es nahe, sie innerhalb des »Kognitariats« zu positionieren - jener neu entstehenden Klassenposition, die Franco ‚Bifo' Berardi für diejenigen beschreibt, die gleichzeitig UnternehmerIn und ArbeiterIn sind, geübt im Umgang mit Netz, Fax und Handy, 24 Stunden am Tag erreichbar und im Einsatz.
Als Anliegen dieser vorwiegend urbanen und metropolitanen Linken war bei der Amsterdamer Tagung das Bedürfnis spürbar, ein gemeinsames internationales Projekt zu formulieren - fast als hätten die technischen Möglichkeiten der Vernetzung die Möglichkeit überholt, diese Vernetzung in einem traditionellen Sinne inhaltlich zu bestimmen. Greifbar und anschaulich sind die Formen der Organisierung (Netz, Fax, Handy) wie der politischen Intervention (kreativ und sinnlich) - die gemeinsamen Inhalte jedoch bleiben abstrakt und formelhaft. Etwas ähnliches war am J18 spürbar.
J18 - Faszination der Synchronizität: Our resistance will be as transnational as Capital!
Für den 18. Juni war das globale Finanzkapital als gemeinsamer Feind ausgemacht worden. Den politischen Aufhänger bildete das G8-Treffen der Staatschefs der acht industrialisiertesten Länder am 18. Juni 1999 in Köln. Bekämpft wurden die Ziele dieser Veranstaltung: »Ökonomische Globalisierung, ‚Frei'handel und Konzerndominanz« - allesamt abstrakt-unklare, schwer auf den Alltag beziehbare Begriffe. Die internationale Mobilisierung basierte auf bestehenden Netzwerken wie People's Global Action [1]. Inhaltlich bestand ein allgemein gehaltenes Einverständnis darüber, daß das weltweite kapitalistische System die Wurzel ökologischer und sozialer Mißstände sei. Am festgelegten Zeitpunkt, dem 18. Juni, sollten lokale Protestaktionen autonom organisiert und global kommuniziert werden.
Trotz der Abstraktheit des Anliegens und der Diversität der beteiligten Gruppen (von Earth First! über andere Ökogruppen in Ost- und Westeuropa, Umweltgruppen aus anderen Kontinenten, Tierschützer, Kolumbianische Black communities, verschiedene südamerikanische Gewerkschaften bis hin zu Class War und Reclaim the Streets) konnte am 18. Juni zumindest in London ein intensives Gefühl internationaler Verbundenheit mit all den anderen entstehen, die genau zur gleichen Zeit »das Herz der globalen Ökonomie« (Flugblattentwurf) aus dem Takt brachten. Verschiedene Strategien der Konkretisierung brachten eine wirklichkeitsmächtige Fiktion von gemeinsamem, globalem Kampf hervor. Die Internationalisierung funktionierte zunächst über bewährte Ingredienzien der Ritualisierung: die Synchronisierung von Zeit und Ort. Direkte Aktionen und Partyprotest fanden zum gleichen Termin an einer semiotisch ausdrucksstarken Reihung von Parallelorten statt: Finanzzentren, Bankareale und Machtzentren multinationaler Konzerne. Die zeitliche und räumliche Klammerung wurde ‚erfahrbar' und symbolisch wirkmächtig durch die Nutzung schneller und erschwinglicher Netzkommunikation - in der ganzen Welt wurden Events und Aktionen ins Netz gegeben, auf einer Webpage zusammengefaßt und zeitgleich von einem Londoner Internetladen aus in die Welt zurückgestreamt.
Die Vermutung liegt nahe, daß die Faszination der Beteiligten sich zum großen Teil aus dem Wissen um diese globale Zeitgleichheit speiste, die eine lange Liste diverser Gruppen rund um den Globus miteinander verband. Die Haltung: »Je länger die Liste, desto effektiver die Aktion« (Black Leaflet) wurde den Koordinierenden durchaus auch vorgeworfen.[2] Eine theoretische Internationalisierung der Kapitalismuskritik war nicht das Anliegen des J18 - doch werden im Nachhinein sowohl Aktionsform als auch theoretischer Überbau in Aktivistenkreisen kritisch diskutiert (nachzulesen in »Reflections«, einer marxistisch orientierten Textsammlung, unter http://www.infoshop.org/octo/j18_rts1.html#dance.
Es blieb aber nicht bei Faszination virtueller Synchronizität. J18 in der Londoner City war ein intensives, sinnlich erfahrbares Ereignis, getragen von einer in den 90er Jahren entstandenen Kultur des Partyprotests, für die Reclaim the Streets steht und die sich von den traditionellen Demonstrationszügen zum Trafalgar Square deutlich unterscheidet. Bevor wir zu den konkreten Ereignissen des J18 in der Londoner City kommen, soll diese spezifische Protestkultur in ihrer Entstehungsgeschichte und ihren kulturellen Bezügen dargestellt werden.
