Antonia Ramirez


Wenige Wochen nachdem ich Anfang Oktober 1988 wegen eines Studienstipendiums aus dem Dschungel Kolumbiens nach Wien zog, einer mir bis dahin unbekannten Stadt in einem Land, das in Südamerika den Ruf eines zivilisierten und friedlichen Landes genießt, wo die Menschen besonders freundlich und wohlerzogen sind, fand die Premiere von »Heldenplatz« von Thomas Bernhard im Wiener Burgtheater statt. Die Außerirdische in mir glaubte auf einem anderen Koordinatensystem gelandet zu sein. Um mich herum sah ich nur die verschlafene, langsame und ruhige Stadt mit ihren verschlossenen und unfreundlichen Bewohnerinnen (eine Oase für jemanden aus dem (vor- und über-)lauten, gewalttätigen Kolumbien, wo schnellsprechende Lateinamerikanerinnen schon seit Generationen unter Realitätsverlust leiden und sich inbrünstig weigern, das zu akzeptieren, was in Mitteleuropa eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich dass es unüberbrückbare Barrieren zwischen Menschen gibt und dass frau dagegen nichts machen kann). Wenn frau aber die Zeitungen las (und die las ich eifrig, nicht nur um die Sprache schneller zu beherrschen, sondern auch um mein Gastland besser zu verstehen), glaubte ich in einer von rachsüchtigen, landesfeindlichen Heimatschänderinnen belagerten Stadt zu leben. Auszüge aus dem Text von »Heldenplatz« wurden in den Zeitungen meistens mit hasserfülltem Entsetzen (rechtsextrem, rechts, Mitte links), aber auch mit böswilliger und hämischer Schadenfreude (eindeutig links) ausführlich zitiert. Es war die totale Hysterie, wo ich doch nur die Insel der Seligen um mich herum wahrnehmen konnte!!! Und alles nur wegen eines Theaterstückes!!! Ich war so integriert, dass ich an einem Vormittag ab den frühen Morgenstunden vor dem Burgtheater lange Zeit Schlange stand, um einen Nummernzettel zu ergattern, der mir dann die Berechtigung gab, am Premierenabend nochmals Schlange zu stehen, um zu versuchen, eine Stehplatzkarte zu bekommen. Ich habe es geschafft und war bei der Premiere dabei. Schon diese meine erste Konfrontation mit der österreichischen Dissonanz hatte schwerwiegende Folgen bei mir. Erstens verfiel ich der Übertreibungskunst Bernhards (für mich DER österreichische Schriftsteller der Nachkriegszeit), der immer aus Konsequenz gegenüber seinen eigenen Grenzen das gleiche Buch über den Menschenhass schrieb (frau muss vielleicht gebürtige Österreicherin sein, um mit aller Konsequenz zu verstehen, dass es sein könnte, dass Misanthropie das reinste, ehrlichste und wahrste Gefühl gegenüber unserer Spezies ist). Weiters verstand ich, dass der Ausdruck »es ist NUR ein Theaterstück« nicht zulässig ist. Wenigstens wenn frau in Österreich lebt.
Bei der Premiere vom Heldenplatz fing ich an, zu verstehen, dass es wohl Länder gibt, wo »Kultur« vielleicht zum allgemeinen Wohlbefinden, zur Erbauung und/oder Zerstreuung »produziert«, »konsumiert« und »genossen« wird (Stichwörter: »Entertainment« und sonstige Produkte der »cultural industries« in der amerikanisierten, profitorientierten Kulturwelt) und wo natürlich auch ein bisschen Selbstkritik nicht fehlen darf (Stichwörter »Bildungsbürgertum«, »Kultur der sozialdemokratischen Betroffenheit« des ach so alten, feinen und gerechten Europa). Aber ich fühlte damals im Schockzustand, dass es auch Länder wie Österreich gibt, wo »Kultur« vom durchschnittlichen »Kulturkonsumenten« noch mit einer außerordentlichen Intensität »erlebt«, »bekämpft« und »erlitten« wird, weil es in diesen Ländern ein gesellschaftliches Klima gibt, in dem seltsamerweise Kulturschaffende Gehör finden, die sich trauen, in einer (im Falle Österreichs eigentlich für das völkisch-österreichische Naturell fremden) intellektuellen Radikalität die Dekonstruktion, die destruktive Selbstzerfleischung des eigenen Ichs (inklusive der eigenen nationalen Identität) in einer unüblichen Grenzenlosigkeit darzustellen. Ein angelsächsisches Publikum würde zum Beispiel nicht so leicht in die Falle eines Bernhard oder einer Jelinek hineingeraten. Es ist eine unverständliche Dissonanz, dass eine zutiefst konservative und teilweise reaktionäre Gesellschaft wie die österreichische solche radikalen Künstler emporhebt (um sie dann konsequent zu ihrer innigsten, primären Natur auszustoßen, muss frau aber hinzufügen).
