Sphärenwechsel
Geschichte der Urbanität, Teil 9; Die Stadt im 19. Jahrhundert IDie französische Revolution hatte die Neuformatierung der Stadt vorexerziert. Die alte Trennung zwischen sakralem und profanen Raum, die durch ein heiliges Zentrum in der Stadt begründet und zunächst durch die Kirche und später durch den König magisch aufgeladen wurde und seit der römischen Antike bestimmend war, galt nun endgültig nicht mehr. Die Hinrichtung des Königs an jenem Platz in Paris, der das Denkmal seiner Ahnen beherbergt hatte, bedeutete nicht nur die reale, sondern auch die symbolische Ausradierung des Geschlechtes und seiner städtischen Verwurzelung. Die metaphysische Ordnung der Stadt war endgültig zerstört, die Kraft ging nun nicht mehr in konzentrischen Wellen abnehmender Stärke von der Mitte zur Peripherie aus.
Die französische Revolution hatte die Neuformatierung der Stadt vorexerziert. Die alte Trennung zwischen sakralem und profanen Raum, die durch ein heiliges Zentrum in der Stadt begründet und zunächst durch die Kirche und später durch den König magisch aufgeladen wurde und seit der römischen Antike bestimmend war, galt nun endgültig nicht mehr. Die Hinrichtung des Königs an jenem Platz in Paris, der das Denkmal seiner Ahnen beherbergt hatte, bedeutete nicht nur die reale, sondern auch die symbolische Ausradierung des Geschlechtes und seiner städtischen Verwurzelung. Die metaphysische Ordnung der Stadt war endgültig zerstört, die Kraft ging nun nicht mehr in konzentrischen Wellen abnehmender Stärke von der Mitte zur Peripherie aus.
Die Geschichte der Stadt ist stets eine Geschichte des Verlassens der Endosphäre und des Hinausgehens ins Offene. Die Sprengung der Endosphäre hatte sich schon in der Renaissance und im Barock mit einem Übergang vom ummauerten und geschlossenen zum offenen Raum, vom körperlichen Kontakt mit dem sakralen Terrain zur visuellen Orientierung hin vollzogen, doch dies erfolgte stets durch eine Erhöhung der Strahlungsintensität und Reichweite des Zentrums, das über einen größeren Raum zu verfügen hatte. Doch bisher war in der europäischen Stadtgeschichte noch kein königliches Strahlungszentrum derart spektakulär und gewaltsam wie in der französischen Revolution ausgelöscht worden. Der Ort der Hinrichtung, die vormalige Place Louis XV, die im 19. Jahrhundert mehrmals umbenannt wurde und zunächst Place de la Révolution, später Place de la Concorde hieß, blieb aber im Sinne eines zéro degré Ausgangspunkt der Stadtplanung und der Bildung der zentralen Achse von Paris.[1]
Dennoch hatte bereits der Papo-Urbanismus des römischen Barocks in der Stadterweiterung Roms durch die Erfindung städtischer Achsen zu den Kirchen außerhalb der alten Mauern bzw. Obelisken hin die Einführung der langen Straße, und das Prinzip der linearen Wege innerhalb des Stadtraumes vorbereitet. Zunächst dienten diese Straßen den Pilgern zur Wallfahrt, wobei einerseits durch die Sichtbarmachung des Zieles in der Ferne das moderne perspektivische Sehen eingeübt wurde und andererseits durch den körperlichen Vollzug des Schreitens der alte christlich-jüdische Gedanke der Pilgerfahrt auf Erden zu den ecclesiae stationales als den heiligen Pilgerstätten verinnerlicht wurde. Im Barock wurde diese Form des feierlichen Schreitens zur Kirche mit dem Ziel der inneren Einstimmung auf die Transzendenz durch die erhabene Bewegung auf den großen städtischen Achsen, die zu den Palästen oder anderen Denkmälern und erhabenen Stätten der absoluten königlichen Macht führten, abgelöst. Die Annäherung an das Zentrum der königlichen Emanation bedeutete nur eine leichte Umwandlung des religiösen Erlebnisses in eine ähnliche Erfahrung der königlichen Macht. Dabei wurde ein Übergang vom Schauer des Religiösen zum Schrecken des Erhabenen angesichts der Relation der Größe der königlichen Paläste zur Geringfügigkeit der eigenen Existenz hin vollzogen.
Im Zuge der bürgerlichen Revolution wird nun die Monarchie durch den Staat ersetzt, der kein vergleichbares Kraftzentrum mehr aufweist, das alle Wege an sich zieht oder von sich aus in die Ferne richtet. Kraft wird nun durch Bewegung erwartet, durch imaginäre Maschinen, die Leben produzieren und damit die Form der Stadt verändern. Daraus folgt der Vorrang der zur Bewegung nötigen Elemente, der Verkehrswege, die eine neue Entwicklungsstufe der räumlichen Schneise ankündigen und mit der Hybridisierung des Weges zum Boulevard realisiert werden. Damit einher geht eine Umwandlung des Stadtraumes: Das wachsende Verkehrsnetz zieht eine Zunahme der Transitionszonen innerhalb der Stadt nach sich. Diese Entwicklung fördert nahtlos den Übergang zur reinen und linearen Bewegung, der auch vielfach mit der strategischen Kontrolle der Stadt einhergeht. Die von Haussmann neu geschlagenen Sichtachsen in Paris verfolgen bekanntlich neben ästhetischen und sanitären Zielen auch militärtechnische Ziele – die Möglichkeit rascher Truppenverlegungen. Der Staat, der sich an die Stelle des Königtums gesetzt hat, kann die riesigen Alleen und Plätze für die Aufmärsche gebrauchen und entdeckt seine Liebe zum leeren Raum, den er schnell mit den Militärs füllen kann. Dieser Raum strahlt nun eine Kraft aus, die sich aus den Quellen der kinetischen Faszination und der damit suggerierten Gewalt speist, und der mit keiner sakralen Ermächtigung mehr verbunden ist Die kinetische Energie der bewaffneten Truppe füllt das Vakuum des spirituellen Zentrums. Voraussetzung all dieser Entwicklungen war allerdings die Herausbildung einer neuen Vorstellung von Stadt, die zur Zugrundelegung eines neuen Denkschemas führte.
Die Naturalisierung durch das neue Körperbild der Stadt
Dieser Wandel beruhte auf dem großen Paradigmenwechsel des Körperbildes[2] und einer grundlegenden Neukonzeption der Naturwissenschaften, die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzogen hatte. War seit der Antike die Vorstellung eines Körpers gültig, dessen Antriebsprinzip nur in der Seele liegen konnte, so fand schon während des Mittelalters ein schrittweiser Übergang zu neuen Körperbildern statt, die aber immer noch auf einem grundsätzlich spirituellen Körper beruhten. Zunächst hatte Johannes von Salisbury das Herz in seiner politischen Metaphorik des Gesellschaftskörpers als jene Stelle bezeichnet, die der König und seine Räte einnahmen, also den ranghöchsten Ort. Henry de Mondeville hingegen glaubte durch die Idee der Synkope ein Kooperationsprinzip der Organe entdeckt zu haben, wonach diese im Falle der Bedrohung eines Organes durch Verletzung und Krankheit einander durch das Senden von Körpersäften im Sinne der humoralen Lehre zu Hilfe kämen.
Die für die Geschichte der Stadt entscheidende Wendung ergab sich jedoch durch die revolutionäre Entdeckung Harveys im 17. Jahrhundert, die übrigens auf den Damaszener Ibn al Nafiz, der im 13. Jahrhundert in Kairo lebte, zurückgehen dürfte, dass der Blutkreislauf durch das Herz angetrieben wird.[3] Durch diese Einsicht wurde nicht nur das Herz von einem göttlichen Organ zu einer Pumpe, einer ordinären Maschine degradiert, sondern die Entzauberung des Körpers führte auch in den kommenden Jahrhunderten zu einer völligen Verrohung bei der Durchführung wissenschaftlicher Experimente, die sich unter anderem durch systematische Vivisektion, durch das Herausreißen des Herzens bei lebenden Tieren und ähnliche Versuche auszeichneten.
