Die Geburt der Stadt des 19. Jhd. aus dem Geist des Bergwerks
Geschichte der Urbanität, Teil 10; Die Stadt im 19. Jahrhundert IIEs gibt einen geschichtsphilosophisch bemerkenswerten Zusammenhang, auf den Lewis Mumford im Kapitel »Coketown« seines Werkes »Die Stadt« aufmerksam macht: Die Stadt des 19. Jahrhunderts ist ein atmosphärisches Komplement des Bergwerks, dessen schmutzig graue Welt in die Stadt hineinverlegt wurde. So schreibt er über die Verbindung von Bergwerk, Stadt und Eisenbahn
Es gibt einen geschichtsphilosophisch bemerkenswerten Zusammenhang, auf den Lewis Mumford im Kapitel »Coketown« seines Werkes »Die Stadt« aufmerksam macht: Die Stadt des 19. Jahrhunderts ist ein atmosphärisches Komplement des Bergwerks, dessen schmutzig graue Welt in die Stadt hineinverlegt wurde. So schreibt er über die Verbindung von Bergwerk, Stadt und Eisenbahn:
»Von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an wurde die Umwelt, die früher auf den eigentlichen Standort des Bergwerks beschränkt war, von der Eisenbahn überallhin getragen. Wohin auch die eisernen Schienen liefen, das Bergwerk mit seinem Abfall lief mit. Während die Kanäle der eotechnischen Phase mit ihren Schleusen und Brücken und Zollhäusern, mit ihren gepflegten Ufern und gleitenden Kähnen ein neues ästhetisches Element in die ländliche Umgebung gebracht hatten, schlugen die Eisenbahnen der paläotechnischen Phase ihr riesige Wunden. (...) In den Grubenstädten konnte man den typischen Vorgang des Abbaus, des Untergrabens, am deutlichsten wahrnehmen, aber die Eisenbahn übertrug diesen Prozess im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts auf fast alle Industrieorte.«[1]
Zudem ist heute weitgehend vergessen, dass viele der wichtigsten Erfindungen, die nun in der Stadt ihre Anwendung fanden, aus dem Bergbau stammten. Die Eisenbahn, der Aufzug, der unterirdische Tunnel sowie die künstliche Beleuchtung und Belüftung wurden schon Jahrhunderte vor der industriellen Revolution im Bergbau erdacht und erprobt, selbst der Prototyp der Dampfmaschine diente ursprünglich zum Auspumpen der Schächte.[2] Das Bergwerk war also in vielerlei Hinsicht eine Simulation städtischer Verhältnisse der Zukunft, nicht nur für mechanische Erfindungen, sondern auch für die Entwicklung jenes harten und selbstbewussten Persönlichkeitstypus des Bergmanns, dessen Tätigkeit durch die ständige Konfrontation mit dem Tod Ähnlichkeit mit dem Beruf des Soldaten aufweist und auch ein vergleichbares Ethos des Heldentums und der Selbstaufopferung hervorbringt. Aus dieser Figur wird die spätere Gestalt des Arbeiters mit seinen heroischen Elementen des Helden der Arbeit und des Klassenkampfes entwickelt.
Zugleich übertragen sich Elemente des destruktiven Charakters des Bergwerks, bzw. auch der seiner Besitzer mit ihrer Rücksichtslosigkeit der Umwelt gegenüber, auf die Stadt und die sozialen Verhältnisse. Dazu kommt der Umstand, dass die Metallurgie seit Jahrtausenden mit der Idee des Opfers und des Selbstopfers verbunden ist. Die Herstellung von Metallen wird als Schöpfungsakt erlebt, der Blutopfer notwendig macht. Die Schmiede sind Nachfolger der Schamanen und spielen aufgrund ihrer antiterritorialen Genese immer eine zwielichtige Rolle, die sich in vielerlei Hinsicht in der Industrie des 19. Jahrhunderts fortsetzt. Die großen Risiken des Bergbaus wurden durch die Aussicht auf die großen Gewinne aufgehoben, der Geist des Kapitalismus kam hier durch die industrielle Revolution zu einer frühen Blüte. Denn der Bergbau stand im Kontext der Gießereien und der Eisenindustrie, die wiederum durch ihre Produkte die Voraussetzungen zur Maschinenproduktion schufen und die Einführung weiterer neuer Industrien wie der Textil- oder Glasindustrie ermöglichten.
