Florian Haydn

Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Orte und Nutzungen

Mit Fragen zum Thema des Temporären, des Flexiblen, Kurzzeitigen und Vorübergehenden sowie des damit verbundenen Anstiftungspotenzials zur Identität von Orten durchwanderten wir im Mai 2003 in Form des Symposions tempo..rar die Stadt Wien.
Unterschieden werden sollte der temporäre Ort von einer temporären Nutzung des Ortes, die Frage war, worin denn die Beziehung zwischen Ort und Nutzung/NutzerIn bestehe. Temporäre Orte sind gerade nicht Marc Augés Nicht-Orte: Sie besitzen wie seine Orte Identität, Relation und Geschichte. Im Unterschied zum Nicht-Ort sind diese temporären Orte Projektionsflächen, sie sind aber eben nicht leer. Der Schirm, auf den projiziert wird, enthält bereits zuvor Information – man könnte sich vorstellen, dass es sich um lichtempfindliches Material handelt, auf dem alle Projektionsversuche im Lauf der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die Intensität und Dauerhaftigkeit dieser Spuren ist jedoch unterschiedlich, die Frage ist, welche Handlungen längerfristig Spuren hinterlassen können und wie deren Spuren ins Bewusstsein der StadtbenützerInnen gelangen, sodass sich daraus möglicherweise wieder Handlungsnetzwerke ergeben. Der temporäre Ort bleibt auch über die temporäre Nutzungsdauer hinaus Projektionsfläche, auf die neu projiziert werden kann. Die Identität dieses temporären Ortes ist jedoch nicht vollständig determiniert, sondern gestaltbar – das ist es, was die temporären NutzerInnen anzieht. Das Projekt tempo..rar suchte sich gleich einem temporären Nutzer Veranstaltungsorte aus dem leerstehenden Immobilienangebot der Stadt. Vier Tage mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten und Beteiligten (EigentümerInnen, Stadtund RegionalplanerInnen, KulturtheoretikerInnen, Stadtverwaltung, KünstlerInnen, ArchitektInnen, VeranstalterInnen, SoziologInnen, LandschaftsplanerInnen, KuratorInnen, etc.) bildeten den Rahmen. So wurde an vier Nachmittagen an vier verschiedenen Orten diskutiert, die jeweils wieder paradigmatisch für Aspekte des Themas standen: Die Karawane startete im APA-Hochhaus im 19. Wiener Gemeindebezirk, in der Muthgasse, zwischen Donaukanal und U4: ein leerstehendes Geschoß eines sonst noch genutzten Bürohochhauses an der Peripherie, das vermutlich in ein paar Jahren abgerissen wird. Besucht wurde dann das ehemalige, nun leerstehende Postverteilerzentrum in Rudolfsheim-Fünfhaus hinter dem Westbahnhof: Dieses Gebäude steht ebenfalls seit kurzem leer und soll abgerissen werden. Wir machten in der Folge Station im Bahnhofsrestaurant des Südbahnhofs, nachdem das ursprünglich eingeplante 20er Haus, der ehemalige Expo-Pavillon von Brüssel 1956, plötzlich und unerwartet doch nicht zugänglich war: Das 20er Haus stand eine Zeit lang leer, nachdem das Museum moderner Kunst, der bisherige Nutzer, ins Museumsquartier umgezogen war. Schließlich beendeten wir die Wanderung im Lokal Fluc im Bahnhof Praterstern, da ebenso unerwartet ein überlassenes leeres Geschäftslokal nicht genutzt werden konnte: Der Bahnhof Praterstern wird in einigen Jahren völlig umgebaut, nur aus diesem Grund war es dem Fluc möglich, das Lokal zu einem bezahlbaren Mietpreis zu bekommen.

