Symmetrie und Sittlichkeit
Besprechung von »Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen« von Camillo Sitte und »AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau« von Gabrielle ReitererCamillo Sitte
Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889). Reprint
Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2003
256 S., EUR 26,80
Gabriele Reiterer
AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau.
Salzburg/München: Pustet, 2003
126 S., EUR 15,42
Die Aktualität, aber auch das Konfliktpotenzial von Camillo Sitte und seiner Schrift »Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen« ist offenbar ungebrochen. Das war nicht zuletzt bei der Podiumsdiskussion anlässlich der Präsentation von Gabriele Reiterers Buch zu Sitte zu spüren. Es schloss sich ein international besetztes Symposium an, das die jüngste Reprint-Edition von Sittes Buch begleitete. Anlass genug zu einer (durchaus empfehlenswerten) Vergnügungs-Re-Lektüre des Reprints in U- und Straßenbahn. Dabei fällt der zuweilen an Karl Kraus gemahnende Sprachwitz auf, der in so großem Gegensatz zu Otto Wagners dröhnendem Jahrhundertwende-Pathos steht: »So verlangt z. B. die bayrische Landes-Bauordnung von 1864 als ästhetische Hauptsache, dass bei Facaden alles zu vermeiden wäre, ,was die Symmetrie und Sittlichkeit verletzen könnte‘, wobei es wahrscheinlich der Interpretation vorbehalten blieb, gegen welches von beiden ein Verstoss als schrecklicher anzusehen wäre.«
In der Einleitung verteidigt Christiane Crasemann Collins Sitte – das ist leider immer noch nötig – gegen das alte Klischee des verhutzelten Romantikers mit weltfremder Sehnsucht nach dem putzigen Pittoresken und dem gekrümmten »Eselsweg« (Le Corbusier). Sitte ist sich des Wesens seiner Zeit durchaus bewusst: »Gesetzt den Fall, dass blos decorativ bei einer Neuanlage ein pompöses und malerisch möglichst wirkendes Stadtbild (...) geschaffen werden soll, so kann das mit dem Lineal, mit unseren schnurgeraden Straßenfluchten nicht bewirkt werden (...). Es müßten allerlei Krummziehungen, Straßenwinkel, Unregelmäßigkeiten künstlich im Plane vorgesehen werden (...). Könnte man denn an solcher erlogenen Naivität, an einer solchen künstlerischen Natürlichkeit wirkliche, ungeheuchelte Freude haben? Gewiß nicht. Die Freuden kindlicher Heiterkeit sind einer Culturstufe versagt, in welcher man nicht mehr so gleichsam in den Tag hineinbaut, sondern verstandesmäßig am Reißbrette die Anlagen construirt. Sowohl das moderne Leben als auch die moderne Technik des Bauens lassen eine getreue Nachahmung alter Stadtanlagen nicht mehr zu, eine Erkenntnis, der wir uns nicht verschließen können, ohne in unfruchtbare Phantasterei zu verfallen.«
Wenn Sitte der Gegenwart eine ursprüngliche Naivität abspricht, so meint man bereits Adolf Loos zu hören. Sitte reflektiert in diesem Sinn auch den Wandel sozialer Kommunikationsmechanismen. Dennoch hat der öffentliche Raum nach Sitte als semantisches System von gesellschaftlicher Relevanz zentrale Bedeutung. Entsprechend richtet sich seine Kritik an der modernen Großstadt auf ihre mangelnde Fähigkeit zur Schaffung auch räumlich sinnvoller Bezüge zwischen den einzelnen Funktionsbereichen des sozialen Organismus Stadt. Der Weg dieser Auffassung führt über Loos, Oskar Strnad und Josef Frank weiter zu Bernard Rudofsky und Christopher Alexanders »pattern language«.
In Wien bildete Sittes Theorie die Grundlage für den Siedlungsbau der zwanziger Jahre, den neben Loos, Strnad und Frank vor allem Grete Lihotzky, Franz Schuster, Franz Schacherl sowie Otto Neurath und Hans Kampffmeyer propagierten. Seine Theorien fielen jedoch auch bei vielen im »Roten Wien« beschäftigten Wagner-Schülern wie Karl Ehn, Hubert Gessner, Kaym/Hetmanek, Hoppe/Schönthal und Schmid/Aichinger auf fruchtbaren Boden. Vor allem ist aber die Wiener Moderne, besonders Josef Franks Architektur, ohne Sitte nicht denkbar: Zum städtebaulichen Aspekt kommt die Übertragung von Sittes Überlegungen zur Platzbildung und Wegeführung auf das Haus mit »Weg und Platz« nach dem Vorbild von Albertis »domus minima civitas«. Nach Frank ist das Haus ein gewachsener und in ständiger Veränderung begriffener Organismus mit Wegeführungen in gebrochenen Linien, die als geschlossene Räume aufgefasste Plätze bzw. Zimmer nur tangieren.
Crasemann Collins, die Sitte im Diskurs der Moderne als Vertreter des »kulturalistischen« im Gegensatz zum »progressivistischen« Modell Le Corbusiers verortet, macht auch seinen kinästhetischen Zugang zu Fragen der Wahrnehmung deutlich. Hier liegt auch der Schwerpunkt von Gabriele Reiterers Buch, einer Kurzversion ihrer Dissertation, das in seinem Titel »AugenSinn« die Mode des Großschreibens von Buchstaben mitten im Wort mitmacht, was Germanisten missfallen wird. Es ergänzt die Sitte-Forschung um Hintergründe zu Sittes Querverbindungen zu den wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit, insbesondere in Naturphilosophie und physikalischer Wahrnehmungstheorie. Eine abschließende Bitte für eine nächste Auflage angesichts der Fülle der erwähnten Personen: ein Namensregister!
Camillo Sitte
Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889). Reprint
Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2003
256 S., EUR 26,80
Gabriele Reiterer
AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau.
Salzburg/München: Pustet, 2003
126 S., EUR 15,42
Iris Meder