Die Konsequenzen dieser Entdeckung für die Stadt waren in zweifacher Hinsicht ähnlich. Einerseits brachte die neue Vorstellung der Zirkulation analog zum Bild der Arterien und Venen die Priorität entsprechender Straßen, Verkehrswege und Kanäle vor den Gebäuden und Parkanlagen; die Stadt sollte wie ein gesunder Körper beim Bluttransport durch freies Fließen des Verkehrs und saubere Straßen funktionieren. Andererseits war man auch im Umgang mit bestehenden Strukturen wenig zimperlich, denn von nun an galt
der Stadtkörper ebenfalls als ein Organismus, an dem man zum Zwecke besserer Ventilation und Durchströmung die Methoden der invasiven Chirurgie anwenden könne, wobei der Schnitt in die Organe sowohl die Gebäude als auch die darin wohnenden Menschen betraf. Die Stadt wird zur funktionierenden Körpermaschine, die nicht mehr durch eine geistige Kraft bewegt wird, sondern auf einer natürlichen, energetischen Basis beruht. Obwohl man auch diese nicht wirklich bestimmen kann, lässt sich zumindest der Nachweis führen, dass ein Zusammenhang zwischen Zirkulation und Energie besteht. Eine Erhöhung des energetischen Inputs steigert die Bewegung, wie auch umgekehrt die Bewegung die Nachfrage nach Energiezufuhr steigert. Dass sich eine Konstruktion nach dem Maschinenparadigma auch totlaufen kann, zählt erst zu den Entdeckungen der Postmoderne.
Die Idee der Zirkulation ist revolutionär, weil sie die Idee des Mittelpunktes, des Zentrums aufgibt und damit Denkvorstellungen, die über zweitausend Jahre gültig waren, ablöst. Nicht nur für die alte Medizin war es schockierend zu erfahren, dass der Körper nicht von der Seele, oder zumindest einem analogen Organ wie dem Herzen, einer Quelle gleich mit Lebenskraft versorgt werde, auch für die Raumordnung der Stadt und ihren Vorstellungen von sakral und profan entsprach der Verlust des Zentrums und seiner Substitution durch die Zirkulationsidee einer kopernikanischen Wende.
Die Erfolgsgeschichte des Kreislaufparadigmas gilt bis heute für die meisten Bereiche des wirtschaftlichen und städtischen Lebens, als die Formel, die Reichtum, Gesundheit und Hygiene zu garantieren scheint. Mit der Zirkulationsmetapher dürften die endosphärischen Denkmuster der Stadt vorläufig widerlegt worden sein, da für die Idee des Kreislaufs das Innen-Außen-Schema und die Vorstellung des geschützten Innenraumes irrelevant zu sein scheinen. Mit der Zirkulation ergibt sich vor allem die Notwendigkeit, eine offene Verbindung mit dem Außen zu erhalten. Damit erhöht sich aber zugleich das Risiko, die Kontrolle über die eingeführten Substanzen zu verlieren. Schon die Römer wussten um das exosphärische Risiko des von außen kommenden Wassers, weihten die Quellen Gottheiten und Nymphen und errichteten deren Statuen an den Brunnen. So galt die Nymphe Carmenta als die Behüterin der Gebärenden, und die römischen Matronen feierten ihr zu Ehren vom 11. bis 15. Jänner die Carmentalien.[4] Hinter diesem Brauch steckt ein doppeltes Motiv. Die Neugeborenen, die aus der Exosphäre kommen und daher potentielle Gefahrenbringer für die BewohnerInnen sind, werden mit dem von außen kommenden und daher gefährlichen Wasser der Quelle identifiziert; der durch die Obhut der Nymphe gewährte Schutz des Wassers erstreckt sich damit auch auf die Gebärerin.
Zirkulation und atmosphärische Probleme
Die Implementierung des Zirkulationparadigmas war aber keine geradlinige Entwicklung, sondern ein langwieriger komplizierter Prozess, der sich nur aufgrund der auftretenden Widersprüche etablieren konnte. Im 19. Jahrhundert wird aufgrund der Bevölkerungsexplosion der großen Städte ein Problem schlagend, das auch den Wandel der endosphärischen Verfassung der Stadt zum Paradigma der Zirkulation beschleunigt. Jede Stadt erzeugt eine Atmosphäre, die sich aus der Summe der frei werdenden Geruchspartikel ergibt und die allen BewohnerInnen eine Geruchsglocke überstülpt. Deren besondere Eigenschaft besteht in der raumbildenden Qualität, indem sie zunächst von ihren ErzeugerInnen als natürliche Emanation wahrgenommen wird, als nicht störender Eigengeruch, der als Teil der örtlichen Identität erlebt wird.