Diese Synthese wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine ermöglicht, die ihrerseits aus der Verbindung von Mechanisierung und Abbau hervorging. Zwei konträre Erfahrungen, die Beobachtung der Bewegungen der Himmelskörper, die die Erkenntnis eines Höchstmaßes an mechanischer Regelmäßigkeit ermöglicht hatte, und der physikalische Vorgang des Zerlegens, Pulverisierens, Ausglühens und Schmelzens, der durch die Alchimisten begonnen worden war, führten zur Entwicklung der Dampfmaschine als Antriebskraft. Der Ort, wo die Dampfmaschine stand – vor der Entwicklung der Eisenbahn waren dies in der Regel die Kohlenreviere –, konzentrierte die Kraft der Maschine und bereitete die Technik der Ballung vor, indem er die Produktion zentralisierte, die Materialien zusammenführte und die Arbeiter vom Land ansaugte. Durch die neuentwickelten Transportsysteme der Eisenbahn konnte die Kohle auch in die Stadt geliefert werden und machte damit die Dampfmaschine vom Standort der Kohlenförderung unabhängig und eine Verlagerung an strategisch geeignetere Orte möglich.
Energie und Stadtgestalt
Daraus resultieren die drei neuen, zentralen urbanen Elemente des 19. Jahrhunderts[3]: die Fabrik, die Eisenbahn und der Slum, wobei die Fabrik zum Kern des neuen städtischen Organismus wurde. Die Überlagerung der alten mittelalterlichen Stadt durch diese neue Struktur, deren Ursprung im Bergwerk liegt, beruhte auf einer völlig anderen topographischen Logik, die, von utilitaristischen Motiven gespeist, für die Bildung des neuen Stadtgrundrisses verantwortlich wurde. Zunächst wurde die Stadt durch die Zufuhr von Kohle in die Lage zur Erzeugung einer ungeheuren Menge von Energie versetzt. Diese Anreicherung und Umwandlung von Kohle in kinetische Energie erfolgte in den Anlagen der Fabriken, den Orten der Maschine. In Folge dieser an den Paradigmen einer energetisch bestimmten Produktionslogik orientierten Raumplanung wurde die Fabrik zum jeweiligen Zentrum eines bestimmten geografischen Raumes und beanspruchte, ihrem Rang einer zentralen Schnittstelle entsprechend, ungehinderte Wege der Zufuhr durch Eisenbahnen und der Abfuhr durch Wasserwege und Kanäle, zumeist natürliche Wasserstraßen, nämlich Flüsse.
Als zusätzliches, der Logik des Produktionsprozesses untergeordnetes Element wurde der Arbeiter benötigt, der durch die Abwanderung vom Land in die Nähe seines Lebensmittelpunktes, der Fabrik, umgesiedelt wird. Die Landbevölkerung, die für viele Jahrhunderte einen durch die Kirche zentrierten Raum bewohnt hatte, lebte nun im Umkreis eines neuen gemeinschaftlichen Mittelpunktes, der Fabrik. Dieses neue Zentrum unterwirft nun die soziale und natürliche Umwelt seinen Bestimmungen und Zwängen.
Patrick Geddes nannte diese neuen städtischen Gebilde, die weder isoliert auf dem Land lagen noch an einen historischen Kern gebunden waren, Conurbation, die Kohlenballung.[4] Sie erstreckten sich mit gleichmäßiger Dichte über große Flächen ohne Mittelpunkte in einem städtischen Brei, und es existierten keine politischen Institutionen, die ihre Angehörigen zu einem aktiven Stadtleben zusammenschließen konnten. Auch wurden die Überschüsse kaum in diese Industriedörfer investiert. Die Umweltfolgen waren gravierend.
Die Fabriken beanspruchten die besten Standorte am Wasser aus Gründen des Wasserbedarfs bei der Produktion und vor allem der einfachen Entsorgung sämtlicher Abfälle. Die Flüsse wurden für Generationen in offene Abfallkanäle der Färbereien und der chemischen Industrie verwandelt. Die Wohnhäuser für die Arbeiter und ihre Familien wurden von Spekulanten in unmittelbarer Nähe der Fabriken, oft in den frei gebliebenen Räumen zwischen Lagerschuppen, Hallen und Bahnhöfen, angelegt. Diese Arbeiterhäuser waren hart an den Rand von Stahlwerken, Färbereien, Gaswerken oder Eisenbahnschächten erbaut und oft auf mit Asche, Glasscherben und Müll aufgeschüttetem Gelände oder am Rand einer Kohle- oder Schlackenhalde gelegen. Der Gestank der Abfälle, der Qualm der Schornsteine und der Lärm der Maschinen begleiteten die Bewohner ihr ganzes Leben.
Eisenbahn. Der Bahnhof als transitorisches Bauwerk
Die zweite Formkraft ist die Eisenbahn, die mehr als jeder andere Einzelfaktor auf die viktorianische Stadt einwirkt. »Sie war verantwortlich für die dichte Bebauung, sie prägte den Charakter der Innenstädte ebenso wie den der öden Außenbezirke und der Vorstädte. Sie bestimmte Tempo und Ausmaß des Wachstums; und sie stellte wahrscheinlich den wichtigsten Faktor auf dem städtischen Immobilienmarkt des 19. Jahrhunderts dar.«[5] Die Bahn verändert durch die Schienenschächte und die neuen Bahnhöfe die Physiognomie der Stadt enorm: »die Stadtpläne werden innerhalb einer Generation uniformisiert durch die mächtigen geometrischen Linien, auf denen die Ingenieure die Bahnen in sie hineinführen.«[6] Die Bahnen wurden zumeist an die Peripherie der alten Zentren herangeführt, wo auch die Bahnhöfe angelegt wurden. Der Bahnhof ist daher – schon aufgrund seiner Lage außerhalb der alten Stadtmauern – ein Fremdkörper mit ambivalentem Charakter, der sich auch in seiner Gestalt insofern ausdrückt, als er als mi-usine und mi-palais bezeichnet wurde (halb Fabrik, halb Palast). Die Kombination aus den in Steinarchitektur errichteten Empfangsgebäuden und den Eisen-Glas-Hallen des Bahnhofes stellten eine Novität für die damalige Zeit, lange vor der Erfindung des Hybriden, dar. Diese Kopfbahnhöfe prägten das Gesicht der europäischen Großstädte und leisteten in einer großartigen Konzeption der Schleuse die Vermittlung zweier Verkehrsräume. Das klassizistische Empfangsgebäude aus Stein gehört zum urbanen Raum und übergibt oder übernimmt den Verkehr aus dem industriellen Bereich der gläsernen Halle der Eisenbahn. Der Reisende, der in der Stadt ankommt, erfährt eine Verkleinerung des unbegrenzt anmutenden Raumes der durchfahrenen Landschaft bereits in der Halle, ehe er im steinernen Gebäude auf intimere, städtische Dimensionen transformiert wird. Der Abreisende erfährt eine Vergrößerung ins Erhabene beim Durchschreiten der Räume, ehe er die Reise mit der Eisenbahn antritt, ein Mitte des 19. Jahrhundert vielfach noch dramatisches Ereignis.
