Solidarität unter Nicht-Gleichen
Besprechung von »Die Stadt als Stätte der Solidarität« von Niki Kubaczek und Monika Mokre (Hg.)Niki Kubaczek, Monika Mokre (Hg.)
Die Stadt als Stätte der Solidarität
Wien, Linz: transversal texts
15 Euro (kostenloser Download: https://transversal.at/books/stadt), 313 Seiten
Die Stadt als Stätte der Solidarität nennt sich ein neu vorliegender Band von transversal. Der Titel ist irreführend, denn tatsächlich geht es wenig um die Stadt, den urbanen Raum. Zentral geht es um Migration und im Speziellen um das Ankommen bzw. um Ankommende. Bereits in der Einleitung heißt es, dass die »Frage des Ankommens in dem Band immer wieder auftaucht«. Nun ist klar, dass es Stadt ohne Migration nicht gibt, dérive hat genau zu diesem Thema vor etlichen Jahren ein Schwerpunktheft gemacht. Unter der Klammer Die Stadt als Stätte der Solidarität wäre es interessant gewesen, mehr über die Schaffung solidarischer demokratischer Räume oder urbaner Commons, die jenseits von Migration ganz allgemein für die Stadtgesellschaft und ihre Demokratisierung erkämpft oder etabliert werden, zu lesen oder auch die Klassengesellschaft stärker als Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen. Speziell für den Moment des Ankommens stellt sich die Frage, ob genau hier nicht aufgrund der notwendigen Geschwindigkeit zuerst einmal Hilfe viel wichtiger oder zumindest ebenso wichtig ist wie Solidarität. Vor allem dann, wenn es sich um eine Ausnahmesituation wie die der großen Fluchtbewegungen 2015 handelt, auf die im Buch immer wieder Bezug genommen wird. Die rasche Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und einer Unterkunft ist hier die zentrale Aufgabe.
Doch der Hilfe – solange sie keine gegenseitige ist, haftet in der antirassistischen Bewegung der Makel an, Praxis eines »hegemonialen westlichen humanitären Diskurses« zu sein, weil zwischen Helfenden und Hilfesuchenden ein hierarchisches, paternalistisches Verhältnis gesehen wird. Sie spielt deswegen im Buch keine große Rolle. Das Ringen darum, wie in solidarischen Beziehungen und Netzwerken mit der Ungleichheit der Beteiligten umgegangen werden soll, dafür eine umso größere. Schließlich könne – Achtung Spoilerwarnung – wirkliche Solidarität nur »Unterdrückten« gelten, wie im abschließenden Kapitel der Publikation festgelegt wird. Schließt man sich dieser Überzeugung an und gehört selbst nicht zu den Unterdrückten, kommt man folglich nicht darum herum, sich mit der Frage von Ungleichheiten und Hierarchien im Zusammenhang mit Solidarität auseinanderzusetzen.
Interessante Überlegungen dazu gibt es von Serhat Karakayali, dessen Beitrag zu den aufschlussreichsten des Bandes gehört. Er fragt sich, wie Reziprozität in Beziehungen zwischen ›Ungleichen‹ möglich sein kann und unter welchen Bedingungen sich Asymmetrien durch Externalisierungen bzw. Institutionalisierungen lösen lassen. Besonders erfreulich ist der analytische Zugang seiner Ausführungen, der sich von moralisch ideologischen wohltuend abhebt, ebenso wie sein Beharren darauf, dass es darum geht, die Faktoren der sozialen Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Dankenswerterweise greift er auch kurz die in der antirassistischen Szene verbreitete Rede von den ›Privilegien‹ auf und kritisiert die damit einhergehende Individualisierung von strukturellen Ungerechtigkeiten. Er erwähnt auch, dass die »Materialität des Rassismus« nichts mit »schlechten Manieren« zu tun hat, die man sich einfach »abtrainieren« können soll. Danke!