Gedächtnis

Was haben all diese Orte mit Gedächtnis zu tun? Mit dem Gedächtnis können wir uns orientieren und uns auf unsere Wünsche zubewegen: Das Sich-aneignen-Wollen (physisch oder mental), das (Sich)-dort-verwirklichen-Wollen und das Einfach-nur-dort-sein-Wollen. Orte, die in Bezug zu mir stehen, erwecken meine Fantasie und Vorstellung von etwas. Mit den Diskussionsbeiträgen des Symposions wurde das Mögliche für einen Ort oder eine Nutzungsidee überprüft. Im Fall der vier Veranstaltungsorte war das im Moment des Symposions gleichzeitig Nutzung und Projektion von möglicher Nutzung. Man könnte auch sagen, das Projekt diente zur Erforschung des Gedächtnisses der/in der Stadt. Die eigenen Gedächtnisräume der remote landscape (Richard Long) bewirken ein Zugehen auf die ferne Stadtlandschaft, die als Mindmap ganz nah direkt vor mir liegt.
Mein Wissen um ihn, das Gedächtnis betritt den Ort. Mein eigenes Gedächtnis, das sich mit dem Fernraum kurzschließt, ist das Gedächtnis des Ortes selbst: Mein Ort mit meinem Gedächtnis, meinen Ideen und Vorstellungen, die ich mit diesem Ort verknüpfe.

Gebäude

Wir gehen davon aus, dass strukturelle Überlegungen sich durch mehrere Größenmaßstäbe hindurch ziehen, dass es nötig ist to jump the scale, das heißt in Projekten die Bearbeitung der Mikround Makroebene zu verbinden. Ein Themenschwerpunkt des Symposions war Gebäude, um in der Folge auf Stadtstrukturen schließen zu können. Ein Gebäude könnte als die Feineinstellung von Bedürfnissen späterer BenutzerInnen verstanden werden. Die BenutzerInnen formulieren ihr Bedürfnis. Je nach Ambition der ArchitektInnen, die Hilfestellungen bei der Ausformulierung von Bedürfnissen leisten, wird über Planungsschritte ein Prototyp »Haus« entwickelt, welcher schließlich realisiert wird. Je mehr Bedürfnisse auf den Tisch kommen, desto präziser und feiner kann der Prototyp »Haus« auf dem »Papier« entwickelt werden. Ein Qualitätskriterium der Architekturarbeit liegt darin, dass der realisierte Prototyp »Haus« nach seiner Errichtung in der »Natur« weiter entwickelbar ist, das heißt, dass der errichtete Raum auf während der Planungsphase noch nicht bekannte Bedürfnisse, neue Nutzungsideen, zum Beispiel auf eine sich verändernde Lebensform in Beruf oder Lebensgemeinschaft, reagieren kann, oder bestenfalls neue Nutzungen sogar anregt.

Temporäres in der Stadtplanung

Neben der Tatsache, dass temporäre Nutzungen als Planungsinstrument Versuch und Irrtum erlauben, steht die alternative soziale Konstellation des Planungsprozesses, nämlich »Bottom-up« statt »Topdown«. Temporäre Nutzungen sind oft eher Teil des sozialen Netzwerkes im Planungsgebiet als einer gesamtstädtischen, überlokalen Szene. Ihre Integration in Planungsprozesse steht für Partizipation. Voraussetzung für derartige Planungsabläufe ist allerdings eine do-it-yourself-Mentalität der AkteurInnen, es geht nicht darum, auf Vorgaben der Verwaltung und Politik zu warten und zu reagieren, sondern selber zu agieren.

Wesentliche Aspekte temporärer Nutzung sind weiters die Perspektiven eines Regenerationsprozesses der urbanen Ökonomie.
Wie Jane Jacobs in ihrem Buch The Economy of Cities schreibt, sind marginale, informelle Unternehmen die Innovatoren der städtischen Ökonomie, da sie anders als die großen Unternehmen fähig sind, nicht einfach das Bestehende fortzuführen, sondern to add new work to old. Und die Perspektive des stadträumlichen Wandels: Einheitliche, homogene Stadtviertel, wie sie aus Masterplänen nun einmal entstehen, sind in späteren Phasen extrem schwierig zu regenerieren. Differenzen in der historischen, sozialen, ökonomischen Struktur erleichtern das, und die können mithilfe von temporären Nutzern produziert werden – to achieve Complexity and Contradiction.