Ist diese künstlerische Radikalität Österreichs (schon eklatant seit Ende des 19. Jahrhunderts) die Gegenreaktion zum allgemeinen Konservativismus? Es gibt auch andere, teilweise sogar konservativere mitteleuropäische Gesellschaften (Bayern, Ungarn, Polen), die nicht imstande sind, so eine leidenschaftliche Kulturhysterie zu inszenieren, wo die Kulturinteressierten fast eine Stunde lang nach dem Ende des Stückes noch im Theater bleiben und sich mit Buh- oder Bravo-Rufen bekämpfen, als ob es ihnen ums Leben ginge (wie damals, als Bernhard und Peymann auf der Bühne standen und ich mir elektrisiert dachte : »Ich mag dieses verrückte Land«, »Dieses Österreich ist ein Wahnsinn«, »Toll, dass ich hier bin«.
Ein Überbleibsel des katholischen Barock, der Gegenreformation vielleicht? Auch nicht, denn sogar in Italien geht es in den Theatern eher nüchtern zu, und eine Sendung wie »Kunststücke« würde im kunstverliebten, noch barocken Italien nie den TV-Kultstatus erreichen wie in diesem Land, wo die Orte der schönen Künste (Kunstgalerien, Theater, Opernhäuser, Ausstellungen, Programmkinos) sich von Montag bis Sonntag regen Besuches im einem Ausmaß erfreuen, das für europäische Verhältnisse eine Ausnahmeerscheinung ist.
Laut allgemeiner Sprachregelung in Österreich heißt es, dass das österreichische Kulturleben so interessant ist, weil der politische Kampf aufgrund der politischen Blockade und des Konsenszwanges in der Kunstarena ausgetragen wird. Das ist meiner Meinung nach nur teilweise zutreffend. Bernhard ließe frau politisch ausnutzen. Dass ein Handke sich traut, das Land der Täter (Serbien) ins Poetische umzuinterpretieren, mag (im Anti-NATO-Sinne) etwas politisch sein. Dass eine Jelinek die Sprache österreichisch vergewaltigt, um sie in einem neuen Glanz erscheinen zu lassen, und dass vor allem das Mittel zum Zweck, die Vergewaltigung, goutiert wird, ist etwas, das eher als österreichisches Spezifikum anzusehen wäre.
Wenn frau in Wien von einer Putzfrau hört, die ein Abonnement bei der Volksoper hat, denkt frau sich nichts dabei. Im kulturarmen Madrid, im chauvinistischen und pseudointellektuellen Paris oder im klassenbewussten London würde dieser Umstand Bewunderung und Staunen erwecken. Ganz zu schweigen von armen Ländern wie zum Beispiel Macho-Kolumbien, wo Kultur und das Schöngeistige bekanntlich etwas für faule Reiche und komische Geisteswissenschaftler sind (allesamt im Verdacht stehend, schwul zu sein). Natürlich versteht niemand in Europa, wieso ausgerechnet ein Land, wo Kunst und Kultur »Chefsache« sind, das erste Land Westeuropas mit einer rechtsextremen, kunstfeindlichen Partei in der Regierung geworden ist. Als Erklärungshilfe wird dann natürlich en passant in den Kanzleien und in den Medien erwähnt, dass viele Nazi-Funktionäre damals auch belesene Kunst-Connoisseurs waren. Denn Wien (und Österreich) ist anders. Die Dissonanz ist zu akut, zu unbegreiflich für Normalsterbliche.