Erst durch die wachsende Mobilität kommen die StadtbewohnerInnen mit anderen Endosphären in Kontakt und nehmen plötzlich das als Gestank wahr, was im eigenen Binnenraum als Normalklima erlebt wird. Plötzlich werden einzelnen Stadtteilen, Orten oder Räumen besondere geruchliche Charakteristika zugeschrieben, die oft genug einer negativen Aura gleichen. Denn der Gestank stinkt nicht nur, sondern macht vor allem Angst vor Krankheit oder anderen lebensbedrohenden, aber nicht klar definierbaren Gefahren. Zugleich hat das Miasma subversive Eigenschaften, da es mit der Luft kommt, überall eindringen kann und die Feststellung der Urheberschaft oft erschwert oder unmöglich ist. Die Angst und der Verdacht auf Vergiftung schädigen die Atmosphäre oft nachhaltiger, als es tatsächlich der Fall ist, und bewirken damit die Auflösung des endosphärischen Immunschutzes.
Zugleich erstreckt sich der Verdacht auf alles, was mit fremdem Geruch behaftet ist – das betrifft Abkömmlinge anderer Kulturen und Religionen in besonderem Maße. Die antisemitischen Widerwärtigkeiten bei der Darstellung des zwiebelfressenden Juden zählen zum Illustrationsstandard des 19. Jahrhunderts. Die modernen Identitätskonstruktionen, die sich in der Stadt des 19. Jahrhunderts heranbilden und bis heute volle Gültigkeit haben, die ihre eigene Nichtidentität und Fremdheit kaschieren, sind dem Auftauchen der starken Differenz nicht gewachsen und führen aus Gründen der Abwehr zeitweilig zu einer kollektiven Vorstellung der Fratze des monströsen Anderen.
Die große Umformatierung der Stadt im 19. Jahrhundert beruht also in negativer Hinsicht auf der endgültigen Zerstörung der gemeinsamen Atmosphäre der alten Stadt, auf der Verseuchung der Luft und des Wassers und auf den katastrophalen Wohnverhältnissen der unteren Schichten, die wiederum als Ausdruck der sozialen und wirtschaftlichen Lage zu sehen sind.
Geographie der Exkremente und Ammoniapolis, die Stadt aus Urin
Das atmosphärische Problem der Stadt ist schon uralt und geht auf die Geruchslage des Binnenraums aufgrund der hygienischen Bedingungen der Reproduktion zurück. In Rom waren Sklaven für die Entleerung der Nachttöpfe zuständig. Nur in den Palästen gab es Marmorlatrinen, in den insulae hingegen, den Mietshäusern, waren nur Löcher am Fuße der Treppe eingelassen, vielfach wurde aber das Geschäft einfach auf der Straße verrichtet. Im Mittelalter wurden Schweine auf der Straße gehalten, um den Unrat zu beseitigen. Die Entsorgung des Nachtgeschirrs durch das Fenster ist legendär und soll manchem Edelmann beim Minnedienst übel mitgespielt haben. Auch im Barock gab es noch keine grundlegende Änderung. Erst in London installierte man nach dem großen Brand um 1660 an den Straßenkreuzungen »laystalls« zur Sammlung der Abfälle, die an die Straßenreiniger verkauft wurden. Lediglich die Häuser der Bemittelten verfügten über einen Abort, aus dem die Fäkalien mehrmals in der Woche entfernt wurden. Die zunehmende Einführung des Wasserklosetts in den Haushalten der oberen Schichten, um 1850 sind es insgesamt 300.000 Haushalte[5], die trotz Verbots zumeist an alte offene Kanäle angeschlossen wurden, führten zu einer Verseuchung der Themse,[6] Zwanzig Jahre später waren diese Probleme durch die Wasserbauingenieure allerdings behoben, was den jungen Prince of Wales, den späteren Edward VII, zur respektvollen Bemerkung veranlasste, dass er im Falle einer Berufswahl hydraulischer Ingenieur geworden wäre.[7]
Paris hinkte London in dieser Entwicklung deutlich hinterher, obwohl die Wasserverbrauchsziffern erheblich höher waren. Zwar hatte sich im 18. Jahrhundert in Frankreich ein Gesundheitswesen installiert und aus dieser Funktion auch die »urbane Frage« formuliert, die zur Einrichtung einer »topographischen Toilette«[8], zur Straßenreinigung und Abfallsammlung und dessen Ausbringung vor die Stadt führte.