Reclaim the Streets - Entstehung und Affinitäten
Die Worte ‚Reclaim the Streets' wecken in Deutschland Assoziationen zu den hiesigen ‚Innenstadtaktionen' gegen die Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums - einem politischen Handeln, das sich bei vielen deutschen Linken weniger aus konkreten Ausgrenzungserfahrungen denn aus der Lektüre theoretischer Texte von Foucault bis Mike Davis speiste. Doch diese Assoziationen sind nur bedingt zutreffend, der Protest in Großbritannien hat zum Teil andere symbolische Bezugspunkte: die »enclosures« und das Auto. In früheren Flugblättern ist viel von »enclosures« die Rede[3]. Hier wird auf ein im kollektiven Unterbewußten latentes Trauma der ursprünglichen Akkumulation Bezug genommen: Seit dem 16. Jahrhundert wurde das bis dahin dem ‚common good', dem ‚gemeinen Nutz' zugängliche Land zum Zweck der Schafzucht eingezäunt, mit dem entstehenden Kapitalismus war Textilproduktion profitabler geworden als Landwirtschaft. Das Land wurde ein- und damit die Menschen ausgeschlossen. Entsprechend sind heute in der Logik von Reclaim the Streets die Straßen »enclosed«. Was in einer mythischen Vergangenheit »the commons of the city« war, gemeinschaftlich nutzbarer Raum für Diskussion und Austausch innerhalb der Gemeinschaft, ist heute dieser Nutzung entzogen. Waren früher die Schafe Anlaß zur Privatisierung des Landes, so sind es heute die Autos, die den urbanen öffentlichen Raum der Nutzung durch die Bewohner entziehen. Der historische Bezug ist ein symbolischer - aber er funktioniert: es geht um Selbstbestimmung, Lebensqualität, darum, die Straßen der zielorientierten Nutzung zu Konsum und Transport zum Zweck des Profits zu entziehen und die Gestaltung des öffentlichen Raums in den Städten temporär in die eigene Hand zu nehmen.
Es wird erzählt, daß Reclaim the Streets von Anfang an einen antikapitalistischen Dreh hatte. Deutlich ist, daß sich das Konzept aus dem Ökoprotest, aus dem kreativen Protest gegen Straßenbau entwickelt hat. Die unangemeldeten Straßenparties, die unter diesem Label überall in Großbritannien stattfinden, sind Teil einer breiteren, relativ offenen, wenn auch durch die kulturelle Grammatik der oppositionellen weißen Mittelschicht begrenzten Protestkultur. Was in dem Band DIY-Culture über Earth First! gesagt wird, trifft auch auf Reclaim the Streets zu: Straßenbau-Gegner werden Tierschützer, radeln bei Critical Mass mit, werden urbane Hausbesetzer, werden Raver »ad infinitum, einfach durch ihre Präsenz bei dieser speziellen Gelegenheit. (...) So ist es unmöglich, zum Beispiel über Earth First! und die Protestbewegung gegen Straßenbau zu reden, als wären sie voneinander getrennte Erscheinungen: Individuen bewegen sich durch beide Bewegungen hindurch, und in vielen Fällen würden sie sich nicht als Mitglied einer dieser Gruppen definieren« (DIY Culture 159, Übers. d. A.). Die anarchische, dezentrale Organisationsform, die keine Parteileitung, kein Komitee und keine Sprecherin vorsieht, hat für die nicht immer ganz legalen Aktionen ihre Vorteile. Im Vorfeld von J18 äußerte sich ein Vertreter der Polizei beleidigt darüber, daß keiner der Organisatoren der Einladung der Polizei zur Zusammenarbeit gefolgt sei - man wollte doch bloß den Ablauf regeln! Daß es tatsächlich keine geeignete Ansprechpartnerin gab, war offensichtlich nicht vorstellbar.