Ab 1860 jedoch werden die Warteräume mit der Schleusenfunktion, die zwischen Empfangsgebäude und Bahnsteighalle lagen, an die Peripherie verlegt und durch eine direkte und offene Verbindung abgelöst.[7] Die Reisenden hatten sich an die jähen Übergänge gewöhnt. Dennoch erinnert das Motiv des Triumphbogens, das viele Bahnhöfe im Historismus beibehalten, an dessen ursprünglich transitorische Funktion als Tor zwischen dem Bewegungsraum und dem Stadtinneren.
Hydrokratie. Kontrolle der Ströme
Eine weitere Dimension der urbanen Erweiterung ist die Schaffung einer unterirdischen Stadt, in der ein riesiges Geflecht von Versorgungsanlagen unter der Erde verlegt wird. Tunnel und Untergrundbahn stellen ein weiteres Erbe des Bergwerkes dar, waren aber auch schon in der Antike und in späteren Zeiträumen in der Form von Stollen und Laufgräben zur Einnahme barocker Festungen bekannt. Die Unterminierung der Stadt ist immer mit Elementen des Bedrohlichen verbunden und unterliegt daher zumeist weitgehend der Verdrängung. Die Stadt, die so sehr die Notwendigkeit des Sichtbaren betont, schweigt über ihre dunklen Tiefen. Die städtische Unterwelt gleicht einem Totenreich, und die Metaphern, die ein Journalist zur Beschreibung eines Abwasserkanals in Piccadilly verwendete, haben immer noch Geltung: »Es war wie die Überquerung des Styx. Der Nebel war uns von den Straßen her gefolgt und trieb über dem stark riechenden, fleckigen Fluss wie ein Hadesstrom.«[8]
Dieser Schleier der Verdrängung erstreckt sich aber auch auf die Versorgungs- und Entsorgungskanäle, als ob man den eigenen Körper in seinem Inneren nicht sehen wollte, weil uns dieser Blick in Kenntnis von unerträglichen Wahrheiten setzen könnte. Wie die Geschichte der Abfallbeseitigung zeigt, wehrten sich die Städte aus verschiedenen Motiven, auch der Angst vor der Unterminierung, lange gegen den Bau solcher Anlagen. Erst die über Jahrzehnte währende Unerträglichkeit des Gestankes führte in London zur Errichtung geeigneter Anlagen. Wasserleitungen erhöhten die Standards der Hygiene, Kloaken entsorgten die unbrauchbaren Materialien, Gasrohre und elektrische Kabel bildeten ein großes Versorgungsnetz zur Energieverteilung, die U-Bahn eine enorm leistungsfähige Verkehrsanlage. Durch diese Kanalisierung wird auch eine Strategie der Herrschaft über das Stadtterritorium verfolgt. Die klassische Untersuchung von Wittfogel, der die Entstehung der orientalischen Hochkulturen durch die Kontrolle über die Bewässerungsanlagen erklärte, ist in ihren Grundideen auch auf die Stadt anwendbar. Macht und Kanalisierung, das heißt Kontrolle über die Strömungen, weisen enge Zusammenhänge auf. Wenn in der Stadt des 19. Jahrhunderts erstmals systematisch eine unterirdische Vernetzung durch Röhren, Leitungen, Kanäle und Pipelines erfolgt, so erlangen diese Versorgungsleistungen einen Doppelcharakter, der sich durch die unterschiedlichen Zugangschancen ergibt. Wer über die Leitungen verfügt, mit denen Gas, Wasser, später Strom und die Menschen selbst transportiert werden, wer die Ermächtigung zum Transport und dessen Instrumente in der Hand hat, der hat kraft der Kontrolle der hydraulischen Systeme auch die Stadt in der Hand. Die Stadt beginnt im 19. Jahrhundert den Ausbau zu einem durchkanalisierten System, das in »Flüssigkeiten« denkt und in der Steuerung von Strömen Erfahrung sammelt. Das Prinzip der Ökonomie der Ströme ist einfach, es beruht auf der Nutzung des Gefälles zwischen Orten mit höheren Mengen benötigter Substanzen und Orten mit geringeren Mengen. Durch die Strömung wird bei Bedarf aus dem Reservoir in die Räume des Mangels umgeleitet. Dieses Grundprinzip, das ja auch in der Ökonomie gilt, erzeugt zugleich ein System von Nachfrage, Werten und knappen Gütern.