Allerdings wurde der Vorschlag zum Bau von Wasserklosetts schon 1835 abgelehnt, da man damit den bedeutenden Wirtschaftszweig der Exkrementensammler, die vor allem auf Pferdemist spezialisiert waren, abgeschafft und damit der Düngerversorgung der blühenden Landwirtschaft, die ein Sechstel des Pariser Bodens bebaute, schwer geschadet hätte. Obwohl die Befürworter der Schwemmkanalisation ständig das Argument wiederholten, dass nur dieses System die dauernde Bewegung und die notwendige Zirkulation der Exkremente gewährleiste, um der Gefahr der Stagnation zu entgehen und auch die ständige Kontrolle der Ströme zu ermöglichen, wurden sie nicht gehört. Denn die Experten der Gegenseite sprachen sich vehement gegen den Verlust der Fäces aus. Chevreul wies auf die Gefahr der Desinfektion hin, die eine Verarmung der Ausscheidungsstoffe bewirke; die Gesundheitspflege vergesse diesen Aspekt völlig, die Schwemmkanalisation sei der Archetyp der Verschwendung, da jede Verflüssigung des Senkgrubeninhalts zu einer Verringerung des Stickstoffgehaltes führe. Die Kloakenfeger kannten dieses Phänomen. »Sie schätzen die festen Ausscheidungen, die sich in den Gruben der Armen sammeln, weit mehr als die dünnflüssige Masse, die sie bei den Reichen vorfinden. Mit größter Präzision ordnet Belgrand den jeweiligen Wert der Ausscheidungsstoffe einer sozialen Stufenleiter zu. Das Ergebnis seiner Arbeit ist eine topographische Gliederung der Hauptstadt unter dem Gesichtspunkt des Stickstoffgehalts der Exkremente«[9], eine Geographie der Exkremente. Die chemische Industrie regte zahlreiche Projekte an, um direkt aus den Ausscheidungsstoffen neue Produkte, vor allem Dünger zu gewinnen. 1844 träumt Garnier von der Errichtung eines umfangreichen industriellen Komplexes zur chemischen Behandlung von Urin, den er Ammoniapolis nennen will.[10] Das utilitaristische Denken der Zeit, nichts anderes als ein Vorläufer des heutigen Recycling-Denkens, geht ebenfalls sehr kreislauforientiert vor, zumal die Geruchsbelästigung noch kein öffentliches Thema ist, da die sensibleren bürgerlichen Nasen weit entfernt wohnen.
Das Minarett, die frei schwebende Abortschüssel
Um die Probleme der Desodorierung und die Angst vor Krankheitserregern in den Gefängnissen, Kasernen und Krankenhäusern in den Griff zu bekommen, stellte Duponchel 1858 in den Annales d’hygiène publique ein bemerkenswertes und skurriles Projekt vor, um den Fäkalgestank in den kollektiven Einrichtungen zu vernichten und die Disziplin durch eine besondere Architektur zu erzwingen.[11] Der Autor schlägt zur Desodorierung der Kasernen und Spitäler die Errichtung eines als »Minarett« bezeichneten Latrinenturms vor, dessen Architektur zwischen einem Mastkorb und dem von d’Arcet entwickelten Taubenschlag liegt und dem Benützer keine Chance zur Verunreinigung lässt. Der vom Hauptgebäude abgesonderte Latrinenturm ist durch einen schmalen Gang vom Gebäude aus zu begehen, die Becken selbst befinden sich auf einer runden Plattform und sind mit dem zentralen Rondeau nur durch einen schmalen Metallsteg verbunden. Der Ort der Notdurft selbst ist eine frei schwebende Abortschüssel, zu deren Erreichung und Benützung man sich an Eisengriffen festklammern muss. Da es weder Wand noch Boden gibt, kann von den Soldaten oder Gefangenen auch nichts verunreinigt werden. Der Kot wird durch senkrechte Rohre abgeleitet, die Luft durch vier Ventilatoren entsorgt. Es ist bedauerlich, dass Foucault von dieser wunderbaren panoptischen Errungenschaft, wenngleich es sich nur um ein nicht realisiertes Projekt handelte, keine Notiz nahm.