Gemeinsam ist dieser Protestkultur, daß sie konkrete, direkte Aktionen über theoretische Überlegungen stellt und die ‚Authentizität' des Protests mit dem Einsatz des eigenen Körpers, der eigenen Person verbindet. Bei den Straßenparties stehen dabei Tanz, Theater, Karneval im Vordergrund; bei Protestcamps sind die Aktionsformen ‚militanter', kommen den Bedürfnissen männlicher Selbstdarstellung näher, manchmal muten sie seltsam an: Man kreuzt auf, richtet sich ein Baumhaus ein und nimmt damit »squatter's rights« in Anspruch, gräbt Tunnel unter den Baustellen, kettet sich dort an Betonblöcke und wartet auf die Räumung (Vgl. Going Underground. Some Thoughts on Tunneling as a Tactic. In: Do or Die 8 (1999), S. 60-61). Oft werden Formen gewählt, die auch dann Sinn machen, wenn die konkreten Ziele nicht erreicht werden - Straßenparties zum Beispiel führen zwar nicht zur Abschaffung des Individualverkehrs in den Städten, sie bedeuten jedoch eine temporäre Durchbrechung der üblichen Nutzung von öffentlichem Raum (Transport und Konsum), und wie die große Zahl der »Gäste« zeigt, sind sie attraktiv.
Inhaltlich ist der gemeinsame Nenner schwer zu bestimmen. Bei den öffentlichen Treffen von Reclaim the Streets kann man Flyer von allen möglichen Gruppen aufsammeln: Greenpeace, Friends of the Earth, genetiX snowball und andere mobilisieren für ein »Gene-free-jamboree«, »campaign against arms trade« fordert die Schließung des britischen Waffensupermarkts, die »Animal Liberation Front« agitiert gegen Vivisektion, »The Land is Ours« organisiert eine Landbesetzung »irgendwo in Norfolk«..., ein Gewerkschaftsvertreter der U-Bahn versucht Kontakte zu knüpfen, ein paar spanische Aktivistinnen präsentieren ihren Kampf gegen den Bau eines Staudamms im Baskenland, der wenige Tage später einen Ausdruck darin findet, daß sich einige Menschen auf dem prestigeträchtigen Millenium-Riesenrad an der Themse, dem »London eye« anketten und damit ihr Anliegen sogar in die Nachrichten bringen.
Reclaim the Streets entwickelt sich zu einem Sammelbecken für ein weites Spektrum kritischer, aktionsorientierter Politgruppen, von Menschen, die die Schnauze voll haben von London's rat race mentality, von Umweltverschmutzung und Apathie. Doch es ist schwierig, all diese Inhalte auf einen einfachen Punkt zu bringen. Sind die verbindenden Elemente vielleicht die romantisierenden Fiktionen frustrierter Stadtbewohner von gesundem Leben, biologischer Ernährung, ökologischem Gleichgewicht und ‚authentischem Leben' - als Gegenpole zur Entfremdung im metropolitanen Turbokapitalismus?
City of London - »Im Herzen des Drachen«
Wenige Orte sind zur lokalen Konkretisierung eines Protests gegen »das Finanzkapital« besser geeignet als die City of London. Damit ist nicht etwa das Stadtzentrum gemeint, sondern das Zentrum der Finanzunternehmen und ihrer Zubringer-Dienstleister. Basierend auf dem Handel des alten Britischen Kolonialreichs ist die ‚Square Mile' bis heute das größte Finanzzentrum der Welt, hier sind mehr Dollars auf dem Markt als in Wall Street; 59% des globalen Aktienumsatzes werden in der City of London getätigt.
Nicht nur die postmoderne Architektur mit ihren rauchglasbestückten Fassaden, ihren scheinbar transparent-durchlässigen Glas- und Stahlkonstruktionen hebt die Square Mile vom restlichen London ab, ihre Eigenständigkeit ist auch auf administrativ-politischer Ebene gewährleistet. Im Unterschied zu London als Ganzem hat die City einen eigenen Bürgermeister und wird von einer eigenen Regierung geleitet, der »Corporation of London«, die wiederum ihre eigene Polizei hat. Die City ist mit dem engmaschigsten Überwachungssystem der Welt überzogen: 1280 miteinander verbundene Kameras, installiert von der Corporation of London in Zusammenarbeit mit privaten Firmen, ermöglichen die lückenlose Kontrolle des Areals.
Dem Bericht eines Aktivisten zufolge ist die freche Idee, ausgerechnet in diesem wenig einladenden Stadtteil eine Straßenparty zu veranstalten, aus einer Mischung aus Spaß am Unmöglichen und subversivem Sinn für's Spielerische entstanden (Do or Die 6). Schon länger hatten sich Leute aus dem Umfeld des Londoner Reclaim the Streets und eines anarchistischen Ablegers von Greenpeace von der hermetisch überwachten Square Mile angezogen gefühlt. Nicht die theoretische Durchdringung der Funktionsweisen von Kapitalismus hat die Idee hervorgebracht, dort eine Protest-Party zu veranstalten, sondern eher ein intuitives Sich-provoziert-Fühlen, ein alltagstheoretisches Verständnis für die symbolische Mächtigkeit des Areals. In der Sprache der Szene-Publikationen drückt sich dieses Verständnis in Begriffen wie »im Herzen des Drachen« oder im »Maschinenraum aller ökologischen und sozialen Verwüstungen« (Do or Die 5) aus.