Als erstes Ergebnis des Symposions hat sich ein Werkzeugkasten von Begriffen herausgestellt, der herangezogen werden kann, um einerseits Beispielfälle anhand unserer Prioritäten zu bewerten, und andererseits, um konkrete planerische Schritte durchzuführen. Im Folgenden findet sich eine Fülle von Gedanken, die wir den TeilnehmerInnen unserer Veranstaltung schulden. Die AutorInnen werden nur bei wortwörtlichen Zitaten genannt, für alle weiteren verweisen wir auf die Teilnehmerliste am Ende des Textes.

Begriffe

Unterschieden werden kann zwischen Zwischennutzungen, die Orte, in deren Verwertungszyklus eine Lücke besteht, kurzfristig für andere, meist nicht rein ökonomisch orientierte Nutzungen einsetzen, und Mehrfachnutzungen, die versuchen, neben der »dominanten« zugeschriebenen Nutzung andere Nutzungsweisen fix zu verankern. Interventionen sind temporäre Eingriffe, die an einem Ort Alternativen sichtbar machen wollen. Wichtig für diese Nutzungsformen ist es, dass eine Institutionalisierung meist mehr schaden als nützen würde. All dies kann als temporärer Ort bezeichnet werden, dem die Idee des Temporären zugrunde liegt: »Eine Vorstellung des Temporären könnte in der zwischenzeitlichen Nutzung [...] nicht so sehr den experimentellen Prototyp [...] erkennen, sondern in der Temporalität selbst, im limitierten Zeitraum, auch Züge einer räumlichen und urbanen Qualität begreifen.
[...] Tendenziell richtet sich Temporalität als prototypische Erscheinung gegen die Temporalität selbst. Politisch äußert sich diese negativ gefasste Temporalität etwa in der Ausgrenzung gerade jener Begehren, die ,nur‘ auf einem vorübergehenden Verweilen begründet sind.« (Spiegl/Teckert)

Die Handelnden

Bedürfnisse nach Temporalität ergeben sich durch Kultur (Nomaden), durch Zwang (Hausbesetzung, Obdachlosigkeit), durch Fluktuation (altersbedingte Mobilität, sozialer Aufstieg, wachsende Haushalte, Verdrängung), durch Lifestyle (Um-, Auf-, AussteigerInnen) und im Kontext von Sicherheitswünschen (temporäre Nutzung des öffentlichen Raumes mit Schutz vor bestimmten NutzerInnen, Privatisierung des öffentlichen Raumes). Die wichtigsten Rollen im Kontext eines temporären Nutzungsprojektes: ZwischennutzerInnen, »offizielle« NutzerInnen, EigentümerInnen, BenützerInnen/BesucherInnen, Verwaltung, Politik, Medien. Die Person des Zwischennutzers besitzt strukturelle Ähnlichkeit mit der Figur des Guerillero, insbesondere in der Form, dass sie taktisch statt strategisch vorgeht. »Bei aller Unterschiedlichkeit von Zwischennutzer und Guerillero, die vor allem im Fehlen eines zu vernichtenden Feindes begründet ist, verdeutlicht ein Vergleich die strukturellen Ähnlichkeiten des Vorgehens. (...) Beim Zwischennutzer geht es zwar nicht um die gerechte Sache, aber um die eigene. Er will niemanden überzeugen oder gar besiegen, aber er ist von seiner Sache so überzeugt und begeistert, dass er sie auch wider jede ökonomische Vernunft durchzieht und Mitstreiter gewinnen kann.
(...) Bei der Ortswahl wird der Zwischennutzer dort zuschlagen, wo der Immobilienmarkt schwach ist, der Zwischennutzer aber eine Chance sieht, seine Klientel zu erreichen und zu begeistern.« (Arlt) Wesentlich für viele temporäre Projekte ist der Begriff des Prosumers, also des Konsumenten, der aktiv wird und selbst einen Teil der Produktion übernimmt. Und zentral ist schließlich die Metapher des Netzwerkes:
Sowohl lokal als auch funktional sind ZwischennutzerInnen in verschiedenen Netzwerken situiert, deren produktive Überlagerung zu überraschenden Möglichkeiten führt.