Für die Stadt erzeugt dies eine Umformatierung von einem Raum der Orte, die durch besondere Wege verbunden sind, und diese achsialen Verbindungen durch besondere gestalterische Qualitäten auszeichnet, indem man ihren städtischen Landschaftscharakter unterstreicht – als Charakterisierung der Idee diene hier die barocke Planung – zu einem Raum des Netzes, der städtisches Gelände in Interessensgebiete aufteilt, der ein Territorium feinster Durchäderung und Kontrolle herstellt. In der barocken Stadt war Gestalt und Bedeutung symbolisch artikuliert, es gab eine Differenzierung in Orte und Wege, es gab eine Hierarchie der Orte (Paläste, Kirchen etc.) und ein System der Straßenverbindungen, deren Bedeutung durch besondere Gestaltung auch sichtbar gemacht wurde. Im 19. Jahrhundert wurde eine zusätzliche Bedeutungsebene unsichtbarer Natur eingezogen, indem der Raum durch die Struktur des Versorgungsnetzes, das nicht mehr mit der Symbolik des städtischen Raumes unmittelbar verbunden war, homogenisiert wurde. Die Einrichtung einer U-Bahnstation folgte einer Logik der Ströme, die nicht mehr in unmittelbarem Zusammenhang mit der Symbolik der älteren urbanen Anlage stand. Orte gelten von nun an nur mehr aufgrund ihrer strategischen Bedeutung, die sie im Kontext des Netzes haben und entweder durch Fülle oder Mangel gekennzeichnet sind, die ihnen jeweils aufgrund ihrer Position innerhalb der Verteilung von Mengen zukommt.
U-Bahn
Die weltweit erste U-Bahn, die in London ab 1860 gebaut wurde, demonstriert das eben Gesagte in anschaulicher Weise. Sie verband das Zentrum mit der Peripherie und veränderte durch diesen Anschluss der äußeren Gebiete die Immobilienlage radikal. Dieser Vorgang hatte weit reichende soziale Folgen, indem er das Zeit-Raum-Gefüge der Stadt von Grund auf veränderte und eine völlig neue Situation des räumlich Erreichbaren herstellte. In London kontrollierte seit Jahrhunderten eine kleine Zahl aristokratischer Grundbesitzer große Teile der innerstädtischen Areale – übrigens auch noch heute, was paradoxerweise der Stadtentwicklung oft gut tut, da diese Besitzer aufgrund ihres immensen Immobilienreichtums keine überzogenen Renditeerwartungen haben –, unterlagen aber aufgrund des Mangels gesetzlicher Bestimmungen und der fehlenden zentralen Verwaltung keinerlei Einschränkungen.
Zahlreiche Projekte der Stadterneuerung führten zum Abriss alter Slums und zur Absiedelung der Bewohner in stadtnahe Elendsviertel in Eastend und südlich der Themse, einer frühen Form der Gentrification. Immerhin erlaubte das billige Massentransportmittel der U-Bahn nun eine Verbesserung der Lebensverhältnisse durch billigeres Wohnen weit außerhalb der Stadt. Zugleich wurde der Erwerb oder die Miete billiger Reihenhäuschen mit kleinen Gärten für Arbeiter erstmals möglich, was als eine für europäische Verhältnisse vorbildliche Entwicklung gelten konnte und auch von großem Einfluss auf die späteren Siedlerbewegungen in Österreich und Deutschland war.
