Tech-Urbanismus, (an)greifbar gemacht
Besprechung von »Technopolis. Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area« herausgegeben von Katja Schwaller.
Katja Schwaller (Hg.)
Technopolis. Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area
Berlin/Hamburg: Verlag Assoziation A, 2019
232 Seiten, 19,80 Euro
Die Folgen der aktuellen Digitalisierung und Automatisierung werden extrem unterschiedlich eingeschätzt. Während Aaron Bastanis anregende, überraschend techno-optimistische Manifest-Publikation Fully Automated Luxury Communism vom nahen Ende des Kapitalismus spricht und die Befreiung des Menschen im automatisierten Kommunismus erkennt, berichtet Katja Schwaller in ihrer nicht minder lesenswerten Publikation Technopolis von den aktuellen urbanen Konflikten in der Metropolenregion San Francisco / Oakland / Silicon Valley. In dem 100 Kilometer langen Bay-Bereich befinden sich die teuersten Flecken der Welt, wo selbst Software-Ingenieure im Auto wohnen und die DrecksarbeiterInnen ewige Strecken in miesen öffentlichen Transportmitteln zurücklegen müssen, während die vollklimatisierten Google-Busse an ihnen vorbeiziehen. Doch neuerdings entdecken Tech-Unternehmen wie Twitter oder Uber den Vorteil zentrumsnaher Ansiedlungen in San Francisco selbst, und heizen den Wohnungsmarkt weiter auf.
Eine Entlastung durch Verdichtung oder Wohnhochhäuser wird hier ebenso egoistisch wie legal verhindert. Vormalige Schwulenquartiere sowie Nischen für hispanische und obdachlose Menschen sind durch die Gentrifizierung normalisiert und nach den Maßgaben des Hipster-Konsumismus zugerichtet worden. Aber auch das linksalternative und vormals schwarz-aktivistische Oakland auf der anderen Seite der Bay wird zunehmend zwangsenteignet und hyperkapitalistisch umverteilt.
Tech- und Immobilien-Kapitalismus arbeiten Hand in Hand; es profitieren die Quadster, also junge, ernährungsbewusste, hart arbeitende und bleiche Tech-Zuzügler des Quad umgetauften Latin@-Viertels von San Francisco. Für ihren Konsum und ihre Lebensweise werden ganze Stadtviertel diskursiv wie ganz real umgekrempelt und neu formatiert. Auf die vormalige und als lästig erscheinende Bevölkerung hetzen sie die Polizei. Insofern ist es kein Zufall, dass sich an beiden Enden der Google-
Buslinien Protest regt und sich bis in die Kantinen der nur für die Privilegierten paradiesisch ausgestatteten Tech-Anwesen zieht. Der rundum versorgende Campus für die einen bedeutet Campen am Straßenrand für die anderen: »Etwa ein Sechstel der Bevölkerung in der San Francisco Bay Area lebt in Armut oder leidet an Hunger und Gesundheitsproblemen«, so der kritische Geograph Richard Walker. Rund 20.000 davon leben auf der Straße oder im Auto.
Hier lässt sich das Silicon Valley Paradox studieren, »wenn ein Vollzeitjob in einer der firmeneigenen Cafeterien, wo die hochbezahlten Angestellten der Tech-Industrie alles kostenlos bekommen, nicht mehr ausreicht, um zuhause genügend Essen auf den Tisch zu bringen«. Das von einer Facebook-Neuansiedlung bedrohte East Palo Alto war und ist industriell, ethnisch und nicht selten von Hunger oder Wasserknappheit geprägt. Die Black-Power-Bewegung wollte EPA 1968 deshalb in Nairobi umbenennen.
Das Verhältnis zwischen den Techies und dem Servicepersonal erinnert an Südstaaten-Sklaverei: »Man rackert sich stets ab, während rund herum alles im Überfluss schwimmt. Und das war schon immer so«, so die aktivistische Stadtforscherin Ofelia Bello. »Die Bay Area schwimmt auf einem ganzen Strom an Mehrwert, der rund um die Welt erwirtschaftet und dann von weltumspannenden Konzernen zurück in die Metropolenregion gepumpt wird.« (Richard Walker) Die Tech-Kreuzschiffe aus rundumversorgter Arbeit, Wohnen und Freizeit zerspalten ihre angesteuerten urbanen Ankerplätze. San Francisco ist mit einer Million BewohnerInnen ja eine bescheiden große Metropole, die sich durch strenge Bauauflagen ihre Beschaulichkeit gegenüber im Umland immer weiter steigenden Obdachlosenzahlen bewahrt.
Mit der Erfindung des Silikon-Chips in den 1950er-Jahren entstand, was um 1970 Silicon Valley genannt wurde: Apple-Campus statt Apfelbäumen. In der vormals agrarisch geprägten Bay Area beförderte der astronautisch-militärische Komplex sowie die rechnerbasierte Fantasy-Filmindustrie mittels hoher staatlicher Subventionen die (forschungsbasierte) Computerchip-Industrie. »Es ist das kollektive Gebilde eines langen Jahrhunderts an Forschung, Industrie und Arbeit« (Richard Walker), also eine »staatliche ›Wohlfahrt‹ für Konzerne«, wie die Herausgeberin diese umfassende Standortpolitik benennt.
