Regulationstheorie und die Dialektik von Wandel und Beharrung
Peter Saunders, ein anerkannter britischer Soziologe, verfasste noch in den 80er-Jahren eine Habilitationsschrift über Stadtsoziologie, die vom Suhrkamp-Verlag 1987 auf Deutsch aufgelegt wurde. Die Kernthese Saunders war, dass das Spezifische und Unterscheidende der Stadtsoziologie darin bestehe, sich mit Problemen des öffentlichen Konsums zu beschäftigen. Wohnen, öffentlicher Verkehr, aber auch Gesundheit und Bildung seien die Themen, denen die stadtsoziologische Aufmerksamkeit zu gelten habe. Heute erscheint uns diese Vorstellung als unglaublich überholt: die großen Themen der Stadtforschung ranken sich im neuen Jahrtausend um Städtewettbewerb, Projektmanagement und die unternehmerische Stadt.
Peter Saunders, ein anerkannter britischer Soziologe, verfasste noch in den 80er-Jahren eine Habilitationsschrift über Stadtsoziologie, die vom Suhrkamp-Verlag 1987 auf Deutsch aufgelegt wurde. Die Kernthese Saunders war, dass das Spezifische und Unterscheidende der Stadtsoziologie darin bestehe, sich mit Problemen des öffentlichen Konsums zu beschäftigen. Wohnen, öffentlicher Verkehr, aber auch Gesundheit und Bildung seien die Themen, denen die stadtsoziologische Aufmerksamkeit zu gelten habe. Heute erscheint uns diese Vorstellung als unglaublich überholt: die großen Themen der Stadtforschung ranken sich im neuen Jahrtausend um Städtewettbewerb, Projektmanagement und die unternehmerische Stadt.
Was ist in diesen 15 Jahren passiert? Wo liegen die Gründe dafür, dass sich die Politik aus der Verantwortung für das Wohnungswesen großteils und den Wohnungsbau in vielen Staaten zur Gänze zurückgezogen hat? Warum bestimmten Fragen des kollektiven Konsums über Jahrzehnte die politische Agenda und traten dann abrupt in den Hintergrund? Dies erfordert eine historisch argumentierende Theorie. Wenn die Prozesse von Globalisierung und Lokalisierung und von nationalstaatlieber Umstrukturierung mit in den Blick kommen sollen, dann fordert dies die geografische Dimension ein. Die Regulationstheorie ist ein aus Frankreich kommender politökonomischer Zugang, der historisch und geografisch argumentiert. Sie ist deshalb am besten geeignet, die Dialektik von Wandel und Beharrung zu verstehen.
Von liberaler zu fordistischer Regulation...
Im Kern lautet die These der Regulationstheorie, dass die kapitalistische Entwicklung im 20. Jahrhundert durch einen Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Akkumulationsregime gekennzeichnet war. Das extensive Regime basierte auf der Durchsetzung von kapitalistischen Verhältnissen, wo diese bis dahin nicht vorhanden waren. Beispielsweise wurden aus Bauern Arbeiter. Das intensive Regime nutzte die menschliche Arbeitskraft intensiver, indem es die Bereitstellung des Massenkonsums und des kollektiven Konsums standardisierte und damit verbilligte. Vor allem Männer arbeiteten immer produktiver und erwirtschafteten eine immer größere Wertschöpfung. Über den männlichen Familienerhalter konnte der Großteil der Arbeiterschaft ansatzweise am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben. Abgestützt wurden diese Akkumulationsregime durch eine spezifische Regulation, d.h. durch Gesetze und Normen einerseits, durch bestimmte Lebensstile und routinisierte Handlungsabläufe andererseits. Die liberale Regulation, die in Wien bis zum Roten Wien der Zwischenkriegszeit vorherrschend war, hatte den Staat noch auf die Rolle beschränkt, Infrastruktur für die im Standortwettbewerb stehenden Unternehmen bereitzustellen: Gaswerke, Eisen- und Straßenbahn, Elektrizität waren für die städtische Entwicklung so wichtig, dass sie sogar von den Christlich-Sozialen kommunalisiert wurden. Es galt, billig zu produzieren, um bestmöglich exportieren zu können. Die fordistische Regulation, die lokal im