Vorgangsweisen

Die temporäre Nutzung ist das Gegenteil des Masterplans: Sie geht vom Kontext und vom aktuellen Zustand statt von einem fernen Ziel aus, sie versucht Bestehendes zu verwenden statt alles neu zu erfinden, sie kümmert sich um die kleinen Orte und kurzen Zeiträume sowie die Zustände zu verschiedenen Zeitpunkten. Manche ZwischennutzerInnen berufen sich für ihre Projekte auf Konzepte der Situationistischen Internationale, insbesondere indem sie den Begriff des Spiels für stadträumliche und stadtplanerische Prozesse einsetzen, ebenso wie materielle Räume um Handlungsräume erweitert werden. Es geht aber nicht nur um eine unterschiedslose Verwebung der zwischengenutzten Orte in den Kontext, sondern diese Leerstellen werden mit dem Mittel des Freistellens sichtbar gemacht und aktiviert. Ein paradigmatischer Fall der (mehr oder weniger) temporären Nutzung ist die Hausbesetzung: »Verglichen mit anderen europäischen Großstädten wurden in Wien [...] nur wenige Häuser besetzt. [...] Hausbesetzungen und die damit verbundenen Manifestationen [...] bestimmten in Berlin die Wohnungspolitik [...] weitaus mehr als hier. [...] Die massiven Aneignungen leerstehender Häuser bewirkten etwa, dass Hausbesetzungen geduldet und vielfach sogar durch Mietverträge legalisiert wurden. Die BesetzerInnenszene selbst begann sich 1980 durch einen ,Besetzerrat’ zu formieren und bewirkte schließlich sogar das Absetzen von Politikern, die in Skandale rund um die Wohnungspolitik verwickelt waren. [...] Die zahlreichen Hausbesetzungen in Deutschland haben nicht nur eine differente Wohnbaupolitik, sie haben auch eine differente Wohnbaupraxis bewirkt. So entstanden etwa aus der HausbesetzerInnenszene heraus privat initiierte [...] Wohnprojekte, in denen spezifische BenutzerInnengruppen gemeinsam wohnen und das räumliche und soziale Gefüge des Wohnhauses selbst definieren.« (Pollak)

Politik und Ökonomie

In der aktuellen Auseinandersetzung um die Nutzung des öffentlichen Raums in den Städten sind temporäre Nutzungen ein Werkzeug des empowerment: Sichtbarmachen der Möglichkeiten des Raumes. Dem gegenüber steht die Tendenz zur Privatisierung. Klar ist, dass grundsätzlich verschiedene Absichten mit temporären Nutzungsprojekten verknüpft sein können: »Man kann zwei Ansätze herausarbeiten, die zwar mit ähnlichen Mitteln arbeiten, aber zu denkbar verschiedenen Ergebnissen führen: der eine wäre getragen von einem klar ausgerichteten ökonomischen Kalkül mit dem Ziel der Grundstück- soder Stadtteilaufwertung; der andere getragen von dem Wissen um das Nicht-Wissen der ,richtigen‘ Ziele; ein Versuch, mittels temporärer Nutzungen in einem Trial-and-Error-Prozess zu neuen städtischen Programmen zu finden.« (Kamleithner) Während dauerhafte Eingriffe notwendigerweise ein gewisses Maß der Affirmation erfordern, gibt es für das temporäre Projekt mehr Freiraum: Es ist eher Aktivismus als Politik. Das Prinzip des Grundeigentums in der Stadt bedingt ein interessantes Paradoxon: Die Dynamik der städtischen Entwicklung und die Bedürfnisse der StadtbewohnerInnen stehen dem statischen Eigentum gegenüber, das ein beharrendes Moment in der schnellen Stadt darstellt.
Temporäre NutzerInnen können die dadurch entstehenden Lücken produktiv nützen.