Miasma
Neben dem Hauptproblem der öffentlichen Kloaken tritt in der Hierarchie der Ängste nun der Gestank der Mietshäuser an führende Stelle. Die Berichte der Inspektoren und Sozialforscher[12] sprechen von den Geruchsschwaden des in den Rinnen stagnierenden und in das Mauerwerk eingesickerten Urins, der den Besucher verfolgt, ehe er sich durch einen langen schlauchartigen Gang zum Innenhof vorgearbeitet hat, um die elenden Wohnungen zu erreichen. Man geht durch niedrige und düstere Gänge, die einem stinkenden Rinnsal als Bett dienen, einem zähflüssigen Strom aus denkbar unflätigem Schmutz, der aus allen Etagen herunter regnet. Oder man lese die Schilderung eines Innenhofs, der so eng, dunkel und feucht ist, »dass man sich auf dem mit Unflat bedeckten Grund eines Brunnens glaubt. Hier sammeln sich Essensreste und verdorbene Nahrungsmittel, hier staut sich das dreckige Spül- und Waschwasser. Ein Gemisch aus ungleich verpesteten Dämpfen steigt zu den Etagen auf, belagert die Wohnungen mit widerwärtigem Gestank. In diesem Repräsentationssystem erscheint die Treppe als Umflut: eine übelriechende Kaskade stürzt von einem Treppenabsatz zum nächsten, gespeist von den Latrinen, deren stets offen stehende Türen einen obszönen Blick auf die von Kot überschwemmten Sitze bieten.«[13] Die Wohnräume sind klein und überfüllt. Es herrscht ein wildes Durcheinander von Gerätschaften, schmutziger Wäsche und Geschirr. Inmitten dieser Unordnung kauert der Arme, oft in Gesellschaft seiner Tiere.
Diese Schilderung der Enge des Raumes mit der winzigen Schlafstelle in Verbindung mit den schachtartigen Innenhöfen und schlauchförmigen Gängen muss bei dem an Großzügigkeit und Geräumigkeit gewohnten Bourgeois Angst vor dem Ersticken hervorrufen. Die Angst vor Luftknappheit begründet auch die Abneigung vor allen niedrigen Räumen, wie der Pförtnerloge, dem Hinterladen des Krämers, der muffigen Studentenbude oder den Kammern der Dienstboten. Damit einhergehend bildet sich eine somatische Abneigung gegen alle ZuwandererInnen aus den Provinzen, die ihre ländlichen Gewohnheiten des Haushalts und der Lebensmittellagerung mit entsprechender Geruchsintensität beibehalten. Sozialer Status wird auch über die hygienische Konnotierung und einen Code der Gerüche definiert. Die niedrige soziale Stellung des im Dreck Arbeitenden wird durch den Gestank, den er ausströmt, verdoppelt. Die soziale Frage wird auch zu einer hygienischen Frage, da die damaligen Theorien des Miasmas eine Ansteckung auf dem Geruchswege durch schwere Erkrankungen befürchteten. Später konnte man, vor allem durch Pasteurs Versuche, beweisen, dass die Krankheitserreger in den Flüssigkeiten verbleiben und die Mikroben bei deren Verdampfung nicht durch Luft verbreitet werden. Dadurch wurde beim Gestank die Angst vor dem Miasma genommen und der Ausbau der Schwemmkanalisation weiter verzögert. Aber der Gestank der großen Mietshäuser, der in Paris auch auf der über Jahrzehnte währenden Weigerung der Hausherren, Kanalanschlussgebühren zu zahlen, beruhte, führte zur symbolischen Abwertung dieses Haustyps und beförderte die Phantasien des ländlichen Wohnens in der unverdorbenen Natur weiter.