Konfrontation der Körper
Es fing an mit einem Fahrradumzug von Critical Mass in der morgendlichen Rush Hour. Hunderte von Radfahrern fuhren im Schrittempo durch eine der Hauptverkehrsstraßen. Um 12 Uhr mittags war der große Treffpunkt bei Liverpool Station - die Tausenden, die ankamen, wurden mit bunten Masken versorgt, es gab Trillerpfeifen und andere Souvenirs zu kaufen, und die Masse setzte sich in drei Zügen Richtung City in Bewegung.
Zwei Kulturen prallten aufeinander: Einerseits die propere, dynamische City-Kultur. Wie hier gearbeitet wird, spiegelt sich in unzähligen Details wider: Anzug, blaues Hemd und Krawatte respektive Kostümchen tragen, einen Haufen Geld verdienen, Arbeiten bis zum Umfallen unterbrochen vom schnellen Lunch in schicken Imbiß-Restaurants und zwanghaften Sauforgien nach Büroschluß in teuren Pubs. Das Ganze spielt sich in spiegelverglasten Bürokomplexen mit Teppichboden und Rezeptionistinnen ab. Hier wird Geld gemacht - allerdings nicht von allen, die dort arbeiten. Ein Devisenhändler - und es muß kein Chef sein - kann um die 40.000 DM im Monat verdienen, wer seine Kohle in einer Putzkolonne oder als Zeitarbeiterin verdient, kann froh sein, über den Mindestlohn von ca. 1500 DM zu kommen.
Man sieht hier keine freaks, die Jungs in Trainingshosen und Baseballmützen fehlen genauso wie die Frauen mit ihren Einkäufen in der Plastiktüte und den Kindern im Schlepptau. Ob Fahrradkurier oder Büroangestellte, der Körper in der City ist jung, energetisch bis gehetzt, er ist gestylt mit wattierten Anzug- oder Blazerjacken, die Haare sind akkurat geschnitten, Frauen tragen sie länger als Männer, weibliche Gesichter sind geschminkt. Die Frauen zeigen Figur, die Männer Kinn und Schultern. Der Körper in der City hat es eilig. Er verweilt nicht. Das Handy am Ohr, die Mappe in der Hand, hat er zu tun, making money.
Dagegen die Subkultur des Reclaim the Streets-Publikums - nicht weniger leicht zu erkennen. Viele buntgefärbte Haarschöpfe, dreadlocks, Frauen mit raspelkurzen Haaren, Männer mit langen Mähnen, Bärte mit Perlen dekoriert, die Kleidung reicht von Shorts und ärmellosen Hemdchen bis zum Adamskostüm, piercings überall, Lachen im Gesicht. Nicht, daß die bunten Gestalten sich nicht über Nacht in propere Bürogängerinnen verwandeln könnten, dreadlocks hin oder her - als Partykörper jedoch sind sie locker, Schultern bewegen sich, Hüften drehen sich zur Musik, selbstvergessen tanzen ein paar unter dem Regen einer vier Stockwerke hohen Wasserfontäne aus einem geöffneten Hydranten. Der subkulturelle Körper hat Zeit, fließt mit der Musik, gibt sich der Dynamik des Augenblicks hin. Es soll hier nicht unterschlagen werden, daß auch der subkulturelle Körper in typisch männlicher Form auftreten kann - als Hardcore-Muskelmänner mit tattooverzierten Oberarmen und entschlossenem Blick. Beide, der City-Körper und der Reclaim the Streets-Party-Körper sind eher weiß als schwarz.
Beide Seiten haben sehr genaue Bilder voneinander: die einen wissen, daß man in der City »mostly men in suits« sieht, die meisten davon »burning out within a few years«, die anderen wissen, daß von Reclaim the Streets einiges zu befürchten ist, auch wenn man sich nicht recht entscheiden kann, ob man von »open-toed sandaled hippy vandals« oder von »anarchists committed to the destruction of property« belagert wird. Jedenfalls muß man sich vorsehen: »We have armed our doorman with a shotgun« (Zitat aus »Lawyer Magazine« in Do or Die, 20). Einige Firmen empfahlen ihren Angestellten, am 18. Juni in legerer Kleidung zu erscheinen, andere sollen erwogen haben, für einen Tag ganz dichtzumachen.
Begegnungen und Überkreuzungen, Irritationen und Verfestigungen
J18 in der Square Mile oszillierte in komplexer Weise zwischen Straßenparty, Konfrontation und Bachtinschem Karneval[4]: Karneval ist, so Bachtin, ein Spiel mit Ambivalenzen - zeitlich begrenzt transzendiert er die vorgegebene Ordnung, Grenzen überschreitend bleibt er doch gefangen im Zauber des Augenblicks. Karneval ist nicht die Revolution - doch öffnet er das Fenster des Was-Wäre-Wenn, erlaubt denen, die keine Märtyrer sein wollen, im phantastischen Spiel die Utopien aufscheinen zu lassen. Diese Vision Bachtins hat auch beim ‚Carnival against Capitalism' des 18. Juni Pate gestanden. Verschiedentlich wurde darauf direkt Bezug genommen.[5] War es an diesem Tag tatsächlich Mikhail Bachtins Geist, der als Gespenst durch die City of London tanzte?
J18 war keine Demo im herkömmlichen Sinne - es gab kaum Flugblätter und auch nicht die Plakate der Socialist Workers Party, dafür um so mehr Tanz und Musik. Schließlich war die Kritik an den selbstdisziplinierten Demonstrationszügen anderer sozialer Bewegungen von Anfang an eines der Anliegen von Reclaim the Streets. Die Taktik der Straßenparty besteht darin, vom Gehweg auf die Straße zu gehen. In diesem Rahmen ist das Straßenblockieren in sich selbst politisch relevant, als Wiederentdeckung eines gemeinschaftlich nutzbaren öffentlichen Raums kann die Party zum Fest einer verkehrten Welt werden. Doch wie das Beispiel der Berliner love parade zeigt, kann die Form der Straßenparty leicht zum Ritual mit festgelegten Strukturen gerinnen. Zwar sind die Parties von Reclaim the Streets in Sachen Kommerzialisierung nicht mit der love parade zu vergleichen, doch auch hier kreuzen viele mit einer deutlichen Konsumhaltung auf, auch hier läßt sich die Mehrzahl der Gäste willig von den Koordinierenden in den Partystrom leiten. Auch die Polizei hat ihre Rolle gefunden - man läßt der Party ihren Lauf und umzingelt die letzten Feiernden erst dann, wenn sie am Ausklingen ist.
Die Aktivistinnen von Reclaim the Streets sind sich der Gefahr der Ritualisierung und Domestizierung des Party-Protests bewußt. Das Unternehmen, eine unangemeldete Straßenparty in der City of London zu veranstalten und zum ‚Carnival against Capitalism' zu machen, war auch ein bewußter Versuch, dieser Domestizierung entgegenzuwirken - wobei der Hintergrund ‚City of London' der Party natürlich zugleich den ultimativen Kick geben sollte.
Vielleicht war es von vorneherein ein schwieriges, paradoxes Unterfangen, an diesem Ort Karneval und Polit-Protest verbinden zu wollen. Idealtypisch gesprochen, ist Karneval zunächst inklusiv - seine Sogwirkung ist stark genug, um Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauenden, oben und unten, gut und böse zu verwischen. Protest dagegen ist konfrontativ und exklusiv - er scheidet die Guten von den Bösen, die Ankläger von den Angeklagten. Beides verträgt sich nicht gut. Karneval kann zwar Protest, Kritik, Utopie ausdrücken - aber nicht in Form eindeutiger Positionen, sondern durch Verschiebung von Bedeutungen, oft auf der symbolischen Ebene. Im Idealfall transzendiert Karneval die Konfrontation: der Bachtinsche Karnevalist verbarrikadiert die Kathedralen der Macht nicht, er prangert sie nicht an und bedroht sie auch nicht, sondern er spielt selbst den Kleriker der verkehrten Welt.
Den Karneval in die City zu bringen, war in diesem Sinne ein schwieriges Unterfangen, da bereits der Rahmen einer Straßenparty gegen Kapitalismus mitten im strengbewachten Finanzzentrum eine Konfrontation, eine eindeutige Frontstellung beinhaltete. Zugleich aber waren punktuelle Grenzüberschreitungen im Sog der Party-Dynamik stets möglich und fanden auch statt. Diese Ambivalenz zeigte sich schon während des ersten, weitgehend friedlichen Teils der Veranstaltung bei allen Beteiligten.
