Heike Delitz

Heike Delitz ist Postdoc-Stipendiatin für Soziologie und Philosophie an der Otto Friedrichs Universität Bamberg.


Abriss Palast der Republik, Berlin, 2008, Foto: Franz Patzig
Abriss Palast der Republik, Berlin, 2008, Foto: Franz Patzig

Es gibt sicher viele soziologisch bemerkenswerte Phänomene der zeitgenössischen Architektur. Aber das nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftstheoretisch – nämlich nicht zuletzt im sozialen Bewegungspotenzial – auffälligste Phänomen der mitteleuropäischen, zumal bundesdeutschen Gegenwartsgesellschaft ist derzeit wohl die Rekonstruktion historischer Gebäude und Stadtkerne. Eine Welle der Rekonstruktion erobert die Herzen der Bevölkerung und wird von ihr initiiert, während sich die ArchitektInnen zuweilen geschlossen dagegen stellen. Scharfe Töne fallen hier wie da. Und während das Konfliktpotenzial offensichtlich nur in der bundesdeutschen Architektur derart immens ist, wird andernorts vergleichsweise unspektakulär rekonstruiert: in den osteuropäischen Gesellschaften etwa in Moskau (Wiedererrichtung der Erlöserkirche), Vilnius (Plan der Wiedererrichtung des jüdischen Viertels), im polnischen Elblag (großflächige Rekonstruktion der zerstörten Stadt). Es gibt Rekonstruktionsbegehren auch in Frankreich, den Plan, die Tuilerien wiederherzustellen. Restauriert, rekonstruiert, wiederaufgebaut werden dabei sicher vor allem Gebäude des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber auch die klassische Moderne hat ihre Rekonstruktionsprojekte – und ihre Dekonstruktionen, den Abbau vornehmlich, aber nicht nur der sozialistischen Ensembles. Beides ist aussagekräftig in Hinsicht auf das, was eine Gesellschaft für wertvoll erachtet: welches Gesicht und welche Geschichte sie sich gibt.

Überraschend sind wohl nicht die Phänomene der Re- und Dekonstruktion, sofern beide zunächst schlicht auf das soziale Bedürfnis eines „kollektiven Gedächtnisses“ verweisen. Jede Gesellschaft muss sich angesichts des ständigen Wandels der Einzelnen einen stabilen „Rahmen“ schaffen, sich mit „Häusern und Menschen beschweren“ (Halbwachs 2002, S. 15). Eher ist die Überraschung überraschend. Die Überraschung der Architektur durch die Rekonstruktionsbegehren und der Konflikt zwischen zeitgenössischer Architektur und dem Geschmack der Bevölkerung lässt sich sicher professionssoziologisch aufklären: aus dem Ethos einer auf das Neue konditionierten, autonom gewordenen Profession. Spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert geht es der Architektur darum, zeitgemäß zu bauen, auch wenn es stets erneut traditionalistische Gegenbewegungen gibt: Die Architektur wird zu einer avantgardistischen, das Kontingenzbewusstsein moderner Gesellschaften forcierenden Profession, in sozialtechnischer, die Gesellschaft optimierender Absicht. Was die „Retro-Fraktion“ hingegen vertritt, erscheint als Rückfall in vormoderne Zeiten, als Einschmeicheln in die „Volksmeinung“ – so etwa heißt es bei Falk Jaeger zum Humboldt-Forum in wettbewerbe aktuell. Ähnlich die Position des Bundes Deutscher Architekten: In der Rekonstruktion gehe es um das „Inszenieren von Ereignisräumen“ in einer „rückwärtsgewandte(n) Architektursprache“, die zur „Verfälschung unserer europäischen Stadtkultur“ führe. Denn die ArchitektInnen moderner Gesellschaften stehen als professionelle NeuererInnen, zu denen sie ausgebildet werden, auf der Seite des Vorstoßes in die Zukunft. In ihnen zeigt sich ein je neuer Zug der Zeit. Zu den bemerkenswerten Phänomenen der aktuellen Architektur gehört dann auch ihre zeitgenössische Formensprache – jene Entwurfsweise der Hadids, Gehrys, Libeskinds und Himmelb(l)aus, die sich in der Disziplin und unter den InvestorInnen als zunehmend resonanzfähig erweist, während sie andererseits (im Volk und auch bei vielen SoziologInnen) als bloße „Spektakelarchitektur“ gilt. Diese Architektur ist der Antiheld im Verlangen nach der „europäischen Stadt“. Sie ist zweifellos ein Distinktionsmedium; zweifellos geht es ihr um eine erneute Ablösung von der Geschichte, zweifellos um einen Stör-Akt. Architektursoziologisch aber ist aufschlussreich, weshalb sich die Gesellschaft gerade diese zeitgenössische Gestalt ihrer selbst wählt. Soziologisch dringt dann der Konflikt zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion, Architektur und Öffentlichkeit tiefer als bis zu Geschmacksfragen. Es zeigt sich darin mehr als das provozierende Geschäft, die Distinktionsleistung der Avantgarde. Die Frage ist, warum unsere Gesellschaft gerade jetzt auf gerade diese Gestalten ihrer selbst kommt.