Roten Wien und als Sozialpartnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend wurde, organisierte die Wirtschaft anders: Massenproduktion für den Massenkonsum im Behälterraum der Nation war die Grundlage des fordistischen Wirtschaftswunders. Der an die Arbeitskräfte gezahlte Lohn wurde in der Logik des Keynesianismus - der vorherrschenden wirtschaftspolitischen Doktrin - sowohl als Kostenfaktor wahrgenommen als auch als Einkommen, das konsumankurbelnd wirkt. Dem Sozialstaat kam die wichtige Aufgabe zu, die Lebenshaltungskosten der Arbeiterschaft durch ein breites Bündel an Sozialleistungen zu senken. In diesem »goldenen Zeitalter des Kapitalismus« wurde der Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit im Rahmen des Korporatismus (in Österreich der Sozialpartnerschaft) institutionalisiert, und auch zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Weltwirtschaft kam es zu einem gewissen Kompromiss, der zwar nicht in einer neuen Weltwirtschaftsordnung mündete, wohl aber in einem gewissen Respekt gegenüber der Souveränität der Staaten der Peripherie. Diese ist ohne Zweifel eine grandiose Errungenschaft der Arbeiterbewegung, die ohne die Diskreditierung der klassischen bürgerlichen Ideologien im Gefolge von Weltwirtschaftskrise und Faschismus kaum möglich gewesen wäre. In diesem historisch einmaligen fordistischen Kompromiss sahen Saunders und viele andere irreführenderweise eine historische Konstante der Stadt - und dies zu einem Zeitpunkt, wo die Demontage dieses Modells durch Thatcher voll im Gange war.
...und vice versa
Heute können wir sagen, dass das Entwicklungsmodell, das auf intensiver Akkumulation und fordistischer Regulation basierte, zerstört wurde. Der Pathos der Modernisierung, den diesem liberalen Siegeszug gegenwärtig anhaftet, ist aber mehr als deplatziert. Nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch-politisch orientiert sich das neue Entwicklungsmodell stark am Modell des 19. Jahrhunderts. Eine extensive Akkumulation und eine liberale Regulation stellt an den Staat altbekannte Herausforderungen: die Bereitstellung von Infrastruktur – für Donau-City, Prater, Milleniumstower oder welchem Immobilienprojekt auch immer – und damit die Subventionierung des lokal angesiedelten Kapitals in dessen Wettbewerb mit anderen Unternehmen aus anderen Räumen. Das sich gegenwärtig durchsetzende liberale Entwicklungsmodell ist stark durch das traditionelle liberale Gedankengut geprägt: der Wettbewerb solle nicht länger durch Kammer, Marktordnungen und nationale Grenzen behindert werden, die Freiheit der Märkte erhöhe die Effizienz des Gesamtsystems. Die arbeitsrechtliche Absicherung habe zur Privilegierung derjenigen geführt, die diese in Anspruch nehmen konnten. Der Sozialstaat genauso wie hohe Löhne bedeuten Kosten für die lokalen Unternehmen, was deren Wettbewerbsfähigkeit gefährde und damit die lokale Wirtschaftskraft untergrabe. Die Argumentation ist oftmals deckungsgleich mit derjenigen vor dem Ersten Weltkrieg und vor allem in der Zwischenkriegszeit.
Auch die Folgen des liberalen Modells ähneln denen des 19. Jahrhunderts. In einem zyklischen Prozess scheint sich die kapitalistische Entwicklung zurückzuentwickeln zu einem Modell erhöhter Macht- und Reichtumskonzentration, in dem die Privilegien der Besitzenden unverschämt durchgesetzt werden können. Die soziale Pyramide wird steiler, die sozialräumliche Polarisierung nimmt zu, Chancengleichheit wird zur Farce. Trotzdem wäre es irreführend zu glauben, das Alte erstehe wieder auf. Zu viel hat sich in der Zwischenzeit geändert – nicht zuletzt durch soziale Bewegungen und politischen Widerstand:
Der Wohlfahrtsstaat und die Demokratisierung des 20. Jahrhunderts lassen die neue liberale politische Ordnung einstweilen noch nicht in ihrer ganzen Brutalität erkennbar werden.