An Österreich gibt es für eine außerirdische kolumbianische Gastarbeiterin sehr vieles anzuschwärzen. Wenn ich aber an die Putzfrauen mit Volksoper-Abonnement denke, muss ich mich beherrschen, um nicht sofort den Antrag auf die nie gewollte österreichische Staatsbürgerschaft auszufüllen. In vergleichbaren zivilisierteren Ländern wie der Schweiz oder Schweden mögen internationale Konzerne ihren Ausgangspunkt haben. Der Paria Österreich hat stattdessen Bernhards, Handkes und Jelineks (aber intelligenterweise auch noch dazu eine hochprofitable Zuliefererindustrie, die letztendlich einen genau so hohen Lebensstandard ermöglicht) und bleibt ein Land der Extreme, wo die politische Unkultur sich mit einem für mein Empfinden äußerst lebendigen Kulturleben paart. Es ist zum Beispiel für die österreichische Nachkriegsliteratur bezeichnend, dass sie sich über die Grenzen der sprachlichen und inhaltlichen Konventionen wagt und Mut zur bedingungslosen, marktuntauglichen Negativität hat.
Wieder mit österreichischem Strom aus fremden Atomkraftwerken elektrisiert, kam ich vor kurzem nach der »Klavierspielerin«« von Haneke aus dem Kino. Österreich ist für Ausländerinnen wie mich das jahrelange Zusehen, wie die Ewiggestrigen mit uns als Schießscheibe immer mehr Terrain zurückgewinnen. Aber Österreich ist auch die Linie, die sich von Bernhard/Peymann bis (jetzt) Jelinek/Haneke zieht. Es ist der Leitfaden des geistigen Ausnahmezustandes einer großen »Kulturnation« wie der österreichischen, die den Namen Kulturnation wie kaum eine andere verdient.
Es ist für mich erfreulich, dass ich unter dem »Schmerz an Österreich« nicht leiden muss, den die ungute Hälfte der österreichischen Bevölkerung der anderen bereitet. Ausländerin zu sein hat bekanntlich auch Vorteile, weil frau sich nicht unbedingt mit den Missständen im Land identifizieren muss. Österreich tut mir als Ausländerin woanders weh, aber ich bin froh, dass mir die Bürde der Auseinandersetzung der inländischen Mitbürgerinnen mit der eigenen, problematischen, nationalen Identität erspart bleibt. Manchmal frage ich mich wie die sensiblen und zivilisierten Österreicherinnen es schaffen, nicht an der widerlichen Falschheit und der süßen Niedertracht auf der Kehrseite des Österreichischen unterzugehen. Frau weiß, dass viele solche Österreicherinnen ihre Liebe für das eigene Land aufgeben und es sogar hassen. Die meisten aber bleiben auch in Zeiten der politischen Unkultur des Populismus und des Rechtsextremismus dem österreichischen Spezifikum als einmalige, europäische Kultur der Grenzüberschreitung verbunden und lernen ihr Glück schätzen, in so einem Land wie Österreich zu leben. Die einmalige österreichische Kultur kann also einer der möglichen Rettungsanker gegen Skepsis und Missfallen gegenüber Österreich für nicht nur schwere, sondern auch leichte Therapiefälle sein. Österreicherinnen und inländerfeindliche Ausländerinnen, die Österreich hassen, sollten meiner Meinung nach öfter ins Theater gehen, mehr österreichische Weltliteratur lesen und sich über den Stellenwert der österreichischen Künstler in der Kulturgeschichte Europas näher informieren. Sie würden sehen, dass es Teil des verhassten österreichischen Dasein ist, sich gegen das Leichte und Gängige zu wehren und dass im Vergleich zur allgemeinen (auch in Österreich gegebenen) Hollywoodisierung, und Walt-Disneyfizierung der globalisierten Kultur immer ein Substrat in der österreichischen Kultur intakt bleiben wird, das im Sinne der weiteren Erforschung der menschlichen Seele eine radikale Grenzüberschreitung mit Mut zur Negation und Negativität wagen und sich der markttauglichen Zähmung der Extreme zum Zweck ertragsreicheren Massenkonsums und größerer Profitsteigerung verschließen wird. Darauf darf frau österreichisch stolz sein.


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