Die Aktivistinnen bewegten sich auf einem schmalen Grat zwischen Bestätigung und Auflösung von Grenzen. So konnte man einen Trupp von Anzugträgern beobachten, die, Aktentaschen auf dem Kopf, Regenschirme wirbelnd mit ernstem Gesichtsausdruck das schöne Lied »Money makes the world go around« sangen, wenn sie nicht gerade Gedichte in ihre Handys rasselten. Es gab souverän crossgedresste Jungs und clowneske Straßenredner. Es gab unsichtbares Theater von Leuten, die über den Verkauf von frischer Luft debattierten, andere machten großen Wirbel um ihre Spielzeughandys. Straßenhändler verteilten eine Sonderausgabe des »Evening Standard«, die »Evading Standards«, natürlich eine Fälschung, was des öfteren zu Diskussionen mit Passantinnen führte. Doch waren all diese Aktionen eindeutig als solche erkennbar - trotz des Schmunzelns vieler Passanten blieben die Grenzen zwischen Aktivisten und zu Agitierenden klar und unverrückt.
Besonders klar wurde das an der Reaktion auf ein, zwei Einzelkämpfer, die mit einem Plakat für »das Recht, nackt zu sein« demonstrierten - natürlich nackt. Wo immer sie Gruppen von mittagessenden Cityworkers passierten, begegnete ihnen frenetisches Männergelächter - eine Mischung aus Homoerotik und Homophobie, wie man sie auch aus Bundeswehr, Knabeninternaten und ähnlichen Männerbünden kennt, Bestätigung männlicher Sexualität statt Umdeutung des nackten männlichen Körpers.
Besonders interessant sind Rolle und Spielräume der Cityworkers im Rahmen der Straßenparty. Als Zuschauer an den Rändern des Spektakels betrachteten sie, froh über die ausgedehnte Mittagspause, das Treiben durchaus wohlwollend, wenn auch nicht unbedingt gesprächsbereit - viele Geschäftsleitungen hatten ihre Angestellten instruiert: »We don't talk to you. No, we cannot talk to you. Sorry.« Selbst die Erzählung, daß City-Angestellte versuchten, von Partygängern dope zu kaufen, zeigt die Aufrechterhaltung von Grenzen, von Stereotypen. Es ist ja ganz nett, daß »die anderen« sich immerhin trauen, die »Radikalen« anzusprechen - aber das Bild ist klar: Wer hier mitmacht, hat auch Drogen dabei. Viele von denen, die man in Trauben zusammengeballt hinter den Rauchglasscheiben sehen konnte, zeigten deutlich, daß sie - unter anderen Umständen, in ihrer Studentenzeit vielleicht oder am Wochenende - durchaus mitmachen würden. So funktionieren Grenzziehung und Kontrolle in ihrer postmodernen Form: Man hat nichts gegen die anderen, ist auch selbst im Grunde hip und nett und locker, aber jetzt gerade eben nicht. Identitäten mögen flüssig und austauschbar sein, es gibt keine prinzipiellen Barrieren zwischen Party- und Herrschaftskultur, doch sind die Zeiten und Orte genau festgelegt, an denen die jeweiligen Identitäts- und Verhaltensmuster ‚passend' sind - innerhalb der Arbeitszeit schlüpft man nicht so einfach in eine subversive oder einfach hedonistische Identität.[6]
Die Rechnung, einen überbordenden Karneval zu veranstalten, den Bock zum Gärtner und den Narren zum Priester zu machen, konnte nicht aufgehen. Ein solcher Karneval hätte von der Straße in die Bürokomplexe der Banken und Börsen überschwappen müssen. In der Realität verhinderte die Logik der Konfrontation und des politischen Protests Grenzüberschreitungen, zugleich schuf der als Straßenparty ritualisierte Karneval die Bedingungen seiner eigenen Beschränkung: Tanzen: ja. Illegal in privatwirtschaftliche Gebäude eindringen, nur um dort zu tanzen: nein.
Zwar kam es im Schutz der Straßenparty zu einigen Besetzungen von Gebäuden, doch trugen diese eher den Charakter politischer Protestaktionen als von überströmendem Karneval. Als das Gebäude des Future Exchange fast, beinahe, um ein Haar, gestürmt worden wäre, hinderten gewaltfreie Partygänger die Vorhut daran, sich Einlaß zu verschaffen. Zwar wären die Massen dagewesen, um das Gebäude mit einem Schwall von Musik und Fete zu überschwemmen. Tatsächlich aber fand zunächst eine Auseinandersetzung zwischen Vertretern zweier Formen von Politprotest statt: gewaltfreie ‚Fluffies' auf der einen, militante Hardcore-Aktivisten auf der anderen Seite. Was zu einer Transformierung des Future Exchange in eine Partyzone hätte führen können, endete schließlich in einem Stein- und Flaschenhagel und in der Konfrontation mit berittener Polizei in Riot-Ausrüstung.
