Judentum und Urbanität
Vorwort zum Schwerpunkt»One person’s Jerusalem is not another’s«, schreiben Esther Benbassa und Jean-Christophe Attias. Wir alle, Stadtbewohner und -bewohnerinnen doch zumeist, haben unsere Vorstellungen von einer guten Stadt, von einem Leben im Zwischenspiel von Diversität und Harmonie. Zu begreifen, dass der Nachbar – auf der Straße, im Kaffeehaus, am anderen Ende der Stadt – womöglich eine andere Vorstellung vom richtigen Leben hat, und Wege zu finden, wie sich die vielen unterschiedlichen Hoffnungen miteinander arrangieren können, wäre die erste Voraussetzung für städtisches Zusammenleben. Das gilt heute, aber es hat auch eine historische Dimension. Ich lese gerade wieder einmal Paul Nizon und bin von seiner »Urbomanie«, seiner Liebe zum Städtischen, begeistert – denke aber auch beim Lesen, dass wohl keine andere Kultur die Idee und die Realität des Stadtlebens so konsequent erlebt, geprägt und oft auch erlitten hat wie die jüdische.
Bin ich damit schon in die Falle des Stereotyps gestolpert? Juden seien, so Karl Kautsky 1911, »Stadtbewohner par excellence«, ein Satz, der auf vielfältige Weise gelesen werden kann, dem auf vielfältige Weise widersprochen werden kann. Oft genug in der jüdischen Geschichte, die grundsätzlich als Geschichte jüdisch/nichtjüdischer Beziehungen und im Kontext der allgemeinen Geschichte studiert werden sollte, war die Stadt feindliches Gelände, war »Judenviertel« am Rande, war Ghetto, aber immer gab es darin auch die Hoffnung auf ein Jerusalem. Das konnte Wilna heißen oder Wien, Antwerpen oder New York, und für manche hieß (und heißt) es Jerusalem, und für jeden und jede sah es anders aus.
Dass es möglich ist, solche Fantasien, Hoffnungen und Ängste, Erfahrungen von Anwesenheit und Flucht, vom Unterwegssein und vom Ankommen in Stadt-Bildern auszudrücken und dabei sowohl die Liebe zum Wohnort wie die Furcht vor ihm zu veranschaulichen, den »Glauben an das Wohnen« ebenso wie die Rettung in die Emigration, das zeigen die Beiträge dieser Sammlung. Sie präsentieren, dem Grundgedanken von dérive gemäß, die Straßen und Wohnviertel einiger großer europäischer Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis verspricht. Historische Situationen können beim aufmerksamen Gehen durch die Städte – und die Archive – wieder aufgerufen werden, wenn wir ihnen unser forschendes Engagement zuwenden. Laurence Guillon, Bodo Kahmann, Tobias Metzler und Veerle Vanden Daelen sind mit mir auf eine historische Promenade gegangen, in ganz unterschiedlichen Ansätzen, aber einig in der Zuneigung zum Städtischen. Dafür danke ich ihnen, wie ebenso Christoph Laimer, der uns den Raum für dieses Unternehmen gegeben hat.
Berlin und Southampton, im November 2016.
Joachim Schlör wurde 1990 an der Universität Tübingen promoviert (Nachts in der großen Stadt: Paris, Berlin, London 1840–1930) und habilitierte sich 2003 an der Universität Potsdam (Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938). Er wurde 2006 als Professor for Modern Jewish/non-Jewish Relations an die University of Southampton berufen und leitet dort das Parkes Institute.
Joachim Schlör leitet seit 2006 als Professor for Modern Jewish/non-Jewish Relations an der University of Southampton das Parkes Institute.