Rossi und die Stadt
Besprechung von »Das Gedächtnis der Stadt. Von Boullée bis Rossi« von Katharina BrichettiDas Gedächtnis der Stadt. Von Boullée bis Rossi von Katharina Brichetti gehört zu der Gattung der Hagiografie, zum Genre einer „operativen Kritik“, wie der Architektur- und Kunsthistoriker Manfredo Tafuri – ein Zeitgenosse des Architekten und Architekturtheoretikers Aldo Rossi (1931-1997) – das genannt hätte. Tafuri forderte unermüdlich eine Autonomie der Architekturkritik gegenüber Architektur und Städtebau, im Gegensatz zu einer dienenden Kritik, die bestimmte Strömungen unterstützt und sich in deren Dienst stellt. Eine durchaus ausstehende Neubewertung Aldo Rossis wird nur in Teilbereichen geleistet (er ist die zentrale Figur in dem Buch, Etienne-Louis Boullée dient eher als Ahnherr und Legitimationsfigur).
Rossi gehört neben Robert Venturi (geb. 1925) zu den Gründervätern der Postmoderne, einer Strömung, deren Ansätze von Charles Jencks 1978 in seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur trivialisiert und vereinfacht wurden. Heute scheint Aldo Rossis Theorie einer archittetura della citta (1966) zunehmend in Vergessenheit geraten zu sein, während Robert Venturis und Denise Scott Browns Learning from Las Vegas zum fixen Bestandteil einer urbanistischen Bibliothek gehören. Ihr eigentliches Hauptwerk Complexity and Contradiction (1966), das neben Rossis Die Architektur der Stadt zu den Urtexten der Postmoderne gehört, scheint auch in den Hintergrund getreten zu sein.
Katharina Brichetti stellt die Bezüge zwischen Etienne-Louis Boullée und Aldo Rossi in den Mittelpunkt und suggeriert somit eine andere Tradition, die sich parallel zur Moderne gebildet haben soll. Boullée wurde von den Modernisten gerne als Vorgänger interpretiert, wie die französische Revolutionsarchitektur insgesamt. Rossi betonte in seiner Rezeption der Boullée‘schen Architektur den individualistischen und künstlerischen Aspekt, der sich mit einem naturwissenschaftlichen Rationalismus mischte. Rossi entwickelte Die Architektur der Stadt als Reaktion auf die in die ungeplante Peripherie ausufernden Städte der Nachkriegszeit, die er als Symptom einer Auflösung der europäischen Stadt deutete. Gegen diese Tendenzen und gegen einen übersteigerten Funktionalismus, der für Rossi nicht imstande war, identitätsstiftende Räume auszubilden, wurde Die Architektur der Stadt in Stellung gebracht. Rossi wollte ein Instrumentarium und eine Theorie entwickeln, die die europäische Stadt vor ihrem Zerfall retten sollte. Zentral ist der Begriff der Permanenz, die für Rossi jenseits von Funktionen, über die Zeit hinweg die Identität einer Stadt bildet. Die Beständigkeit des Stadtgrundrisses (die Modernisten hatten diese in Frage gestellt) und eine formal einprägsame und symbolhafte Architektur sollten die Wahrung einer spezifischen Identität einer Stadt beziehungsweise eines Ortes („Genius loci“) ermöglichen. Später wurde daraus der Begriff der „kritischen Rekonstruktion“ abgeleitet, als dessen Ahnherr Aldo Rossi gilt und in deren Ideologie beispielsweise die Berliner Mitte wiederaufgebaut wurde.
Das Buch lässt sich nicht auf eine Diskussion dieses „Identitätsbegriffes“ ein, der aus heutiger Sicht prekär erscheinen muss. Auch der Zeitbegriff Rossis, der sich auf die Theorie eines „kollektiven Gedächtnisses“ von Maurice Halbwachs bezieht, wird nicht mit gegenwärtigen Diskursen (etwa einer prozesshaften Stadtplanung) in Beziehung gebracht. So bleibt die Frage nach der heutigen Relevanz von Rossis Theorien unbeantwortet, und der Verweis auf seine Bedeutung für die Schule der „kritischen Rekonstruktion“, die Josef Paul Kleihues über die IBA (Internationale Bauausstellung) 1984/87 populär gemacht hatte, wird viele SkeptikerInnen skeptisch zurücklassen. Rossis Einfluss auf unterschiedlichste Strömungen ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Er hat mit seiner Diskussion zum Verhältnis von Form und Funktion etwa den frühen Anti-Funktionalismus Peter Eisenmans oder auch die Event-Theorien Bernard Tschumis beeinflusst. Ein nicht zu unterschätzender Verdienst bleibt, darauf weist auch Katharina Brichetti hin, dass die von Rossi propagierte kontextuelle Recherche als Voraussetzung für urbanes Handeln und Planen zum Common Sense geworden ist.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.