Schnecke, Pilz, Zylinder
Besprechung von »Italo Modern 2, 1946-1976« von Martin und Werner FeiersingerErst ein dünnes, dann ein dickes, nun ein noch dickeres Buch: Italomodern 2, herausgegeben von AUT.Architektur und Tirol und dem Vorarlberger Architektur Institut, erschienen bei Park Books, in bewährtem solidem Paperback, diesmal anders als der beigefarbene erste Band in samtigem Chianti-Rot gehalten, mit himmelblauen und sonnengelben Text-Insert-Seiten. Und wieder sitzt man mit offenem Mund vor den Fundstücken der Brüder Martin und Werner Feiersinger und kann ihnen nicht genug dankbar sein für ihre Feldforschungen zu den durchgeknallten Elaboraten der norditalienischen Nachkriegsmoderne. Der Zeitrahmen erstreckt sich wie beim ersten Band auf die drei Dekaden 1946 bis 1976. Geografisch sind Richtung Süden die Adriaküste bis Pesaro und die Toscana dazugekommen, in chronologischer Reihung angefangen mit hierzulande wenig bekannten Klassikern wie der Siedlung Monterinaldi in Florenz, konzipiert ab 1949 von Leonardo Ricci mit Einflüssen Frank Lloyd Wrights, und endend mit einem 1983 fertiggestellten Spätwerk Giovanni Micheluccis, einer an knallroten Stahlträgern über einer kleinen Piazza aufgehängten Bankfiliale im historischen Toscana-Städtchen Colle di Val d’Elsa.
Dazwischen tut sich wieder ein Universum all dessen auf, was man schon mit Band 1 fasziniert eingesogen hat: Satellitenstädte auf Hexagonalwaben-Basis, kristalline Sichtbetonkirchen, pilzförmige Sporthallen, überhängende Ferienwohnungs-Agglomerate, zu sphärischen Zickzackstrukturen verzogene Schweineställe und schneckenförmige Stadtbüchereien. Stars wie Gio Ponti, Pierluigi Nervi, Carlo Mollino, Ignazio Gardella, Adalberto Libera, Carlo Scarpa und Edoardo Gellner sind ebenso vertreten wie zahlreiche unbekannte Größen, deren Namen sich zu merken man fest entschlossen ist. Zum Beispiel: Carlo Moretti mit seinen aufgeklappten und gedrehten Strukturen. Filippo Monti, der vor allem in Faenza filigrane Glasprismen und monolithische Sichtbeton-Einfamilienburgen gebaut hat. Oder Nanda Vigo, die mit ihren – inklusive Sitzmulden – innen komplett weiß verfliesten Landsitzen schon in Band eins vertreten war und eine der ganz wenigen Architektinnen wohl nicht nur der Auswahl, sondern Sechziger-Jahre-Italiens überhaupt ist.
Frappierend ist oft die Datierung der Bauten, die den Verdacht nahelegt, dass, wie etwa im Fall des hier ebenfalls zu entdeckenden, sozusagen proto-postmodernen Turiner Neo-Liberty der 1950er Jahre, viele Trends der behandelten Dekaden zuerst in norditalienischen Provinzstädten ausprobiert wurden – offenbar mit der Unterstützung architektonisch äußerst aufgeschlossener Kommunen. Ein eher spätes Beispiel ist Virgilio Vercellonis Gemeindezentrum in der Mailänder Satellitenstadt Rozzano, eine Gruppierung zylindrischer Strukturen in Olivgrün, die über Oberlichtkuppeln belichtet werden. Schade ist hier, dass sich neben dem Grundriss nur eine Außenaufnahme des Komplexes findet. Da hätte doch gerade das Innere der Zylinderräume interessiert. Andererseits ist wiederum beispielsweise von einigen hochspektakulären Kirchen nur das Innere abgebildet, wo man sich auch vom Äußeren des Baukörpers gerne ein Bild gemacht hätte – insbesondere weil Martin Feiersingers knappe, konzise Texte das Interesse am jeweiligen Bau noch steigern. Da ist es dann ein Jammer, wenn die beschriebenen Strukturen nicht zu sehen sind.
Ob auch andere Länder ein solches Maß an Schätzen der Moderne bergen? Vielleicht kann man Martin und Werner Feiersinger zumindest dafür gewinnen, Italien auch weiter Richtung Süden mit ihren Kameras zu durchkämmen. Jedenfalls sei der Band allen an der Architektur der Nachkriegsjahrzehnte Interessierten unbedingt empfohlen, gerade jetzt, wenn man vielleicht seinen Sommerurlaub plant. Das nächste Traumziel der Rezensentin steht jedenfalls fest: der ligurische Küstenort Bergeggi mit seiner 1950er-Jahre-Retorten-Feriensiedlung Torre del Mare und ihren in die Felsen der Steilküste gehauenen, auf verschränkten Zylinderstrukturen basierenden Bauten von Mario Galvagni. Auch so ein Name, den man sich merken muss. Wir lechzen jedenfalls schon jetzt nach Band 3 ...
Iris Meder