Heute prägen nicht mehr die ins chinesische Perlflussdelta umgesiedelten Fabriken, sondern Areale zur Entwicklung von internetbasierten Ökosystemen sowie die dazugehörigen KapitalanlegerInnen die einstmalig von Obstplantagen geprägte Landschaft: »Kein anderer Ort der Welt verfügt über so viel Risikokapital oder eine so große Anzahl von Venture-Capital-Firmen«, schreibt Richard Walker: »Die Tech-Wale verschlingen Startups wie Krill.« Die doppelte Patentdichte gegenüber New York geht mit deutlich höheren Wohnungspreisen einher.
Urban Tech umfasst eine ganze Bandbreite von Zulieferindustrien: »Der Tech-Wald verfügt (...) über ein dichtes Unterholz an unterstützenden Dienstleistungen: auf Verträge, Geschäftsgründungen und intellektuelles Eigentum spezialisierte Anwaltskanzleien, Venture-Kapitalist*innen und andere Finanzgenies sowie ein ganzer Reigen von Buchhalter*innen, Unternehmensberatungen und andere Geschäftsleistungen. Des Weiteren gibt es Forschungsunternehmungen innerhalb von Firmen, an den Universitäten (...) und vom Staat. Häufig übersehen werden die Bauunternehmen und Immobilienfirmen, die Fabriken und Büros bauen und nach Wunsch ausstatten, die für den Unterhalt verantwortlichen Firmen, die alles am Laufen halten, und weitere Subunternehmer, die für die Verpflegung und das Wohlbefinden der Angestellten zuständig sind.« (Richard Walker)
Die Schweizer Publizistin, Forscherin und DJane sowie Herausgeberin, Interviewerin und Übersetzerin Katja Schwaller trägt in ihrem Sammelband über ein Dutzend Beiträge zur Bay Area sowie Ausblicke auf Europa zusammen, schaut auf Protest-Wandbilder und soziale Projekte und lässt in Interviews die politische Szene zu Wort kommen. So macht das Anti-Eviction Mapping Project mittels Datenvisualisierung und Storytelling Big Tech sichtbar und (an)greifbar: Wie erkennt man die »tieferliegende Geografie von Kreditvergabe und Spekulation«, und welche Rolle spielt dabei Airbnb, sesshaft in San Francisco und verantwortlich für zahlreiche Wohnraumumnutzungen? So setzt das aktivistische Kollektiv 311-Anrufe in Beziehung zum sozialen Umbau der Metropole. Das Beschwerdetelefon bei »Beeinträchtigungen der Lebensqualität«, welches eigentlich zum Melden von Schlaglöchern gedacht war, wird zunehmend für rassistischen oder Klassen-Hintergrund genutzt. Zynischerweise gibt es hierfür nun auch eine neue App, sodass sich die Zahl der Meldungen in den letzten Jahren verneunfacht hat und so zur wachsenden Kriminalisierung von Armut beiträgt. Das Anti-Eviction Mapping Project ist allerdings »nie Anti-Tech, sondern Anti-Gentrifizierung und Anti-Verdrängung« und zeigt, das Tech per se nicht das Problem darstellt.
Rebecca Solnits Beitrag geht der langen Geschichte ethnisch-rassischer Verdrängungspolitik in Mission, Castro oder South of Market nach. Beim Coworking-Space Wework sind außer beim Empfang oder der Security als schwarze Personen nur Hip-Hop-Stars oder Angela Davis präsent – auf der Tapete. »Wir leben nun aber in einer Zeit, in der einer unserer größten kulturellen Schätze – Urbanität – geplündert wird«, schreibt die Queer-Aktivistin Sarah Schulman. Die Widersprüche sind immens. »Unsere Eingangsstufen sind mit Taubenscheiße und Bierflecken der lauten, spätnächtlichen Zusammenkünfte von Tagelöhnern übersät. Aber genau hier (...) bastelte unser Kollektiv aus Künstlern und Aktivistinnen am Traum einer sozialistischen Landnahme herum«, beschreibt die Autorin Adriana Camarena die Situation im gerichtlich erkämpften Projektraum Pigeon-Palace.
Gegen die Tech-Industrie macht sich vermehrt Widerstand breit; sei es gegen das Amazon-HQ2 in New York oder den vergleichsweise kleinen Google-Campus in Berlin. Die »Protest-Choreografie« des »strömungsübergreifenden Teilbereichskampfs« (Stefan Niedrichlöhner) gegen Google kam ohne formelle Organisation aus und bildet sich im Idealfall entlang der Konfliktlinien der Globalisierung. Im Vorwort wird die globale Reichweite der Technopolis bis zu den Minen im Südkongo oder den Sweatshop-Fabriken in Südchina schon einmal angesprochen.
Jochen Becker ist Autor, Kurator und Dozent in Berlin. Er ist Mitbegründer von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten.