Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968
Besprechung von »Wo-Wo-Wonige!« von Thomas StahelZürich ist eine der global cities, aber auch schon seit Anfang der 1970er Jahre durchgängig ein Ort von Kämpfen um Wohn- und Lebensraum gewesen. Der öffentlich sichtbarste Höhepunkt war die so genannte Zürcher Jugendbewegung und der Konflikt um ein autonomes Jugendzentrum 1980 und 1981. Thomas Stahel hat seine 2004 eingereichte Dissertation nun zu einem Buch umgearbeitet, das sich ausdrücklich nicht an ein akademisches Publikum, sondern an alle StadtbewohnerInnen richtet, speziell an solche, die an einer Geschichtsschreibung des (anti-)urbanen Aktivismus interessiert sind. Im Zentrum, so der Autor, stehe „die Analyse der Lebensformen, Hintergründe und Strategien der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen“.
Zu Beginn seines Buches stellt Stahel die Leitbilder des Wohnens und der Stadtentwicklung vor, um dann nach einem kurzen Exkurs in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz die Schweizer bzw. speziell die Züricher Stadt-(entwicklungs)-politik zu charakterisieren: Getreu dem Prinzip der funktionalen Trennung und der gleichzeitig wachsenden Bedeutung der Kleinstfamilie wanderten immer mehr Familien ins Umland ab. Die Straßen werden statt zu Verbindungen zwischen den Städten zu Einfallstoren für die PendlerInnen aus den Agglomerationen. Zürich als boomender Finanzplatz und die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors führen dazu, dass die City sich in die angrenzenden Quartiere hinein ausdehnt und die alteingesessenen BewohnerInnen verdrängt.
Interessanterweise gibt es bis Ende der 1960er Jahre auf gesamtschweizerischer Ebene de facto keine (gemeinsame) Regional- und Landesplanung, obwohl sich von 1952 bis 1972 die bebaute Fläche verdoppelt und die Zahl der Autos um 700 Prozent zugenommen hat. Dass die Agglomeration Zürich so gewachsen ist, hat weniger mit Abwanderung aus Zürich selbst zu tun als vielmehr damit, dass das in den sechziger Jahren prognostizierte Bevölkerungswachstum weniger Kernzürich als vielmehr die Agglomeration betraf; d. h. die Zuwanderung aus den ländlichen Gebieten und auch die Migration aus dem Ausland ging zum überwiegenden Teil ins „Umland“. Während Zürich selbst von den 1970ern bis in die 1990er um fast 100.000 EinwohnerInnen schrumpfte, verdoppelte sich Großzürich in dieser Zeit zum so genannten Millionenzürich.
Der zweite Teil widmet sich den alternativen Wohnformen, also Wohngemeinschaften, Hausbesetzungen, den realisierten und geplanten Großwohnprojekten und den mit ihnen – laut Stahle – verbundenen Vorstellungen von Autonomie, Freiräumen, Geschlechtergerechtigkeit und Kollektivität.
Im dritten und umfangreichsten Teil der Arbeit diskutiert und analysiert Stahel die Strategien der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen zum Erhalt von (günstigem) Wohnraum und seiner emanzipatorischen Nutzung und zur Bekämpfung der seit den 1950er Jahren chronischen Wohnungsknappheit in Zürich. Neben den für Nichtschweizer LeserInnen ungewohnten Möglichkeiten der direkten Demokratie sind dies wie anderswo auch Mieterkampf und Stadtteilarbeit, Hausbesetzungen, Hauskauf und -bau und nicht zuletzt Demonstrationen und militante Anschläge. Je vielfältiger das benutzte Repertoire der AktivistInnen und die damit verbundenen politischen Bündnisse waren, desto größer wurden die Erfolgschancen.
In seiner Bewertung schließt sich Stahel der Sichtweise an, die eine abnehmende Bedeutung von Politik und eine steigende Bedeutung von Kultur und von „Freiraum-Ideologien“ für das Selbstverständnis oppositionellen Handelns annimmt. Diese Lesart ist weit verbreitet und klingt in diesem Fall so: Kämpften die Bewegungen der 1968er und der 1970er noch um die ganze Gesellschaft, reduzieren sie sich in den 1980ern schon auf die Stadt, um dann in die kulturellen Insellösungen und die Bekämpfung von individueller Not und die Umsetzungen individueller Wohnansprüche überzugehen. Sicher verbleiben die wohnpolitischen Kämpfe mit ihrer Orientierung an Freiräumen letztlich defensiv und klagt die militante Bewegig der beginnenden 1980er Jahre, im Rückblick betrachtet, vorrangig weniger die Revolution als vielmehr die mangelnde Vielfalt urbaner Lebensformen ein. Aber gleichzeitig hat die Anzahl und die Dauer von Hausbesetzungen in Zürich stetig zu- und nicht etwa abgenommen. Seit 1989 gibt es durchgehend ein besetztes Haus in Zürich, da seitdem die Linie gilt, dass nur geräumt wird, wenn eine Abbruchgenehmigung bzw. eine Neubaubewilligung vorliegt.
Es ist auch schon für andere Städte dokumentiert, dass die alternative und kulturelle Linke die Aufwertung bestimmter Stadtquartiere zumindest verbal bekämpft, sie aber allein durch ihre längere Anwesenheit schon macht und mitverursacht. So tragen die stadtpolitischen Bewegungen zu der postfordistischen Reurbanisierung bei, die heute so gerne im Standortwettbewerb als Vorteil kommuniziert wird und nicht zuletzt zur Verdrängung ärmerer Schichten führt. Stahel nennt diese zentrale Widersprüchlichkeit der stadtpolitischen Bewegungen zwar, untersucht sie aber nicht weitergehend, was an der ursprünglich akademischen Form der Arbeit, oder auch an politischen Schwierigkeiten, liegen mag. Wenn man in diese Richtung weiterdenken würde, könnte auch geklärt werden, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen den oben beschriebenen Veränderungen des stadtpolitischen Handelns „hin zur Kultur“ und dem Phänomen gibt, dass die in Zürich relativ linke Sozialdemokratische Partei, die noch 1981 „Quartiersarbeit als zentrales Element politischen Engagements“ angesehen hatte, seit 1993 keine wohn- und mieterpolitischen Initiativen mehr unternimmt. Auf der positiven Seite verbucht Stahel die erreichten Wohn- und Hausprojekte und die vielfältigen, kleinteiligen und individuellen Erfahrungen, die Menschen während ihres politischen Engagements oder „alternativen Wohnens“ gesammelt und die sie geprägt haben. Die politischen Schwächen des Buches wiegen angesichts der Detailfülle, der thematischen Breite und der sehr sorgfältigen und ansprechenden Gestaltung des Buches – das ja sowohl ein Bilderbuch wie auch durch seine vielen Anhänge ein Nachschlagewerk ist – gering. Beiträge von solcher Qualität zur Geschichte anderer neuer sozialer Bewegungen in anderen Städten oder Regionen wären wünschenswert, werden aber weiterhin Einzelstücke bleiben.
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler und Referent für Geschichtspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.