Das Haus im Übergang.
Die Situation spiegelt auch den Untergang des Hauses als der Klammer zwischen der öffentlichen und privaten Stadt, der vermittelnden Einheit, durch welche die Kooperation zwischen der Stadt und dem bürgerlichen Leben sichtbar gemacht wurde. Seit dem Mittelalter hatte der Hausherr aufgrund des Hausbesitzes Bürgerrecht. Damit war ihm neben der Macht aber auch Verantwortung über die im Hause wohnenden Menschen zugeteilt. Hausherren aller nach Zünften geordneten Gewerbe und deren Abhängige, vom Gesinde über die Gesellen bis zu den Lehrbuben, wohnten unter einem Dach. Das Haus umfasste durch die gewerbliche Tätigkeit die wirtschaftliche Einheit der Familie als einer Produktionsgemeinschaft. Der Hausherr war auch die Verlängerung des Armes des Landesherren bzw. der städtischen Macht. Im Haus waren die zentralen Rechtsverhältnisse vereinigt, die sowohl die hausherrliche Gewalt als auch den Hausfrieden betrafen, der die sozialen Agenden der Vorsorge beinhaltete. »Hausgemeinschaft bedeutet (...) Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter, nach innen in ungebrochener Einheit auf der Basis einer streng persönlichen Pietätsbeziehung.«[14]
Das Haus war auch Abbild der sozialen Ordnung, da durch die Stellung im Hausverband der Anteil am Raum zugewiesen wurde. Der soziale Rang drückte sich im Allgemeinen durch die Distanzierungsmöglichkeit zwischen Arbeits- und Lebensraum aus. Wer gleich im Arbeitsraum schlief, in Küchen, Kellern, Werkstätten oder Heuböden, hatte den geringeren Rang. In den meisten Handwerkerhaushalten schliefen die Gesellen in der Werkstatt, während im Kamin gekocht wurde. Erst in vermögenderen Verhältnissen konnten sich Ansätze eines Privatlebens herausbilden, indem man separate Kammern für das Gesinde und Schlafzimmer für den Hausherren einrichtete. Zugleich entwickelten sich kleine Individualsphären in den Halbstöcken und Dachböden und Höfen, die als winzige Szenerien des Lebens in Erscheinung treten. Im Wesentlichen galt die Hausöffentlichkeit, die in den unmittelbaren Stadtbereich des Platzes und der Straße eingebunden war; die Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsraum war noch nicht vollzogen. Auch zeichnete sich bei wohlhabenderen Bürgern eine Nachahmung der Aristokratie und ihrer Repräsentation im Haus ab, indem sie Empfangsräume einrichteten.
Im 19. Jahrhundert existiert dieses Modell nicht mehr. Die industrielle Revolution hat den kleingewerblichen Anteil der Wirtschaft weitgehend verringert und der Zustrom der ländlichen Bevölkerung in die Stadt hat die Struktur der Bevölkerung und des Hauses radikal verändert. Die Stadt wird in Orte der Produktion und Reproduktion, ebenso wie das Leben in die Dimensionen des Wohnens und Arbeitens aufgespaltet. Es gibt nur mehr die Privatheit einer Wohnung, selbst wenn es sich um eine verkommene Absteige handelt. Die Entflechtung der traditionellen Verschränkungen führt zur Abstraktion des Hauses von den BewohnerInnen. Die topologische und stadtbürgerliche Verankerung der Person durch das Haus wird aufgehoben, die Person der Masse, der Bevölkerungsmenge zugeschlagen. Das Haus verwandelt sich in ein Element eines globalen, homologen und rein quantitativen Raumes, der durch das Medium Geld, das heißt durch das System des Kapitalismus vermittelt wird. Der Spekulant tritt nun auf den Plan. Der Wert des Hauses besteht nicht mehr in seiner Eigenschaft als sozialer Ort und qualitatives Bauwerk, sondern in seinem Renditeversprechen.