Seltsam mutet hingegen der Beitrag von Tahir Zaman an, der angestrengt versucht, für Verhaltensweisen wie Gastfreundschaft oder gegenseitige Hilfe, die es auf der ganzen Welt und in allen Gesellschaften gibt, »eine alternative Lesart [zu] finden«, um sie in Fluchtsituationen als islamische Tradition framen zu können. Aus linker Perspektive interessanter wäre es vielleicht gewesen, sich anzusehen, wie Solidarität mit Geflüchteten aussehen kann, die beschließen, ein Leben ohne Religion führen zu wollen. Diese sehen sich nämlich nicht nur mit all den Schwierigkeiten und Diskriminierungen konfrontiert, mit denen sich Geflüchtete grundsätzlich herumschlagen müssen, sondern oft genug auch noch mit der Ablehnung durch andere Migrant*innen und Geflüchtete.
Im Band tauchen eine ganze Reihe beeindruckender solidarischer Projekte auf, von denen etliche allerdings seit langem nicht mehr existieren, wie das City Plaza Hotel in Athen (Beitrag von Olga Lafazani), Kotti & Co in Berlin, die Autonome Schule in Zürich, die South Central Farm in L.A., das Frühstücksprogramm der Black Panther Party oder die kubanischen Organopónicos, wobei sich bei den urbanen Bio-Gärten in Kuba die Frage stellt, was sie mit Solidarität zu tun haben.
Interessant zu lesen ist auch ein Gespräch Niki Kubaczeks, einer der Herausgeber*innen, mit Berena Yogarajah, Dominic Kropp und Henrik Lebuhn. Interessant vor allem deswegen, weil etliche Dilemmata antirassistischer Politik angesprochen werden, von denen viele damit zu tun haben, dass es in der Solidarbewegung ein unstillbares Bedürfnis gibt, Migrant*innen per se als ›gute Menschen‹ zu sehen und sie als Projektionsfläche für eigene politische Vorstellungen zu beanspruchen. »Diese Idee vom guten, revolutionären Subjekt ist ein Problem« (Berena Yogarajah). Sheri Avraham und Niki Kubaczek weisen an anderer Stelle darauf hin, dass Marginalisierungserfahrungen nicht unbedingt eine emanzipatorische Haltung zur Folge haben, weil auch Migration nicht »autonom und von den Herrschaftsverhältnissen unabhängig« stattfindet. Migrant*innen zuzugestehen, sich anders als erwartet – also beispielsweise egoistisch und unsolidarisch – zu gerieren, aber trotzdem für ihre Rechte einzutreten, scheint eine schwierige Übung zu sein. Doch genau in dieser Sichtweise des Migranten als guten Menschen versteckt sich mindestens so viel Paternalismus wie im Charity-Ansatz.
Weitere Beiträge im Buch beschäftigen sich aus ethnographischer Perspektive mit Fragen von Gentrifizierung, sozialer Vielfalt und der Finanzialisierung des Wohnungsmarktes (Manuela Bojadžijev), mit dem Themenkomplex Ernährungssouveränität und Urban Commons (Michael Kalivoda und Monika Mokre), der Kirchenasylbewegung in Deutschland (Julia Mourão Permoser), der Situation in Budapest und Ungarn rund um die munizipalistische Bewegung (Ame Panzh und Katalin Erdödi), Racial Profiling und Infrastrukturen der Solidarität (Sarah Schilliger) oder Seenotrettung (Maurice Stierl). Im Gespräch von Monika Mokre mit Vassilis Tsianos spricht dieser über das Konzept der Mobile Commons, über die Verbindungen zwischen der Welt der Prekarität und der Welt der Migration, oder der Autonomie der Migration u.v.m.
Im abschließenden Kapitel von Sheri Avraham und Niki Kubaczek geht es noch einmal darum, den Begriff der Solidarität unter die Lupe zu nehmen und das Konzept einer »emanzipatorischen Solidarität« zu entwickeln, dass der »fortwährenden Nationalisierung der Solidarität« entgegenwirkt. Es geht aufs Neue darum, wem Solidarität gebührt – nämlich »den Marginalisierten, den Ausgebeuteten und Unterdrückten« – und nicht, wie solidarische Strukturen für die ganze Stadtgesellschaft aufgebaut werden könnten. Schade.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.