Anfangs hatte die Polizei sich darauf beschränkt, Straßenparty und geregelten Verkehrsfluß unter einen Hut zu bringen. Zwei U-Bahn-Stationen wurden vorsorglich gesperrt. Man ließ den Massen das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Als der Bezugsrahmen »Reclaim-the-Streets- Party« nicht mehr haltbar war, schaltete man um auf »Riot«. Ein brutales Vorgehen der Polizei gegen friedliche Partygäste wäre von der Öffentlichkeit kaum toleriert worden - auch das eine im Hinblick auf deutsche Verhältnisse eher ungewöhnliche Einschätzung. Sobald jedoch die Grenze »Zerstörung von Privateigentum« berührt wurde, schritt man ein, kompetent, brutal und erfolgreich. Damit war der letzte Rest von Karneval die Themse runter. Daß J18 kein Karneval geworden ist, liegt nicht daran, daß die Polizei ein paar steinewerfende Ökokrieger eingemacht hat - die Party selbst hat sich ihre Grenzen gesetzt.
Für die bürgerlichen Medien wie auch die Polizei ist die Konfrontation das Bild, das geblieben ist: »Booze fuelled hardcore anarchists turn anti-capitalist protest into orgy of violence«, berichtete der Daily Star am nächsten Tag. Bis heute machen abenteuerliche Berichte die Runde - von dem in der Sunday Times lancierten Gerücht, Reclaim the Streets sei dazu übergegangen, CS-Gas und andere Waffen anzuhäufen bis zur Metropolitan Police, die nun ihrerseits das Internet dazu nutzt, mittels virtueller Steckbriefe angebliche Rädelsführer zu suchen.
Deinen Feind, den mußt du benennen' - Vom Widerstand gegen die postmoderne Macht
Auch den Aktivisten ist klar, daß der Versuch, die City of London in eine karnevaleske ‚verkehrte Welt' zu transformieren, letzten Endes klare Fronten zum Ergebnis hatte. Die verworrene postmoderne Gesellschaft habe, so eine Einschätzung, gleichsam ihr wahres Gesicht gezeigt. »J18 hat die Architektur der City verändert««, meint ein Aktivist. Aus Angst vor Krawall errichtete LIFFE (der Futures Exchange) anläßlich des J18 ein festungsartiges Tor vor einem seiner Eingänge. Vielleicht, so die Hoffnung, würde die Macht wieder sichtbar werden und ihre Foucaultsche Ungreifbarkeit verlieren, wenn das Kapital dazu gezwungen sei, offen Zeichen von Macht, Gewalt und Kontrolle aufzurichten. Daß der Kapitalismus gezwungen worden sei, die häßliche Fratze zu zeigen, die sich unter der postmodernen Maske verbirgt, wurde als eine Art Ersatzerfolg verbucht.
Die Suche nach einem eindeutigen Feind drückt sich auch in einer Begründung für die Wahl des Finanzkapitals als Ziel des Protests aus: »Die Reduktion von Diversität in der Konzernlandschaft und die Machtkonzentration in internationalen Institutionen wie IMF, Welthandelsorganisation und den Finanzmärkten hat die Dinge klargestellt und bietet einen Fokus für Protest und Opposition« (Friday June 18th 1999. Confronting Capital and Smashing The State! In: Do or Die, 1, Übers d. A.). Die Begründung wird nachgereicht: Es sei um vieles leichter, gegen konzentrierte, einheitliche Macht zu opponieren als gegen ihre vielschichtigen und flexiblen Formen.
Man kann über die Richtigkeit dieser Analyse streiten. Doch das Sichtbarmachen von klaren Grenzen ist nicht Sache des Karnevals. Im Gegenteil: J18 konnte nur deshalb in Konfrontation umkippen, weil die Grenzen letztlich eindeutig blieben. Was in der City of London versucht wurde, war schwierig und paradox - Party, Karneval und Protest zusammenzubringen. In manchen Aspekten ist das gelungen, der Große Karneval, die Verkehrte Welt aber war es nicht, die dort stattfand.
