Revolution oder »Schöner Wohnen«
Der Häuserkampf in den 1970ern und `80ern war in Deutschland eines der wichtigsten Betätigungsfelder der linksradikalen Bewegung. Anders als in Österreich gelang es in vielen Städten allen voran Frankfurt, Hamburg und Berlin über einen relativ langen Zeitraum zahlreiche Häuser zu besetzen. Mit der zunehmenden Repression zerfiel die Bewegung in solche deren Ziel ein alternativer Lebensstil war und andere die Hausbesetzungen nur als einen Aspekt ihres politischen Tätigkeit sahen.
Der Häuserkampf in den 1970ern und `80ern war in Deutschland eines der wichtigsten Betätigungsfelder der linksradikalen Bewegung. Anders als in Österreich gelang es in vielen Städten allen voran Frankfurt, Hamburg und Berlin über einen relativ langen Zeitraum zahlreiche Häuser zu besetzen. Mit der zunehmenden Repression zerfiel die Bewegung in solche deren Ziel ein alternativer Lebensstil war und andere die Hausbesetzungen nur als einen Aspekt ihres politischen Tätigkeit sahen.
Die Häuserkämpfe in den 1970er Jahren
Bereits 1970 organisierten AktivistInnen des antiautoritären Flügels der Studierendenbewegung erste demonstrative Hausbesetzungen u. a. in München, Köln, Frankfurt, Göttingen und Hamburg. Für die linksradikalen Betriebsprojektgruppen aus dem WWA-Zusammenhang[1] bot sich das Mittel der Hausbesetzungen aus mehreren Gründen als Kampfform an: Einerseits ließ sich damit der »proletarische Lebenszusammenhang« mit einer politischen Praxis thematisieren, andererseits konnten damit die Mobilisierungsschwierigkeiten aus den Betriebskämpfen zunächst überwunden werden. Ausgehend von der Annahme, dass immer größere Bereiche der Gesellschaft der Kontrolle des Kapitals unterstellt werden – dabei illustrierte der damals von den WWA-Gruppen benutzte Begriff der »Wohnfabrik« die Ausdehnung des Kapitalkommandos auf die Gesellschaft – werden Wohnheimagitationen, Mietstreikbewegungen und Häuserkämpfe zu Kristallisationspunkten des antikapitalistischen Kampfes in der Reproduktionssphäre:
Häuser besetzen bedeutet, den kapitalistischen Plan in den Vierteln zu zerstören. Bedeutet, keine Miete zu zahlen, bedeutet, die kapitalistische Schuhkartonstruktur aufzuheben. Bedeutet, Kommunen und Zentren zu bilden, bedeutet, das gesellschaftliche Leben des Stadtteils zu reorganisieren, bedeutet, die Ohnmacht zu überwinden. Im Besetzen der Häuser und in Mietstreiks liegt der Angelpunkt für den Kampf gegen das Kapital außerhalb der Fabriken« (Proletarische Front in WWA Nr. 4, Mai 1973).
Die WWA-Gruppen gingen davon aus, der kapitalistischen Aufteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit im Häuserkampf das Bedürfnis der proletarischen Massen nach Kollektivität gegenüberstellen zu können. Dabei wollten sie mit der Form der Häuserkämpfe in zugespitzter Weise eine Einheit zwischen den Interessen von Studierenden und Arbeitenden (Lebenszusammenhänge, Kommunikationsstrukturen) gegen einen gemeinsamen Gegner herstellen. Dies sollte zugleich noch mit der wechselseitigen Erfahrung von Staatsgewalt und Militanz verbunden werden. Diesem anspruchsvollen theoretischen Ansatz stand aber die Realität der Häuserkämpfe zu Beginn der 1970er-Jahre gegenüber. Ihre wesentlichste Zuspitzung erhielten diese Kämpfe in den sozialdemokratisch regierten Metropolen Frankfurt und Hamburg. Die Hausbesetzungen stießen dort zum Teil in relative politische Freiräume, die der bürgerliche Staat gewähren musste, da er in diesen Städten mit einem reformistischen Anspruch auftrat. So hatte es die HausbesetzerInnenbewegung in Frankfurt mit einer »linken SPD« zu tun, die ebenfalls den Kampf gegen die Bodenspekulation auf ihre Fahnen geschrieben hatte.