Allerdings wurde damit auch die unkontrollierte Ausdehnung Londons gefördert. Überdies konnte man in der City erstmals das Phänomen der schwankenden Dichte des Zentrums nach Tageszeiten beobachten. Das Prinzip des Blutkreislaufes, der durch Arterien und Venen die Versorgung des Organismus übernimmt, kam nun auch in der Stadt in Anwendung: Die Zufuhr von Arbeitskräften erfolgte morgens und ihre Ableitung am Abend.[9]
Ausdehnung
Allerdings ging damit auch eine bemerkenswerte Entgrenzung der Stadt einher, die freilich in London Tradition hatte. Bereits 1580 hatte ein elisabethinischer Erlass verboten, »dass in einem bisher bewohnten Haus mehr als nur eine einzige Familie untergebracht wird oder hinfort wohnt«, um damit die Überbevölkerung einzudämmen und gleichermaßen »die Errichtung von Häusern im Umkreis von drei Meilen vor den Stadttoren zu verbieten.«[10] Dennoch ist die Vorstellung, dass ein Haus nur von einer Familie bewohnt werden solle, die auch die Stadtentwicklung des 17., 18. und vielfach sogar des 19. Jahrhunderts prägte, von tiefergehenden konservativen Vorstellungen, die zumindest aus dem Mittelalter stammen, gekennzeichnet. Einen Hinweis zur Interpretation dieser bemerkenswerten Tatsache liefert vielleicht der Umstand, dass die Zulassung von Neubauten nur bei einer Neuerrichtung »auf alten Fundamenten«[11] gewährt wurde.
Die außerordentlich tiefe Beziehung der Engländer zum Grund findet ja auch in der Tatsache Ausdruck, dass die Titel der Aristokraten immer an das Land gebunden waren und daher nur der Älteste Land und Titel erben konnte, während die Geschwister nur noch ein bis zwei Generationen niedere Titel führen durften, ehe sie wieder in den Bürgerstand zurücksanken. Möglicherweise hatten aufgrund des strengen genealogischen Prinzips das Haus und der Grund den Vorrang vor gesamtstädtischen Forderungen, die dieses Recht eingeschränkt hätten. Überdies bestand Groß-London bis 1888 aus Dutzenden von Gemeinden ohne gemeinsame Stadtregierung, außer einem Metropolitan Board of Works, und hatte daher keine gemeinsame Raumplanung, was die Stadt in einen völligen Gegensatz zu Paris und der zentral gelenkten Umformung durch Haussmann stellte. Der vom protestantischen Bewusstsein geprägte Individualismus der Engländer drückte sich offenbar in einer spezifischen und konsequenten Anthropologie des Hauses aus, die ein Primat gegenüber anderen, eher gemeinschaftlich orientierten Formen des größeren Mietshauses zur Folge hatte. Dazu zählte ein Stückchen Grün, das selbst im kleinsten Hinterhof präsent war, um die Illusion des Naturraumes aufrecht zu erhalten.
Im Zusammenhang mit dem englischen Haus muss auch unbedingt auf Ruskins Werk »Stones of Venice« hingewiesen werden, dessen Effekt darin bestand, dass nun ein Baustil der oberitalienischen Gotik mit farbiger Backsteinarchitektur, »streaky bacon style«, nicht nur ganz England und seine Kolonien, sondern auch den gesamten nordamerikanischen Raum eroberte und bis heute in größter Dichte präsent ist. Dieses erfolgreiche Geschmacksmuster, das ursprünglich im Sinne der nationalen Erneuerung an die Gotik erinnern sollte, dessen Wirkungsgeschichte sich nicht mit Ruskins Intentionen deckte und dessen massenhafte Verbreitung von Ruskin auch bald als unheimlich empfunden wurde, stellt noch heute eine universale urbane Textur angloamerikanischer Städte und möglicherweise die erfolgreichste Designidee aller Zeiten dar.
