Strategien des Wandels
»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise auch der politischen Machtzusammenhänge, so können doch während des allgemeinen Umwandlungsprozesses (der jedoch nicht mit der Machtergreifung endet) Phasen oder bestimmte Einzelkämpfe auftreten, die im Stande sind, die allgemeine Logik der städtischen Organisation zu verändern, allerdings in einer Weise, die immer unbeständig und unvollkommen bleibt.« Castells 1975, S. 37
Die Jahrestage urbaner Aufstände, Revolten und Besetzungsbewegungen sind dieses Jahr zahlreich. 150 Jahre sind seit der Pariser Commune vergangen, vor 10 Jahren fand der Arabische Frühling statt, die Occupy-Bewegung ereignete sich, das Movimiento 15-M besetzte zahlreiche Plätze in Spanien und in Athen wurde der Syntagma-Platz besetzt. Vor 40 Jahren, also 1981, war die Besetzungsbewegung in europäischen Städten, darunter auch in Wien, besonders stark. Die Wiener Stadtregierung zeigte in dieser Zeit eine ungewohnte Bereitschaft, Häuser für soziale und kulturelle Zentren zur Verfügung zu stellen. Grund dafür war weniger die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Räume, als – angesichts der starken Burggartenbewegung – vielmehr die Angst mit Verhältnissen wie im damaligen Zürich (Züri brennt) konfrontiert zu werden. Daraus hervorgegangen sind das WUK, eines der größten soziokulturellen Zentren Europas, das bereits nach zwei Jahren wieder geräumte Kultur- und Kommunikationszentrum Gassergasse und wenig später die heute noch existierende Rosa Lila Villa.
Rückblickend wird gerne die Frage gestellt, ob Bewegungen und Proteste erfolgreich waren, ob sie folgenlos verpufft sind oder ob sie langfristig gar die herrschenden Verhältnisse gestärkt haben. Dem Kapitalismus wird immer wieder bestätigt, dass er es hervorragend schafft, kritische Positionen zu vereinnahmen und aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Die Stadtforscherin und Politikwissenschaftlerin Margit Mayer weist darauf hin, dass beispielsweise die in den 1960er Jahren verbreitete Forderung nach der Freiheit individueller Lebensentwürfe im Fordismus zwar einen kritischen, gegenkulturellen Gehalt hatte, sich heute jedoch nahtlos in die neoliberale Ideologie einordnen lässt und in Werbespots in Szene gesetzt wird. Wobei dies natürlich nur gilt, wenn sich der Ausdruck der persönlichen Individualität mittels Konsum darstellt.
Occupy Wall Street wird beispielsweise gerne unterstellt, folgenlos geblieben zu sein, weil es keine politische Führung gab, keine konkreten Forderungen gestellt wurden oder es nicht gelungen ist bzw. gar kein Ziel war, sich mit lokalen Kämpfen zu verknüpfen. Vergessen wird dabei, dass Occupy zwar als Aktion unter diesem Namen verschwunden sein mag und keine überschriftsreifen Ziele erreicht hat, die Teilnahme jedoch vermutlich die allermeisten Aktivist*innen ganz individuell geprägt und verändert hat. Manche haben sich sicher enttäuscht zurückgezogen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele von ihnen in Folge politischen Gruppen beigetreten sind, selbst Initiativen gestartet oder sich für Bewegungen engagiert haben. Occupy fand nicht nur im Zuccotti Park, sondern an rund 1.000 Orten in den USA statt. 2016 haben ehemalige Occupy-Wall-Street-Aktivist*innen die Kandidatur von Bernie Sanders unterstützt, heute gibt es speziell unter jungen Leuten in den USA ein hohes Interesse für linke Politik. Bewegungen wie die Democratic Socialists of America (DSA), in der Alexandria Ocasio-Cortez Mitglied ist, konnten ihre Mitgliederzahlen in den letzten Jahren vervielfachen, sozialistische Zeitschriften wie Jacobin haben zigtausend Leser*innen.
Die akademischen Debatten um die richtigen Strategien für einen Wandel bewegen sich seit etlichen Jahren im Feld zwischen den Schlagworten Autonomie und Hegemonie oder wie es Chantal Mouffe 2005 in einem ihrer Buchtitel formuliert hat: Exodus und Stellungskrieg. In Österreich ist in den letzten Jahren der hegemoniepolitische Ansatz eindeutig präsenter, was auch mit einer Hegemonie der entsprechenden Theorieproduktion zu tun zu haben dürfte. »Stünde bei Ersteren das ›Abfallen vom Staat‹, das Desinteresse bzw. die Ablehnung klassischer Institutionen und die Etablierung autonomer Zonen im Fokus, so setzten Letztere auf die parteiförmig-parlamentarische Machtübernahme in staatlichen Schlüsselinstitutionen und den gezielten Kampf um Hegemonie« (Sörensen 2019, S. 32).