Wenn aber die Konstitution von Macht sich heute wirklich am besten in Foucaultschen Konzepten beschreiben läßt, also eher durch ein allgegenwärtiges Netz aus Diskursen und lokalen Machtbeziehungen gekennzeichnet ist als durch ein klar geschiedenes Oben und Unten, dann kann karnevalesker Partyprotest dennoch eine angemessene Form von politischer Artikulation sein. Dann reicht es, wenn die Gäste hinter dem Kick einer ungewöhnlichen Fete her sind, die in einer konkreten Situation subversive Anteile in ihnen aktiviert und sie dazu bringt, lokal und situativ Machtbeziehungen und -diskurse außer Kraft zu setzen. Dazu brauchen sie keine Antikapitalisten zu sein. Partyprotest lockt mehr Leute hinter dem Ofen hervor als herkömmliche Demos - aber er legt auch seine eigene Einschränkung fest. Denn das vorwiegend weiße, oft aus dem Umfeld der Universitäten kommende Partypublikum mag zum Rausch an ungewöhnlichen Orten bereit sein - bestimmte Grenzen werden jedoch respektiert, man bleibt auf der sicheren Seite. Die Logik der Party, auch die des Party-Protests, ist - Rave-o-Lution hin oder her - nicht die Logik der Revolution, in der die Verdammten dieser Erde sich gegen ihre Unterdrücker erheben. Das Subversive des Party-Protests liegt nicht in abstrakt-antikapitalistischer Rhetorik, im militanten Angriff auf die ‚Zentren der Macht' oder in gewaltfreier Respektabilität. Ob die Party zum subversiven Akt, zum Karneval, zum friedlichen Protest, zum Kommerz oder zur Konfrontation wird, hängt davon ab, ob es gelingt, herrschende Codes zu benutzen und zu verschieben, von der Bereitschaft der Aktivistinnen und Zaungäste, symbolische Grenzen zu überschreiten und von der Möglichkeit, dadurch ihren Unmut und Dissens zu kommunizieren. Diese potentielle Offenheit ist Schwäche und Stärke des Party-Protests zugleich. Sich darauf einzulassen, anstelle nach der Konfrontation mit klaren Feinden zu suchen, wird stets ein schwieriges Unternehmen bleiben. Wie schwierig, haben die ungewohnt heftigen Übergriffe der Polizei bei der Anti-WTO-Party am 30. November im Kessel von London Euston Station gezeigt. Anyway, let's try again!
Erstmals veröffentlicht in der Internet-Zeitschrift com.une.farce no.3 http://www.copyriot.com/unefarce/
Sonja Brünzels ist u.a. Mitherausgeberin des Handbuchs der Kommunikationsguerilla.
Fußnoten
People's Global Action ist ein weltweites Netzwerk von Basisgruppen gegen transnationales Kapital, das in der Folge des 1996 von den Zapatisten veranstalteten Intergalaktischen Kongreß gegen den Neoliberalismus entstand. Vertreten sind Gruppen von der Brasilianischen Bewegung der Landlosen über westliche Ökogruppen bis zu radikalen Indischen Bauern. ↩︎
In der Zeitschrift »Uniundercurrent« (c/o sussex autonomous society, Falmer House, University of Sussex, Falmer, Brighton BN1 8DN) wurde die Begeisterung für Quantitäten (Teilnehmende, Aktionen, beteiligte Länder) als vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Ereignischarakter der Medien kritisiert. ↩︎
In einem alten Flugblatt heißt es etwa: »Es geht darum, die Straßen als einen öffentlichen, inklusiven Raum zurückzuerobern und von der privaten, »enclosed« Nutzung durch das Auto (zu befreien)« ↩︎
Der russische Literaturwissenschaftler Mikhail Bachtin untersuchte den Karneval der Renaissance und entdeckte in dessen Formen die subversive Kraft des wilden Lachens, der ins Absurde verkehrten Ordnungen, der verkehrten Welt (Zitat). Geschrieben in der Ära des Stalinismus, ist Bachtins Arbeit zugleich eine Studie über die subersive Kraft der Marginalität. ↩︎
Diese Überlegung wird in »Reflections« (http://www.infoshop.org/octo/j18_rts1.html#dance) vom Lancaster J18 Collective diskutiert. ↩︎
Andererseits wird erzählt, daß viele Cityworkers die Gelegenheit genutzt hätten, der Arbeit fernzubleiben oder früher heimzugehen. ↩︎
Sonja Brünzels
autonome afrika gruppe, Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, Hamburg-Berlin 1997
Do or Die 8 (1999). Zu beziehen über E-Mail: doordtp@yahoo.co.uk
Flugblätter: International Leaflet - Aufruf zur Koordination des Protests; Black Leaflet - Internationaler Aufruf zum 18. Juni; Gold Leaflet - Einladung zur Londoner Reclaim The Streets Party.
Jordan, John: The Art of Necessity - The Subversive Imagination of Anti-Road Protest and Reclaim the Streets. In: Mackay, Gordon. (Hg.): DIY Culture: Party and Protest in Nineties Britain. London 1996
Mackay, Gordon. (Hg.): DIY Culture: Party and Protest in Nineties Britain. London 1996
Reflections on June 18. Contributions on the politics behind the events that occured in the City of London on June 18, o.O. o.