In Frankfurt entwickelte sich so etwas wie eine breite soziale Bewegung, während in Hamburg mit der Hausbesetzung in der Eckhoffstraße eine politische Zuspitzung des Kampfes stattfand, die zu einer folgenreichen Niederlage der radikalen Linken in der Stadt wurde. Die Debatten gingen zum Teil weit über die unmittelbare Praxis des Aneignens von leerstehendem Wohnraum hinaus. Sie erhielten für die darauf folgenden Jahre eine strategische Qualität für die Diskussionen über eine linksradikale Politik in der Bundesrepublik. Die Häuserkämpfe der 1970er-Jahre zeigten auf, dass es auch in dem Reproduktionsbereich möglich war, neue radikale Kampfformen zu entwickeln, die trotz ihres bewussten Durchbrechens von legalistischen Politikformen zu teilweise breiten Solidarisierungen innerhalb der Bevölkerung führten.
Der Frankfurter Häuserkampf
Ende der 1960er-Jahre wurden von den Großbanken in Frankfurt Konzepte einer Umstrukturierung der Stadt in eine Banken- und Dienstleistungsmetropole entworfen. Die Banken entschlossen sich, in das zur City verkehrsgünstig gelegene Westend-Viertel zu expandieren. Die Sanierung dieses ehemaligen Quartiers der Frankfurter Bourgeoisie erfolgte in mehreren Schritten. Mit Hilfe von SpekulantInnen wurden ganze Grundstückskomplexe aufgekauft, im zweiten Schritt erfolgte die Einquartierung von MigrantInnen in die Häuser. Dieser Prozess beschleunigte die Abwanderung der eingesessenen bürgerlichen Westend-BewohnerInnen und ermöglichte riesige Profite durch Wuchermieten. Zugleich kam es teilweise zu einer katastrophalen Überbelegung ganzer Straßenzüge. Die Situation wurde noch durch spekulativen Leerstand von Häusern verschärft. Zudem war es für Leute aus der StudentInnenszene in Frankfurt so gut wie unmöglich, große Räume für Wohngemeinschaften zu mieten.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den Jahren Ende 1970 bis Anfang 1974 der Frankfurter Häuserkampf, der in der sozialen Zusammensetzung seiner TrägerInnen für die Herrschenden geraume Zeit ein brisantes Gemisch bedeutete. Die Initiativen des Häuserkampfs wurden von dem sich antiautoritär verstehenden Teil der StudentInnenbewegung getragen, der schon zu Zeiten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt bundesweit eine seiner Hochburgen hatte. Aus dem Zerfall des SDS war in dieser Stadt eine zahlenmäßig starke Spontifraktion hervorgegangen. Sie arbeiteten u. a. mit MigrantInnen zusammen, die zum Teil vorher bei der linksradikalen Lotta Continua mitgearbeitet hatten. Zwischen Frühjahr 1972 und Frühjahr 1973 verbanden sich die Mietstreiks, die vorwiegend von türkischen und italienischen MigrantInnen getragen wurden, mit den Hausbesetzungen der Spontiszene. Allerdings entstanden in der konkreten Zusammenarbeit Probleme: Einer mangelnden politischen Autonomie auf der Seite der Mietstreikenden stand auf Spontiseite eine teilweise »SozialarbeiterInnen- und JuristInnenmentalität« gegenüber, die lediglich dazu führte, sich gegenseitig zu funktionalisieren, anstatt den Prozess der Selbstorganisation in den laufenden Auseinandersetzungen voranzutreiben.