Topos Sanierung
Die optimalen Bedingungen zur Kapitalisierung des Grundes und der Realisierung der Rendite bestehen beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die unterschiedlichen Ebenen entstammen. Die Notwendigkeit der Sanierung eines Stadtgebietes aufgrund dessen systematischer Vernachlässigung, wie es aufgrund der hygienischen Katastrophe in den meisten Städten des 19. Jahrhunderts der Fall war, führt zu einer Verknüpfung von sozialer und hygienischer Argumentation. Im 19. Jahrhundert bedient man sich zunächst noch eines Bildes vom Ausschneiden der kranken Teile, das insofern durch besondere soziale Brutalität gekennzeichnet ist, als damit neben den heruntergekommenen Häusern auch die dort wohnende Bevölkerung gemeint ist. Der Begriff der Sanierung kommt aus der Sprache der Hygiene, indem er Gesundmachung durch die sechs Elemente der sex res non naturales des Neohippokratismus, der auf die Rezeption Galens zurückgeht, erklärt, und sich dabei hauptsächlich auf den alten Begriff der circumfusa, jener Dinge, die die Person umgeben, stützt.[15] Dieser Vorläufer des Umweltbegriffes empfiehlt der Arzt zur Gesundung der Stadt neue Gebäude mit Wohnungen besserer sanitärer Bedingungen, womit in der Praxis des 19. Jahrhunderts allenfalls der Anschluss des Hauses an das Schwemmkanalnetz gemeint ist.
In der Realität der ersten großen Sanierung von Paris durch Haussmann stellte sich heraus, dass die neuen Wohnungen nur für MieterInnen errichtet werden, die zur Zahlung höherer Mieten in der Lage waren. Sozial niedere Schichten wurden an den billigeren Stadtrand abgesiedelt. Da ArbeiterInnen aber mangels Verkehrsmittel auf eine Wohnung in der Nähe der Fabrik angewiesen waren, konnten sie auch gar nicht weiter wegziehen, sondern mussten in erschwinglichen, aber weiterhin schlechtesten räumlichen und sanitären Verhältnissen wohnen. Die Deportierung des Proletariats an die Peripherie, die mit der Erfindung der Vororte einherging, die das Zentrum verbürgerlichte und entvölkerte, führte aber zu dessen gewaltsamer Rückkehr. Ebenso führte dies zur Renaissance der Utopien, die eine ferne Ordnung phantasieren, die mit der realen Situation nichts zu tun hat, und die zumeist auch wieder von einer Strahlungsmitte träumen. Fouriers garantisme, das utopische Modell einer Wohnstadt, entspricht einer radialen Anlage im Stil der Renaissance, die aber in konzentrischen Ringen um ein Zentrum angeordnet ist.[16]
Fußnoten
Siehe dazu Teil 6 der Serie, Heft 13 ↩︎
Richard Sennett, Fleisch und Stein. Berlin 1995 ↩︎
Sennett, a.a.O. ↩︎
Mario Sanfilippo, Francesco Venturi, Die Brunnen von Rom. München 1996, S 18 ↩︎
Courbin, S 227 ↩︎
Ivan Illich, H2O und die Wasser des Vergessens. Hamburg 1987, S 117 ↩︎
Illich, a.a.O. ↩︎
Alain Courbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt/ M. 1993, S 121 ↩︎
Courbin, S 160 ↩︎
Courbin, a.a.O. ↩︎
Edmond Duponchel, Nouveaux systèmes de latrines pour les grands établissements. in: Annales d’hygiène publique et de médecine légale. Paris 1858, zit. nach Courbin, S 169 ↩︎
Adolphe Auguste Mille, Rapport sur le mode d’assainement des illes en Angleterre et en Ecosse. in: Annales d’hygiène publique et de médecine légale, Paris 1855, zit. nach Courbin, S 201 ↩︎
Courbin, S 202 ↩︎
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1980, S 214 ↩︎
L. J. Rather, »The six things non natural«, in: Clio Medica 3, 1968, S 332-347, auch: Georg Wöhrle, Studien zur Theorie der antiken Gesundheitslehre, Stuttgart 1990 ↩︎
Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, München 1991, S 326 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.