Die Soziologie hat sich allerdings lange kaum für die Architektur interessiert, abgesehen von der marxistischen Funktionalismuskritik der 1960er/1970er Jahre. Insgesamt – in ihren Grundbegriffen und Grundproblemen – verstand und versteht die Soziologie das Soziale jenseits der Dinge, in einer „antiästhetischen und antitechnischen Haltung“ (Eßbach 2001). Sie konzipiert es als „Interaktion“ oder als „Kommunikation“, wobei dann unsere zeitgenössische Gesellschaft als durchgreifend medienvermittelt gilt: vermittelt durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (in der Systemtheorie) oder neue Medien (in jeder Theorie der „Medien“ oder „Informationsgesellschaft“). Demgegenüber entfaltet sich jüngst die Architektursoziologie mit einem gesellschaftsdiagnostischen Interesse.[1] Der Soziologie geht es nicht um die Frage der Architektur – dies hat die Architekturdisziplin selbst zu klären. Sie interessiert sich vielmehr für die Gesellschaft: für ihr historisches Gewordensein, ihre dominanten Vergesellschaftungsprinzipien, ihre Subjektformen. Soziologisch sind alle zeitgenössischen Bauten höchst interessant; sie sind gerade in ihrer Vielfalt und Kontrarität aussagekräftig in Hinsicht auf kollektive Begehren. Es ist also ein Aufklärungsdienst, den die Architektursoziologie leisten kann und mit dem sie sich selbst über die Trends der Gegenwartsgesellschaft unterrichtet.

Die Frage ist im Folgenden also nicht die Architektenfrage: pro oder contra Re- oder Dekonstruktion. Die Frage, die hier an Fällen der Re- bzw. Dekonstruktion in Frankfurt, Leipzig, Berlin und anderswo nur versuchsweise zu beantworten sein wird, ist vielmehr: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, angesichts dieser Architektur?

Kurzer Abriss der Beiträge

Joachim Fischer interpretiert die architektonische Rekonstruktion in vielen mitteleuropäischen Städten als eine soziale Bewegung nach 1989. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich 1989 eine Gesellschaftsrevolution ereignete, in deren Zuge die bürgerliche Gesellschaft nach ihrer Kontingenz- und Vernichtungserfahrung im 20. Jahrhundert sich neu entdeckt und durchzusetzen versucht. In den revolutionären Ereignissen der Bürgerbewegungen wurden inmitten der von sozialistischer Bauhaus-Architektur überformten Zentren die okzidentalen Städte (Max Weber) wieder entdeckt. Im architektonischen Rekonstruktivismus im Namen der europäischen Stadt sucht die bürgerliche Gesellschaft der Moderne sich in ihrem Ursprung darzustellen und zu stabilisieren. Durchgespielt wird das am Fall Berlin, von der Wiederbebauung des Potsdamer Platzes über den Schlossbau bis hin zum Rekonstruktionsprojekt der bürgerlichen Mitte zwischen Alexanderplatz und Schloss.

Ralph Richter und Thomas Schmidt-Lux beleuchten den Neubau des Paulinerforums in Leipzig, der in zwei Hinsichten bemerkenswert ist. Einerseits handelt es sich um eine bauliche Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Religion – ein Streit, der die Moderne insgesamt betrifft und architektonisch offenbar nur hier, in Leipzig, aufbricht. Zum anderen geht es hier nicht um eine treue Rekonstruktion, sondern um einen Zwitter zwischen skultpuralem Außen und gotisierendem Innen. Oliver Schmidtke und Markus Dauss interessieren sich für zwei konträre Projekte in Frankfurt/Main: für die Idee der Rekonstruktion der mittelalterlichen Innenstadt und für den Hochhaus-Streit um Zürich-Haus und Opernturm. In Hinsicht auf die aktuelle moderne Gesellschaft erlauben beide Projekte, die kollektiven Begehren zu erahnen, die in uns stecken. Im ersten Dekonstruktionsbeitrag hingegen diskutiert Silke Steets den Abbau eines Ensembles der sozialistischen Architekturmoderne, des Brühls in Leipzig zwischen Hauptbahnhof und bürgerlicher Innenstadt. Der Abriss in einer zu DDR-Zeiten privilegierten Wohnlage lässt, offensichtlich ohne Idee und Not vollzogen, in die Leipziger Lokalgesellschaft blicken – ebenso in ihre politische wie in ihre ökonomische Funktionsweise, entlang der These der Eigenlogik der Städte (Berking/Löw 2008). Im Beitrag von Heike Delitz geht es schließlich um die dekonstruktive Architektur: auch um eine Art Zerstörung, aber eher in einem immateriellen Sinn; um die Parasiten des Städtebaus, die sich in die moderne resp. restaurierte „europäische Stadt“ einschleichen. Es ist zu fragen, was sich hier für eine Gesellschaft erschafft; warum sich die aktuelle Gesellschaft gerade diese Architektur als ihre zeitgenössische wählt; wohin uns die Architektur zieht.

Fußnoten


  1. vgl. Schäfers 2006; Fischer/Delitz 2009; Delitz 2009. Siehe auch die Aktivitäten der Arbeitsgemein­schaft „Architektursoziologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (http://www.architektur-soziologie.de) oder das 2010 erscheinende Themenheft von Espaces et Sociétés: Sociologie et architecture: matériau pour une comparaison européenne. ↩︎


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Literaturliste

Berking, Helmuth & Löw, Martina (Hg.) (2008): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/M.: Campus.
Eßbach, Wolfgang (2001): Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie. In: Andreas Lösch u. a. (Hg.): Technologien als Diskurse. Heidelberg: Synchron, S. 123-136.
Delitz, Heike (2009): Architektursoziologie. Reihe Einsichten. Themen der Soziologie. Bielefeld: transcript.
Fischer, Joachim & Delitz, Heike (Hg.) (2009): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld: transcript.
Halbwachs, Maurice (2002 [1938]): Soziologie, Demographie und Morphologie. In: Ders., Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften 4. Konstanz: UVK, S. 11-22.
Schäfers, Bernhard (2006 [2003]): Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen, Wiesbaden: VS.