In den Jahren 1971 bis 1974 gelang es der Frankfurter Spontiszene, mit dem Revolutionären Kampf als wichtigster Gruppe, durch eine Verbindung der verschiedensten Aktionen, Besetzungen und Demonstrationen den öffentlichen Ausdruck und die Dynamik des Häuserkampfes zu bestimmen. Insbesondere in dem Gebrauch der Militanz in diesen Kämpfen kommen ihre widersprüchlichen Seiten zum Ausdruck: Während der ersten größeren Straßenschlacht Ende September 1971 bei einem gescheiterten Besetzungsversuch kam es zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den HausbesetzerInnen. Der Erfolg konnte von der Bewegung in der Folge durch eine steigende Anzahl von Mietstreiks und Hausbesetzungen genutzt werden. Der Frankfurter SPD-Magistrat konnte so zunächst dazu gezwungen werden, seine ursprüngliche Verfügung, alle besetzten Häuser sofort räumen zu lassen, zu revidieren.
Nachdem die Mietstreikbewegung der MigrantInnen im Frühjahr 1973 zum Erliegen kam, konzentrierten sich die Diskussionen der Bewegung um die Verteidigung der besetzten Häuser und den militanten Schutz von Massendemos. Bei der drohenden Räumung des Kettenhofweges im Frühjahr 1973 beschlossen die Spontis, in die politische Offensive zu gehen. Darauf erfolgte ein brutaler und in der Öffentlichkeit als überhart empfundener Polizeieinsatz, der in der Frankfurter Innenstadt mehrere Straßenschlachten auslöste. Aufgrund der breit getragenen Solidarität und der Entschlossenheit zur militanten Verteidigung des besetzten Hauses im Kettenhofweg konnten mehrere Räumungsversuche der Polizei zunächst abgewehrt werden. In den Auseinandersetzungen drückte sich eine gelungene Verbindung von einer propagandistischen Massenarbeit mit einer Massenmilitanz aus, die sich nicht als Selbstzweck von den Inhalten des Kampfes ablöste. In der bürgerlichen Presse las sich das so:
»Inmitten der Großstädte entstehen Bürgerkriegsnester ... Es ist nicht auszuschließen, dass sich nach dem Frankfurter Beispiel inmitten der Großstädte eine Art Nebenregierung bildet, gestern Uni-Räte, heute die Häuserräte, morgen vielleicht die ,Räte der besetzten Fabriken‘« (Frankfurter Neue Presse, April 1973).
Aufgrund der bei der Räumung des Kettenhofweges erlebten Polizeibrutalität konzentrierten sich die Überlegungen der Frankfurter Spontis in der Folgezeit auf die Organisierung eines militanten Schutzes von Massendemos. Es entstand die so genannte Putzgruppe, die ein Ausdruck einer zu damaliger Zeit breit geführten Diskussion über die Probleme der Militanz und der organisierten Gegengewalt war. Die Debatte wurde dabei stets organisatorisch und politisch in die Bewegung zurückvermittelt, was vermutlich einer der Gründe dafür war, dass eine Kriminalisierung der Militanten zu jenem Zeitpunkt nicht stattfand.
Nach der Kettenhofweg-Räumung setzte allerdings auch eine weit gehende defensive Fixierung auf die Verteidigung des »Blocks« (Bockenheimer Landstr./Schumannstr.) auf Fragen der »militärischen Verteidigung« ein, die die Diskussionen um eine inhaltliche Ausweitung der Bewegung in den Hintergrund drängte. Zum Teil war das auf die praktische Erschöpfung vieler BewegungsaktivistInnen aufgrund der permanenten Repression zurückzuführen. Auf der anderen Seite schlugen in dieser Zeit bestimmte interne Führungsstrukturen des Revolutionären Kampfes auf den weiteren Kurs der Bewegung zurück. Der »Block« wurde schließlich von 2.500 PolizistInnen Anfang Februar 1974 in einem Überraschungsüberfall geräumt und sofort durch Bagger in Schutt gelegt. Auch die am 23. Februar nachfolgende Putzdemo mit 10.000 Leuten, die zu den heftigsten Straßenschlachten in Frankfurt in den 1970er-Jahren führte, änderte an dem Erfolg des Frankfurter SPD-Magistrats nichts mehr. Nach der Räumung des »Blocks« war die Bewegung in Frankfurt weit gehend am Ende. (...)