Soziale Enthemmung, Vergnügungsmasse
Die Entgrenzungserscheinungen der Stadt äußern sich nicht nur in der extremen Ausdehnung, sondern vor allem im völlig neuen Phänomen der Vergnügungs-Masse. Die Vorstellung, die diese Masse abgibt, unterscheidet sich deutlich von dem, was Rousseau als das Schauspiel des Festes bezeichnet hat, wobei das Volk ein Schauspiel freudiger Befriedigung beim Winzerfest bietet, und das gewissermaßen ein Vorspiel zum Fest der Revolution darstellte. Durch keine Tradition gefestigt, durch kein Ritual geordnet, durch kein Element des Theaters zivilisiert, wird hier erstmals in der Geschichte ein rohes, trostloses Ausleben der Primärtriebe praktiziert, wie der Bericht Dostojewskis aus dem Kapitel mit dem bezeichnenden Namen »Baal« zeigt: »Man erzählt mir zum Beispiel, dass sich jeden Samstagabend eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Kindern wie ein Meer in die Straßen der Stadt ergießt, sich besonders in gewisse Stadtteile drängend, um dann die ganze Nacht bis fünf Uhr früh morgens Feiertag zu halten, das heißt sich viehisch satt zu essen und voll zu trinken nach der ganzen durchhungerten Woche. In den Fleisch- und Esswarenläden brennt das Licht in dicksten Flammenbüscheln, die grell die Straße erhellen. Es ist geradezu, als werde für diese weißen Neger ein Ball veranstaltet. (...) Alles ist betrunken, doch ohne Fröhlichkeit, ist vielleicht finster, schwer, und alles ist irgendwie eigentümlich stumm. Die Frauen stehen den Männern nicht nach und betrinken sich gleich diesen; die Kinder laufen und kriechen zwischen ihnen umher. (...) Volk ist hier überall Volk, hier aber war alles so kolossal, so grell, dass man gleichsam körperlich fühlte, was man sich bislang nur geistig vorgestellt hatte. Ja, hier sieht man nicht einmal mehr Volk, sondern Verlust des Bewusstseins, systematischen, gehorsamen, geförderten. Und man fühlt, wenn man all diese Parias der Gesellschaft sieht, dass für sie die Prophezeiung noch lange nicht in Erfüllung gehen wird, dass sie noch lange keine Palmenzweige und weißen Gewänder erhalten werden. (...)
Dort in Hay-Market habe ich Mütter gesehen, die ihre eigenen kleinen Töchter zu diesem Gewerbe anleiteten. Und diese kleinen, vielleicht zwölfjährigen Mädchen fassen einen bei der Hand und bitten einen, doch mit ihnen zu gehen. (...) Einmal erblickte ich in dem Gewimmel der Straße ein Kind, ein Mädchen von höchstens sechs Jahren, bestimmt nicht älter, in Lumpen gekleidet, schmutzig, barfuß, ausgemergelt und blaugeschlagen (...) dieses Kind ging mit dem Ausdruck eines solchen Kummers, einer so hoffnungslosen Verzweiflung im Gesicht (...)«[12]
Kristallpalast. Der erste theme park
Die eigentliche urbane Sensation in der Mitte des Jahrhunderts ist aber jenes Bauwerk, das für Kunsthistoriker die Ankunft der Moderne in der Architektur ankündigt, indem hier erstmals serielles Bauen durch vorgefertigte Glas- und Stahlteile ermöglicht wurde. Innerhalb eines knappen Jahres wurde von Joseph Paxton von Juli 1850 bis Mai 1851 im Hyde Park ein riesiger Wintergarten von 1801 Fuß Länge und 450 Fuß Breite, dessen Mittelschiff 100 Fuß Höhe erreichte, aufgestellt, der die Weltausstellung aufnehmen sollte. Der Ursprung des Bauwerks liegt in den botanischen Ambitionen der aus den Kolonien heimgekehrten Aristokraten, die auf diese exotische Welt der Palmen und Orchideen auch im trüben England nicht verzichten wollten und daher Experimente mit Palmenhäusern anstellten. Das Ziel bestand in der