Um die drohende zukünftige Entwicklung erahnen zu können, müssen wir – in Umdrehung eines berühmten Spruchs von Karl Marx – in der Zukunft der unterentwickelten Länder unsere eigene Zukunft sehen. Was die EU Europa an Marktwirtschaft und Liberalisierung verordnet, ist zu guten Teilen schon vor Jahren in Lateinamerika umgesetzt worden. Die Reform des chilenischen Pensionssystems zu einem Wettbewerbs- und Marktmodell der Altersvorsorge ist Vorbild der Umstrukturierungen der Pensionssysteme Europas weg vom Umlage- und hin zum Kapitaldeckungsverfahren. Deregulierte Arbeitsmärkte und freie Lohnverhandlungen waren in der Regel Standard aller Arbeitsverhältnisse an der Peripherie der Weltwirtschaft. Und auch für die Privatisierung der Solidarität waren in Lateinamerika keine großen Veränderungen notwendig, da sich Sozialstaatlichkeit nur in Ansätzen durchsetzte.
Der Reichtumseffekt, d.h. der Umstand, dass Österreich zu den reichsten Staaten der Welt gehört, wird die desaströsen Effekte liberaler Regulierung, wie sie Lateinamerika gegenwärtig durchmacht, nicht zur Gänze durchschlagen lassen. Das extensive Akkumulationsregime wird geringere sozialräumliche Polarisierungen produzieren als in Lateinamerika, die liberale Regulationsweise wird nicht alle Elemente an Sozialstaatlichkeit zerstören. Aber es ist zu vermuten, dass die Umstrukturierungen nicht nur für Peter Saunders, sondern vor allem für die stabilitätsverwöhnten ÖsterreicherInnen des 20. Jahrhunderts so manche (negative) Überraschung parat haben wird. 50 Jahre Sozialpartnerschaft ließen hier bei uns den Glauben wachsen, diese sei die traditionelle Grundlage unserer Gesellschaft. Heute kann die Sozialpartnerschaft demontiert werden, weil sie nicht länger als Kompromiss sozialer Kämpfe, sondern als überalterte und nicht-zeitgemäße Struktur wahrgenommen wird. Die Paradoxie besteht aber gerade darin, dass nun in der historischen Schublade noch tiefer gegraben wird, um die gegenwärtige »Modernisierung« zu rechtfertigen. Im 18. Jahrhundert erfundene »unsichtbare Hände« dienen hierzu genauso wie zweifelhafte Rechenoperationen aus dem 19. Die Stronachs, Schalles, Randas und Prinzhorns lassen sich heute nicht mehr adeln, sie betrachten den Staat aber erneut als ihr Eigentum, das sie nach ihrem besten Wissen und Gewissen verwalten. Die liberale Regulierung des 21. Jahrhunderts wird, wie schon diejenige des 19. Jahrhunderts, begleitet vom Mief des Feudalen. Ein langer Atem wird nötig sein, dem Klassenkampf von oben, der Machtkonzentration und dem immer unverblümteren Bereicherungsstreben weniger, ein demokratisches Projekt entgegenzustellen, das die Teilhabe aller an Stadt, Staat und Gesellschaft ermöglicht.
Die kurzen Ausführungen haben hoffentlich das Potenzial einer politisch-ökonomischen Analyse aufgezeigt. Keine Theorie kann die gegenwärtige Konjunktur in Österreich, die konkrete Raum-Zeit, in der die Macht der Finanzmärkte, das Projekt eines Europas der Kommissäre und Konzerne mit blau-schwarzen und rot-schwarzen Machtspielen vor Ort zusammentrifft, besser erklären. Die Regulationstheorie erlaubt uns nämlich zu verstehen, dass die Stabilisierung des Kapitalismus ein historisch-geografisch prekäres und immer nur vorübergehend mögliches Unterfangen ist. Brüche sind vorprogrammiert. Die historisch-geografische Dynamik ist hierbei immer ein Zusammenspiel aus Akkumulation und Regulation, Politik und Ökonomie und von Beharrung und Veränderung.
Andreas Novy ist Leiter des Institute für Multi-Level Governance and Development und Teil des Foundational Economy Collective.