Die Hausbesetzerbewegung in West-Berlin 1980-83
Um die Jahreswende 1980/81 boomte quer durch die Republik eine neue Hausbesetzungswelle. Zentrum wurde West-Berlin, wo zeitweilig über 160 Häuser besetzt werden konnten. Dort fanden die Besetzungen vor dem Hintergrund einer jahrelangen Arbeit der verschiedensten Stadtteil-Initiativen und MieterInnenorganisationen gegen Wohnungsspekulation, Leerstand und Kiezkahlschlagpolitik statt.
Bereits seit 1979 wurden vereinzelt Häuser von der Bürgerinitiative SO 36 und Mieterorganisationen »instandbesetzt«.
Nach dem Versuch der Polizei, im Dezember 1980 eine Hausbesetzung zu verhindern, kam es zur so genannten 12.12.- Randale, durch die die Bewegung einen enormen Schub bekam. Erstmals beteiligten sich auch viele Nicht-BesetzerInnen an den Auseinandersetzungen; die harte Repression gegen die Bewegung führte zu einer breiten Solidarisierungswelle in der Stadt. Die Bewegung stellte ultimativ die Forderung auf, sofort alle gefangenen HausbesetzerInnen freizulassen, sonst würden Weihnachten »nicht nur die Weihnachtsbäume brennen«. In einigen besetzten Häusern in Neukölln und Kreuzberg tauchten zu diesem Zeitpunkt erste Visionen von »autonomen Republiken« auf.
Die danach folgende Welle von Hausbesetzungen wurde durch den sich bereits abzeichnenden Legitimationszerfall des damaligen SPD/F.D.P.-Senats aufgrund von Korruption und Bauskandalen erleichtert. Zudem eröffnete sich für die Bewegung durch das politisch-juristische Vakuum staatlicher und privater Bauplanungen in einer Reihe von Altstadtquartieren, insbesondere in Kreuzberg und Schöneberg, ein relativer Freiraum für ihre Aktionen. Nach den Ereignissen am 12.12.1980 kam es zu einem sprunghaften Wachsen der Bewegung, das bis zum September 1981 andauerte. Unter der Parole »legal illegal scheißegal!« lebten rund 3.000 Menschen in den besetzten Häusern, die weite Teile ihres alltäglichen Lebens kollektiv und selbst organisierten. Spektakuläre Höhepunkte waren eine Reihe von Massendemos, wie z. B. Ende Juni die »Amnestiedemo« zum Rathaus Schöneberg oder im Juli die »Grunewalddemo« direkt zu den Privatwohnhäusern der SpekulantInnen. Bei der ersten Demo kam es zu einer Straßenschlacht, in deren Verlauf ein Supermarkt geplündert wurde. Die bürgerlichen Tageszeitungen sprachen danach von einem regelrechten »Aufstand« und lancierten Meldungen über einen bevorstehenden Einsatz alliierter Sicherheitskräfte zur »Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der Stadt« (vgl. Berliner Morgenpost, 5.7.1981).
Der Einschüchterung durch die polizeiliche Repression setzte die Bewegung die Fähigkeit entgegen, dezentral in kleinen Gruppen in der gesamten Stadt zu agieren. Unter dem Motto »Euch die Macht uns die Nacht!« gelang es beispielsweise als Reaktion auf ein drakonisches Gerichtsurteil gegen einen Hausbesetzer, in zwei Nächten die Schlösser von 40 Bankfilialen zuzukleben und 70 Banken zu entglasen. Der immensen staatlichen Repression konnte die Bewegung zu diesem Zeitpunkt immer wieder die Fähigkeit zu Gegenschlägen in Form von überraschenden Scherbendemos auf dem Kurfürstendamm entgegensetzen. Die dabei in Millionenhöhe angerichteten Schäden veranlassten dann auch die Springer-Journaille in der Mauerstadt zu wutschnaubenden »Berlin kocht vor Wut« Titelschlagzeilen. Die Bewegung war aber auch ein fruchtbarer Mobilisierungsboden für andere Themen. Nicht zuletzt wegen der Betroffenheit über die staatliche Repression nahmen an einer Demonstration zur Unterstützung des Hungerstreiks der RAF-Gefangenen im März 1981 10.000 Menschen teil.
