Selbstbeauftragte Archivierung
Besprechung von »Die Große Bergstraße. Dokumentarische Ansichten einer Hamburger Einkaufsstraße 1950 – 2017« herausgegeben von Johanna Klier, Sylvia NeckerJohanna Klier, Sylvia Necker
Die Große Bergstraße. Dokumentarische Ansichten einer Hamburger Einkaufsstraße 1950 - 2017
München/Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, 2017
208 Seiten, englisch/deutsch, ca. 30 Euro
Das Coverfoto der Publikation Die Große Bergstraße zeigt einen Zustand des Dazwischen. Etwas ist weg, etwas Neues ist noch nicht da. Konkret handelt es sich hierbei um das Einkaufszentrum frappant, das nicht mehr, und die erste innerstädtische Filiale von IKEA in Deutschland, die noch nicht zu sehen ist. Das gemeinsam von der Architekturfotografin Johanna Klier und der Historikerin Sylvia Necker herausgegebene Buch ist Teil eines von Klier betrie-benen, fortlaufenden Archivs zur Großen Bergstraße, einer Einkaufsstraße in Hamburg-Altona.
Die dokumentarischen Ansichten Kliers, die den Großteil der Abbildungen stellen, sehen die beiden Herausgeberinnen in der Nachfolge Eugène Atgets, »der die Zeit von 1898 bis zu seinem Tod im Jahre 1927 damit verbrachte, geduldig und in aller Stille jenes engbegrenzte, von der Zeit verschlissene Paris zu fotografieren, das allmählich dahinschwand«, wie es Susan Sontag in Über Fotografie beschreibt. Seinen Nachlass rettete die amerikanische Fotografin Berenice Abbott. Nach New York zurückgekehrt, begann sie ebenfalls die permanenten Umformungen der Stadt festzuhalten und veröffentlichte 1939 den Bildband Changing New York. Diese fotografischen Chroniken schildern das Bedürfnis, vor allem, wenn es zu tiefgreifenden Einschnitten in eine Stadtstruktur kommt, das Alte kurz vor dem Verschwinden festzuhalten, als auch den Veränderungsprozess selbst zu bezeugen. Erweitert werden diese Anliegen bei Klier/Necker um die Lesbarmachung der verschiedenen, gleichzeitig existieren den Bau- und Zeitschichten durch eine historische Kontextualisierung im Zusammenspiel von Bild und Text.
Der Abriss des frappant 2011 und der Neubau des Möbelhauses waren Teil umfassender städtebaulicher wie architektonischer Erneuerungsmaßnahmen im Bereich der Großen Bergstraße von 2005–2017. Vor allem die im Zuge des Wiederaufbaus entstandene und den Ort prägende Nachkriegsarchitektur, nun als Bausünde oder Betonklotz tituliert, wurde hierbei entfernt oder bis zur Unkenntlichkeit saniert. Der Komplex, der das Einkaufszentrum beherbergte, konnte in diesem Sinne gar nicht mehr als durchaus gelungene architektonische Lösung wahrgenommen werden, deren Erhalt sich hätte lohnen können. Klier/Necker möchten mit ihrer Arbeit vor allem dieser marginalisierten baulichen Zeitschicht die entsprechende Wertschätzung zukommen lassen.
Kliers eigene Aufnahmen starten im Jahr 2010 mit Fotografien des leerstehenden, verfallenden frappant, dessen Abriss eine Initiative von Künstlern und Künstlerinnen gemeinsam mit der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung zu verhindern suchte. Trotz ihres persönlichen Interesses bewahrt Klier dabei jedoch eine zurückhaltende Distanz gegenüber den abgebildeten Gebäuden und Gegenständen. Menschen erscheinen in den Bildern eher beiläufig, sie sind nicht das Hauptmotiv. Es geht es um die materiellen Folgen und Spuren menschlichen Planens und Handelns. So ist beispielsweise die prekäre Situation der Einkaufsstraße am schnellen Wechsel billiger Ladenauslagen ablesbar, die sie in Abfolge zeigt.
Aufschlussreich ist diese Dokumentation einer Straße über Hamburg hinaus, da dieser immer wieder eine städtebauliche Vorreiterrolle zukam und auch sonst nahezu alle urbanistischen Debatten und Phänomene jüngeren Datums (Sicherheitsdiskurs, Eventisierung, Kreative Stadt etc.) Niederschlag fanden. Die City-Store-Filiale des IKEA-Konzerns war eine Art Test, dem nun weitere Häuser in anderen deutschen Städten folgen sollen. Das abgerissene frappant war bei seiner Eröffnung 1973 die erste deutsche Shopping-Mall, in der in einem wettergeschützten Ambiente von Geschäft zu Geschäft flaniert werden konnte, während die Neue Große Bergstraße 1966 beispielgebend Westdeutschlands erste autofreie Fußgänger-Einkaufsstraße war.
Das Buch wendet sich bei aller fachlichen Tiefe jedoch an ein breites Publikum. Die kurzen, chronologisch aufeinanderfolgenden Texte Neckers lassen sich auch unabhängig voneinander lesen, eine Gesamtchronik hilft für den Überblick. Neun dazwischen eingebettete Bildstrecken konzentrieren sich auf die visuelle Dokumentation. Damit schaffen die Verfasserinnen die Voraussetzung für eine Art aktiviertes Lesen und Schauen. Sie regen an vor und zurück zu blättern, die Coverinnenseiten mit den Plänen aufzuschlagen, vorher und nachher zu vergleichen, zu prüfen, wie es jeweils um den öffentlichen Raum steht und wie stark sich nun wirklich die Kubaturen vergrößert haben. Das konzeptuelle Ineinandergreifen von Text und Bild wird durch die ideenreiche, bisweilen zu ambitionierte Gestaltung des Layouts unterstützt. An manchen Stellen ergeben sich dadurch kleinere Schwierigkeiten in der Handhabung. Das Inhaltsverzeichnis hätte klarer Text- und Bildstrecken unterscheiden können, ein Hamburgplan mit einer großräumigen Situierung Altonas und der Großen Bergstraße hätte Ortsunkundigen die Orientierung erleichtert. Für Kliers sorgfältige und gehaltvolle Fotografien wäre oftmals mehr Luft wünschenswert, ihre Wirkung wird durch die Beigabe zu vieler kleiner Abbildungen beeinträchtigt. Insgesamt geht das Vorhaben von Klier/Necker jedoch sehr gut auf. Das Buch bildet eine äußerst fundierte und gleichzeitig ästhetisch ansprechende Anregung für eine kritische, selbstbeauftragte Einmischung in die Angelegenheiten der Stadt. Und heute? Die Erneuerungsmaßnahmen scheinen eine wirtschaftliche Wiederbelebung der Straße bewirkt zu haben, soziale und kulturelle Belange spielten dabei nie eine Rolle. In den Aufnahmen Kliers ist gut zu sehen, wie das undifferenzierte Volumen des IKEA-Neubaus nun am Horizont erscheint, sich weiter als zuvor in den öffentlichen Straßenraum hineinschiebt, ähnlich den überdimensionierten Kreuzfahrtschiffen, die in Venedig am offenen Ende enger Kanalfluchten auftauchen und vorbeiziehen. Dieses hier bleibt allerdings. Vorerst.
Universitätsassistentin am Institut für Kunst und Gestaltung 1