Herstellung einer künstlichen Atmosphäre, in der auch fremde Pflanzen gedeihen konnten. Aber in diesem Wunsch nach der Verpflanzung einer fremden Welt durch Simulation ihres Klimas drückte sich bereits das Motiv des Themenparks aus, jener Landschaft, die vermutlich als das prägende urbane Phänomen des 21. Jahrhunderts in Erscheinung treten wird. Das Bauwerk, das in seinem Inneren auch noch zwei ausgewachsene Ulmen beherbergte und durch ein außerordentliches Raumerlebnis einer »ins Monumentale gesteigerten Gleichförmigkeit«[13], einer Form des seriell Unbegrenzten charakterisiert wurde, erfuhr von den Zeitgenossen überschwängliches Lob. William Thackeray dichtete zur Eröffnung eine Ode[14]:
A palace as for fairy prince, A rare pavilion, such as man Saw never since mankind began, And built and glazed.
Dostojewski ist vor allem angesichts des tiefen Kontrasts des Kristallpalastes zu anderen Erscheinungen der Großstadt tief berührt: »Diese Tag und Nacht hastende und wie ein Meer unumfassbahre Stadt, dieses Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern dahinjagenden Eisenbahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmensgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Themse, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, diese unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung (...) ja die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man fühlt, dass hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. (...) Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaften Palast umherdrängen. Das ist wie irgendein biblisches Bild, irgendetwas von Babylon, ist wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirklicht hat (...)«[15]
Great Victorian Way
Es gibt ein weiteres, unausgeführtes Projekt von Paxton, das Dostojewski vermutlich sprachlos gemacht hätte, einen Plan, in dem er eine 16 km lange Galerie aus Glas in London vorschlug. Damit wäre die City der Stadt durch einen ringförmigen Boulevard umfasst worden und hätte zugleich auch im Inneren einige künstliche Räume erhalten. Es wäre eine fantastische Passagenlandschaft geworden, die sämtliche Architekturutopien einer Stadtüberdachung, die im 20 Jahrhundert aufgekommen sind, überflüssig gemacht hätte. Zugleich kündigte sich bereits ein ungestilltes Verlangen nach Raumerweiterung und Atmosphärenwandel, der die steinschweren urbanen Welten von Grund auf verändert, an. Eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und glücklichen Inseln im städtischen Raum wird hier formuliert, deren Einlösung noch bevorsteht.
Fußnoten:
Lewis Mumford, Die Stadt. München 1984, S. 525 ↩︎
Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Frankfurt 1986, S. 503 ↩︎
Mumford, Die Stadt. S. 533 ↩︎
Mumford, Die Stadt. S. 547 ↩︎
John R. Kellett, The impact of Railways on Victorian Cities, London/Toronto 1969, S. XV ↩︎
Kellett, a. a. O. ↩︎
Caroll Meeks, The Railroad Station. New York 1995, S. 79 ↩︎
Peter Ackroyd, London. Die Biographie. München 2002, S. 573 ↩︎
Richard Sennett, Fleisch und Stein. Berlin 1995, S. 414 ↩︎
Peter Ackroyd, London. Die Biographie, München 2002, S. 118 ↩︎
Ackroyd, a. a. O. ↩︎
Fjodor M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. München 1992, S. 784-785 ↩︎
Nikolaus Pevsner, Architektur und Design. München 1971, S. 258; Leonardo Benevolo, Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jh. München 1988, Bd. 1, S. 153 ↩︎
Pevsner, S 258 ↩︎
Dostojewski, S. 779, 780 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.