Der Beginn und der quantitative Boom der BesetzerInnenbewegung in West-Berlin war zunächst noch relativ »theorielos«, was jedoch nicht bedeutet, dass keine politischen Vorstellungen existierten. Die Besetzungen wurden von Leuten aus der undogmatisch linken Alternativszene getragen, die zum Teil vorher in Anti-AKW-, Studierenden- und Knastgruppen gearbeitet hatten. Nach den ersten Rückschlägen durch staatliche Repression polarisierten sich innerhalb der Bewegung zwei Fraktionen an der Frage »verhandeln oder nicht verhandeln«. Lange Zeit war das stärkste Argument der NichtverhandlerInnenfraktion die staatliche Repression, die zu einer Welle von Haftbefehlen und zum Teil hohen Gefängnisstrafen gegen HausbesetzerInnen wegen unterstellten »Landfriedensbrüchen« auf Demonstrationen führte. Dagegen wurde die Forderung nach sofortiger Freilassung aller Gefangenen erhoben, bevor Verhandlungen mit staatlichen Stellen geführt werden sollten. Demgegenüber setzte die VerhandlerInnenfraktion auf die Sicherung und Legalisierung des bisher von ihr erreichten Niveaus von »Instandbesetzung«. In diesem Zusammenhang tauchten in der Presse erste Bilder von alternativ instandbesetzten »Schöner Wohnen«-Häusern auf, die gegenüber der bürgerlichen Medienöffentlichkeit die Friedfertigkeit und die Kreativität der HausbesetzerInnenbewegung herausstellen sollten.
Die Autonomievorstellungen im West-Berliner Häuserkampf
Die Linien und Diskussionen innerhalb der NichtverhandlerInnenfraktion, aus denen die West-Berliner Autonomen hervorgegangen sind, fanden ihren schriftlichen Ausdruck in der monatlich erscheinenden Zeitschrift Radikal.
So heißt es beispielsweise in der Radikal- Ausgabe 123/83: »Autonomie war ein Begriff, der sozusagen über Nacht unsere Revolte auf einen Nenner brachte. Mitgebracht aus Italien und in den Autonomiethesen der Szene nahe gebracht, repräsentierte er bald alles, was uns gut und heilig war, oder noch ist. Vorher verstanden wir uns als Anarchisten, Spontis, Kommunisten oder hatten diffuse, individuelle Vorstellungen von befreitem Leben. Dann wurden wir alle zu Autonomen.«
Allerdings drückte sich in der Radikal- Debatte um den Begriff der »Autonomie« zugleich ein inhaltlicher Bruch zu den unsichtbaren autonomistischen VorläuferInnen aus der Studentenrevolte '68 aus. In der Radikal- Ausgabe Nr. 98 vom September 1981 ist zu lesen: »Der hilfesuchende Blick auf Italiens Autonomia konnte unsere Identitätsprobleme auch nicht lösen.«
In dieser Ausgabe der Radikal definieren Teile der sich autonom verstehenden GenossInnen »Autonomie« als etwas, bei der es darauf ankomme, »... hier und jetzt andere Lebensformen zu praktizieren. Die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft stellt für uns keine Perspektive dar; eine andere Zukunft die einer befreiten Gesellschaft wird es nicht geben, wenn wir nicht bereits im Bestehenden durch einen kulturrevolutionären Prozess unser Unbehagen und unsere destruktive Kraft in eine neue Bedürfnisstruktur und neue Verhaltensweisen zueinander transformieren.« Es gehe darum, »sich der Arbeit weit gehend zu entziehen«, da sie keinen Zusammenhang darstelle, in dem man sich kennen gelernt habe. Die Basis des eigenen Kampfes sei die »Subkultur«.
