Soziale Seriosität und Minimalismus
Besprechung von »Ottokar Uhl: A Dossier« herausgegeben von Joseph MasheckDer amerikanische Kunst- und Architekturhistoriker Joseph Masheck gab im Rahmen der Occasional Papers in Architectural Art des Edinburgh College of Art eine Sammlung von Texten von dem und über den österreichischen Architekten Ottokar Uhl heraus. Ausgangspunkt war sein Besuch der Ausstellung über Uhl im Architekturzentrum Wien im Jahr 2005 (Ottokar Uhl. Nach allen Regeln der Architektur) – die dort gezeigten Arbeiten Uhls riefen Mashecks Interesse hervor, und eine kurze Recherche zeigte, dass es bisher kaum englischsprachige Publikationen zu seinem Werk gibt. Masheck erwähnt eine lange Reihe von Büchern vor allem aus der jüngsten Zeit, die auf Deutsch erschienen sind; beim Englischen ist seine Liste wesentlich kürzer, und wenn doch etwas publiziert wurde, dann über partizipative Planung und nicht über Uhls Kirchenbauten, weshalb Masheck sich in seinem Vorwort auf letztere konzentriert.
Mashecks Kunsthistoriker-Blick auf Uhl ist ungewöhnlich: Während Uhls Architektur meist aus der Perspektive der Nutzung betrachtet wird, ob nun hinsichtlich der liturgischen Erneuerung im Kirchenbau oder der partizipativen Planung im Wohnungsbau, gibt es nur wenige Versuche, sie ästhetisch zu verstehen, auch wenn Uhl selbst mit seinem Konzept der demokratisierten Ästhetik durchaus Ansätze dafür geliefert hat. Masheck stellt Parallelen zur Kunst her, insbesondere zum Minimalismus etwa von Donald Judd, Sol LeWitt und Barnett Newman. Uhls modernistische Kirchenbauten wären demnach eher von der funktionalistischen, konstruktivistischen Architektur der Zwischenkriegszeit, etwa von den frühen Kirchenbauten von Rudolf Schwarz beeinflusst als von einem Mies’schen „less is more“, laut Masheck darin durchaus der minimalistischen Kunst der 1960er Jahre verwandt, die sich auf die konstruktivistische Kunst der 1920er bezog. Masheck verteidigt den funktionalistischen Kirchenbau gegen die innerkirchlichen Reaktionäre, denen das Zweite Vatikanische Konzil „zu weit“ gegangen sei: Auch wenn diese Gebäude in ihrer Form und Materialität profanen Bauten ähneln würden, seien ihre „soziale Seriosität“ und ihre „spirituelle Nutzbarkeit“ Garant für eine der Bauaufgabe angemessene Gestaltung. Fabriken und kommerzielle Gebäude würden als schlechte formale Vorbilder für Kirchenbauten angesehen, weil sie Orte der Entfremdung und Ausbeutung seien – deshalb wäre es nur nahe liegend, wenn Kirchen wie humanere Arbeitsorte wirkten. Auch wenn er Uhls Kirchen als „schönere Kunstwerke“ verstehe als die partizipativen Wohnbauten, sei klar, dass es keinen Widerspruch geben sollte zwischen dem Beten in einer modernistischen Kirche und der Arbeitsbesprechung im Büro, wo die architektonischen Bedürfnisse der NutzerInnen durch Mitbestimmung befriedigt werden könnten. Es wäre ein Fehler, wenn man von der Architektur das Verschwinden der Immanenz zugunsten der Transzendenz verlange.
In seinem einleitenden Text beschäftigt sich Masheck vorrangig mit vier Wiener Kirchenbauten Uhls, zwei Studentenkapellen in bestehenden Gebäuden (Ebendorferstraße, Peter-Jordan-Straße) und zwei demontierbaren Kirchen (Siemensstraße, Kundrathstraße). Er schließt mit dem Hinweis, dass ein Blick zurück auf Uhls Architektur eine gute Ausgangsbasis dafür wäre, neu über die Aufgabe der Architektur nachzudenken, die sonst so häufig nur die Sicht der Mächtigen reproduziere.
Joseph Masheck wählte für seine Uhl-Publikation eine Reihe bereits veröffentlichter Beiträge und einen neuen Text aus, die alle für diesen Band übersetzt wurden. Den Anfang macht Bernhard Stegers neuer Beitrag, der auf Texten der Ausstellung im Architekturzentrum basiert. Steger beschreibt Uhls Anstoß für das Architekturstudium, nämlich zwei Bauten von Welzenbacher, den Kontakt mit dem industrialisierten Bauen über Konrad Wachsmann und die Nähe zum progressiven Katholizismus beispielsweise in der Person Otto Mauers. Uhl sah keine Notwendigkeit, für den Kirchenbau eine spezielle formale Sprache oder spezielle Materialien einzusetzen – ausschlaggebend sei die räumliche Disposition. Das zuerst im Kirchenbau erprobte industrialisierte Bauen sah Uhl als Chance, demokratische Partizipation im Wohnbau zu realisieren; der erste Versuch in diese Richtung war das „Wohnen morgen“-Projekt in Hollabrunn.
Es folgen Artikel von Herbert Muck und Bernd Selbmann aus einer zehn Jahre alten Publikation über Uhls Kirchenbauten sowie zwei Texte von Uhl selbst über Kirchenbau als Prozess und demokratisierte Ästhetik, beide aus dem Band mit Uhl-Texten, der 2003 von Elke Krasny und Claudia Mazanek herausgegeben wurde. Uhl beschreibt im zweiten Text die Parallelität von Funktionserfüllung und Befriedigung ästhetischer Gestaltungsbedürfnisse, er kommt zur Arbeitsteilung hinsichtlich Ästhetik zwischen ArchitekturproduzentInnen und -konsumentInnen und stellt fest: „Die Konsumenten gehen nun gerade auch im Bereich der Ästhetik leer aus. Die Chancen für ihre eigene Betätigung und Selbstentfaltung sind vergeben.“ Diese Diktatur der PlanerInnen werde laut Uhl durch Partizipation abgelöst, es wäre eine „reduzierte ästhetische Leistung vieler“ statt der „Spitzenleistung einzelner Ästhetikfachleute“ zu fordern. Die Reduktion bestünde in fehlender Fachkompetenz und fehlenden ökonomischen Ressourcen. Nötig sei diese ästhetische Leistung vieler aus zwei Gründen: Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Die „reduzierte Ästhetik“ würde infolge ihrer Quantität in eine neue Qualität umschlagen.
Schließlich folgt ein Text über das Mitbestimmungsprojekt Feßtgasse aus dem Buch über Mitbestimmung im Wohnbau, das Uhl mit Kurt Freisitzer und Robert Koch verfasst hat. Uhl versuchte Anfang der 1970er Jahre, nach seinen Erfahrungen in Hollabrunn, im Rahmen eines gewöhnlichen Auftrags für einen Wiener Gemeindebau ein Mitbestimmungsmodell umzusetzen. Der Versuch dauerte acht Jahre und kann als zumindest in Teilen gelungen angesehen werden – vor allem auch deshalb, weil dieses Projekt die Basis für Uhls spätere Partizipationsprojekte legte, die ihre Ansprüche in wesentlich höherem Ausmaß einlösen konnten. Das Ende des verdienstvollen Bandes machen ein Uhl-Vortrag über Transzendenz in den Architekturideologien und ein Beitrag von Johannes Porsch aus dem Katalog zur Uhl-Ausstellung.
Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.