Bei dérive haben wir uns nie auf eine der beiden Seiten geschlagen. Konkrete Alternativen im Hier und Jetzt in Form präfigurativer Projekte – vor etlichen Jahren haben wir einen Schwerpunkt mit dem Titel Citopia Now veröffentlicht – haben uns jedoch immer speziell interessiert, weil wir die unmittelbare Erfahrung mit demokratischen Prozessen für besonders wichtig und nachhaltig halten. Trotzdem sehen wir die Beteiligung an Wahlen, wie beispielsweise durch die munizipalistische Bewegung, und den Versuch, Institutionen zu erobern und zu verändern zu suchen, für ebenso probat. Dass ein Scheitern dabei immer möglich ist, liegt auf der Hand. Eine solche Offenheit heißt aber nicht, dass jede Strategie zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter jedweden Umständen angebracht ist. Der Untersuchung der Bedingungen für die taktischen Möglichkeiten gesellschaftspolitischer Veränderungen sollte deswegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne die langfristigen inhaltlichen Grundsätze davon abhängig zu machen.
Ein Beispiel dafür, wie sich die politischen Bedingungen für soziale urbane Bewegungen in Buenos Aires in Zusammenhang mit dem Zugang zu Wohnraum im Laufe der Jahrzehnte gestaltet haben, stellen Judith M. Lehner und Alicia Gerscovich in ihrem Beitrag Widerstand und Gemeinschaft. Urbane soziale Bewegungen für das Recht auf Wohnraum in Buenos Aires vor. Sie zeigen, wie es die aktive Teilnahme an der Kommunalpolitik ermöglichte, die Voraussetzungen für selbstverwaltete Wohnraumproduktion entscheidend zu verbessern und sowohl ein Gesetz als auch ein Wohnbauprogramm dafür zu erreichen.
Der Beitrag von Marvi Maggio über das Programm Nehmen wir uns die Stadt der Bewegung und späteren Partei Lotta Continua zeichnet nach, wie eine Analyse der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen dazu geführt hat, den Raum der politischen Aktivitäten von der Fabrik auf den Stadtraum auszudehnen. Das Programm existierte nicht lange, markiert allerdings – zwei Jahre nachdem Henri Lefebvres Recht auf Stadt erschienen ist – sehr gut den Zeitraum, als der Kampf um den städtischen Raum (wieder) ins Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen rückte.
Bildung ist ein Thema, das politische Bewegungen stets begleitete, das Selbstverständnis von Universitäten und ihre Position im gesellschaftlichen Gefüge sind dementsprechend wichtig. Brigitte Felderer, Leiterin eines universitären Masterstudiums, unternimmt in diesem Sinn für diesen Schwerpunkt »eine Selbstbefragung zu den Bedingtheiten universitärer Strukturen, soziale Bewegungen anzustoßen, mitzutragen und Universitäten als Freiräume aufzumachen«.
Die Kritik am unhinterfragten Wachstum hat parallel zur Klimakrise in den letzten Jahren wieder stark zugenommen. Auch in Wien gibt es eine entsprechende Initiative, Degrowth Vienna, die sich jüngst besonders intensiv mit Strategien für eine sozial-ökologische Transformation auseinandergesetzt hat. Das große Ziel einer solchen Transformation ist für Degrowth Vienna Wien als solidarische Postwachstumsstadt. »Wie kann eine Stadtpolitik aussehen, die die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle bei gleichzeitiger Einhaltung planetarer Grenzen gestaltet?«, fragen (sich) Daniel Gusenbauer, Hannah Lucia Müller, Lisette von Maltzahn, Max Hollweg und Pedram Dersch, die Autor*innen des Beitrags für den Schwerpunkt.
Demokratische Räume – dem Thema haben wir letztes Jahr ein Schwerpunktheft gewidmet – sind nicht nur eine wichtige Voraussetzung, um Strategien eines gesellschaftlichen Wandels entwickeln zu können, sondern auch selbst Teil eines solchen Wandels, indem sie zur Demokratisierung der urbanen Gesellschaft beitragen. Björn Ahaus und Martina Nies stellen in ihrem Artikel Transformation von unten mit dem Fachgeschäft für Stadtwandel in Essen ein Stadtteilzentrum vor, das »mit seinem Angebot und seinen Aktivitäten lebendige Nachbarschaft, sozialökologischen Wandel und interkulturelle Gemeinschaft« verbindet.
Wenn also, um auf das Eingangszitat von Manuel Castells zurückzukommen, durch Einzelkämpfe eine Änderung der »allgemeine[n] Logik der städtischen Organisation« erreicht werden kann, dann ist das eine große Errungenschaft, die uns dem ›guten Leben für alle‹ einen großen Schritt näherbringen kann, auch wenn Castells zumindest damals (noch) meinte, so einen Erfolg durch ein ›nur‹ relativieren zu müssen. Die Sache mit der Umwandlung der Klassenherrschaft überlegen wir uns ein anderes Mal.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Sörensen, Paul (2019). Widerstand findet Stadt: Präfigurative Praxis als transnationale Politik ›rebellischer Städte‹. In: ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, 10(1), S. 29–48. https://doi.org/10.3224/zpth.v10i1.03 [24.09.2021].
Castells, Manuel (1975): Kampf in den Städten. Gesellschaftliche Widersprüche und politische Macht. Westberlin: VSA