Diese auch innerhalb der West-Berliner Autonomen heftig umstrittene Begriffsdefinition zeigt auf, wie weit sie sich von dem ursprünglich vertretenen Autonomieansatz des kollektiven Kampfes gegen die Lohnarbeit als politischen und ökonomischen Angriff gegen das Kapitalkommando in der Fabrik entfernt hatten. Teile der HausbesetzerInnenbewegung übersetzten den Autonomiebegriff kurzerhand als individualistischen Rückzug von jeder Form der kapitalistischen Lohnarbeit. Abgesehen davon, dass diese Vorstellung unter den »objektiven« ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus illusorisch ist, ging im Prinzip damit auch jeder Anspruch auf die Vermittlung der eigenen Vorstellungen in die Wirklichkeit anderer gesellschaftlicher Bereiche verloren. Diese individualistisch-subjektivistische Wendung der »autonomen« Politik wurde nach einem Jahr Häuserkampf von Autonomen in einem Papier unter dem Titel Stillstand ist das Ende von Bewegung in der Radikal 1/82 so formuliert: »Wir kämpfen für uns und führen keine Stellvertreterkriege. Wir kämpfen nicht für Ideologie, nicht fürs Proletariat, nicht fürs Volk, sondern für ein selbstbestimmtes Leben.«
Wie konnte es zu dieser Position kommen? Die HausbesetzerInnenbewegung fiel in eine Zeit kaum wahrnehmbarer Klassenkonflikte. Ohne diesen möglichen Orientierungspunkt blieb wenig mehr als die Thematisierung der eigenen Bedürfnisse im unmittelbaren sozialen Umfeld der Alternativbewegung. Diese wurde damit in der Wahrnehmung vieler autonomer HausbesetzerInnen tatsächlich zur »Basis« der eigenen Kämpfe. »In der Linken- und Alternativszene haben wir uns seit einigen Jahren Strukturen geschaffen, die es uns ermöglichen, zunehmend selbstbestimmter zu leben, unseren Alltag kollektiv zu organisieren, von den ökonomischen Geschichten übers Essen, Kneipen(-un)wesen, anderer Kultur etc. (...) Wir haben in diesen relativen Freiräumen Möglichkeiten, ein Zusammenleben in verschiedenen Gruppenzusammenhängen auszuprobieren, radikale Erfahrungen gemeinsam in den Alltag umzusetzen. Außerdem macht's Mut zu zeigen: Leben geht auch anders! (Und es lohnt sich).«
Allerdings trieben die Debatten im Häuserkampf über diese »Basis« hinaus, d. h. bestimmte Erscheinungen und Formen der Alternativbewegung wurden zugleich von den Autonomen scharf kritisiert: »Wir unterstellen großen Teilen der Alternativszene, dass es ihnen nur darauf ankommt, ihr Leben anders zu organisieren, nicht aber gegen das System zu kämpfen. Sie richten sich in ihren Nischen ein und kriegen den Arsch nur hoch, wenn sie direkt bedroht werden. Unsere Formen von Selbstorganisation sollten für uns zum Selbstverständnis und nicht zum politischen Ziel erklärt werden.« Aus dieser Kritik nahmen auch Teile der West-Berliner Autonomen eine Positionsbestimmung zur Bedeutung des widersprüchlichen Begriffs »Freiraum« vor: »Wir kritisieren nicht unsere relativen Freiräume an sich, sondern Freiräume als Ziel. Für uns sind sie Ausgangspunkte in unserem Kampf. ,Freiräume‘ erobern, absichern ... das ist klassischer Reformismus! Das bringt kein System ins Wanken auch das kapitalistische System reagiert sehr flexibel darauf: ,Freiräume‘ können integriert, Widerstand kanalisiert werden, Ghettos ohne Sprengkraft Spielwiesen.«
Das Ende der Häuserkampfbewergung
Bei der Räumung von acht besetzten Häusern am 22. September 1981 wurde Klaus Jürgen Rattay von der Polizei vor einen Bus getrieben und dabei tödlich verletzt. An diesem Tag erreichte die BesetzerInnenbewegung in West-Berlin durch die Unterstützung des gesamten Spektrums der städtischen Linken und der linksliberalen Öffentlichkeit ihre maximale Ausdehnungs- und Mobilisierungsgrenze. Die BesetzerInnen sahen sich nach diesem staatlich inszenierten Höhepunkt vor die Alternative »Räumen oder Abschluss von Mietverträgen«, d. h. Legalisierung, gestellt. Zudem war die Bewegung bereits zu diesem Zeitpunkt mit einem enormen Ausmaß staatlicher Kriminalisierung konfrontiert: Rund 5.000 Menschen waren von Ermittlungsverfahren betroffen, die staatliche Repression nahm den Charakter einer massenstatistischen Erfassung an.
Die alternativen und lebensreformerischen Strömungen ergriffen mit dem Abschluss von Mietverträgen verstärkt die Möglichkeit, sich aus einer Auseinandersetzung abzuseilen, die sie nie als bewusste Konfrontation mit dem System und dem Staat geführt hatten. Die zunehmend isolierter werdende autonome NichtverhandlerInnenfraktion kritisierte dieses Verhalten zwar moralisch, war jedoch nicht mehr dazu in der Lage, die Bewegung auf einen Mietkampf und auf andere Gruppen in der Bevölkerung auszuweiten. Diesem Unterfangen stand zum einen die durch die Häuserkämpfe bewirkte ursprünglich nicht vorgesehene Verlängerung der Mietpreisbindung als auch der weithin vertretene subjektivistische Ansatz von Teilen der Autonomen im Wege. Zudem muss bezweifelt werden, ob eine derartige intensive politische Massenarbeit bei der Erschöpfung der tatsächlichen Kräfte der Bewegung die notwendigen kurzfristigen Mobilisierungserfolge hätte erbringen können.
Der konservativ-reaktionäre CDU/FDP- Senat betrieb in der Folge mit geschickten Integrations- und Repressionsstrategien eine gezielte Räumungs- und Umstrukturierungspolitik, insbesondere für den Kiez in Schöneberg. Während der Hochzeit der Bewegung im Sommer 1981 war der Winterfeldplatz zu einem der Zentren der BesetzerInnenbewegung geworden, von dem immer wieder Aktionen gegen die nur drei Minuten entfernt liegende City ausgingen. Den planmäßig aus diesem Bezirk geräumten BesetzerInnen wurde vom West-Berliner Senat faktisch ein Schlupfloch in Richtung SO 36 gelassen, wo weit zurückhaltender geräumt und intensiver legalisiert wurde. Das war mit ein Grund für eine Entwicklung, in der viele Autonome sich in diesen Stadtteil zurückziehen konnten und die schon im Jahre 1983 einen CDU-Bezirkspolitiker davon sprechen ließ, dass Kreuzberg eine »Geisterstadt der Chaoten« sei.
Allerdings führte der Zerfall der Bewegung – im Sommer des Jahres 1984 wurde das letzte besetzte Haus geräumt – nicht zu einem Ende der Autonomen. Der Abschluss des Häuserkampfes machte für sie zugleich auch wieder Räume für andere politische Initiativen, Diskussionen und Kampagnen frei.
Text entnommen aus: Geronimo, Feuer und Flamme, Zur Geschichte der Autonomen. Edition ID-Verlag: Berlin, 1995 Leicht gekürzt und bearbeitet von dérive.
Fußnoten
In der Zeit von Februar 1973 bis Ende Sommer 1975 gaben die Gruppen eine gemeinsame Zeitung unter dem Titel »Wir wollen alles« (WWA) heraus. ↩︎
Geronimo