Auswirkungen, Ziele

Temporäre Nutzungen sind Symptome eines alternativen Stadtplanungsverständnisses: Statt die Entwicklung der Verwaltung und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen sie ein Aneignen der Stadt zu erproben. Wichtigste gedankliche Basis dafür ist eine do-it-yourself-Mentalität der StadtbenützerInnen. Die Projekte sind eine Stimulation, die das Gewöhnliche, Altbekannte in Frage stellen: »Temporäre Räume sind Vorbilder für bürgerinitiatives Aneignungsverhalten, sie provozieren eine versteckte Revolte im rebellionsfeindlichen Österreich. Realisierte Projekte beinhalten Sprengkraft. Sie provozieren Fragen nach dem ,Warum nicht auch bei uns?‘ Das Wissen um die Umsetzbarkeit mobilisiert schlafende Riesen.« (Mellauner) In diesem Sinne bewirken sie auch eine Veränderung der Kultur der Planung. Allerdings sind all diese Eigenschaften kein Geheimnis. Ökonomie, Politik und Verwaltung können solche »selbstbestimmten« Tendenzen durchaus in ihrem Sinne produktiv nützen: »Das ,Regieren durch Community‘ gewinnt an Bedeutung. Es handelt sich um eine Form von Machttechnologie, die auf selbstverantwortliche Gemeinschaften setzt und vor allem zur Durchsetzung von Integrationsprogrammen in so genannten Problemquartieren zum Einsatz kommt. [...] Als Idealbild gelten nun selbständige Gemeinwesen, die möglichst wenig Kosten verursachen sollen und eine Rücknahme von staatlichen Interventionen ermöglichen.« (Ronneberger)

Architektur und Stadtplanung

Eine strategische Vorgangsweise in der Stadtplanung, wie man sie aus dem 20. Jahrhundert kennt, ist heute nicht mehr möglich, die Alternative ist die taktische Stadtplanung: Man muss Ziele formulieren und zu deren Umsetzung PartnerInnen suchen, die ähnliche oder zumindest teilweise kompatible Ziele haben. Dem demokratischen Prinzip der Partizipation in der Stadtplanung droht der Missbrauch als »Regieren durch Community«. Interessant wäre jedenfalls ein Offenhalten des zukünftigen Zustandes, demzufolge temporäre Nutzungen dem Testen und Entwickeln von Programmen dienen können. Dies hätte auch den Effekt, dass sich wie von selbst die bei der Masterplanung so schwer umsetzbaren, die Urbanität fördernden Nutzungsmischungen ergeben. Aber es gibt immer noch etwas anderes: »Die Fassung eines leeren oder ungenutzten Raumes als ökonomisches Brachland ist das Produkt einer Verwertungslogik und definiert dieses als ungenütztes Kapital. Das Prinzip dahinter stützt sich auf eine Funktionalität, die in der Dysfunktionalität des Ungenutzten und Leeren nur Nutzlosigkeit vermutet.« (Spiegl/Teckert)

Fallbeispiele für temporäre Nutzungen

phonotaktik.02/Vienna

The Social Construction of Technology

Typus: Zweijährliches Elektronikmusik- Festival
Ort: 13 Orte, verteilt über ganz Wien (Café Alt-Wien, Haus der Begegnung Mariahilf, Sportclub-Platz (Friedhofstribüne), Ares- Tower (19. und 20. Stock), Bank Austria Kunstforum, Vestibül des Burgtheaters, Tenne, rhiz, Palmenhaus, Scheffel, Arena)
Art der Nutzung: kulturell
Zeit: 28.5. - 2.6.2002, ebenso 1995 und 1999, neuerlich geplant für 2004
Initiator: Peter Rantasa (derzeit Direktor von MICA - Music Information Center Austria)
Rolle der Stadtverwaltung: Sponsor
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: 40 MusikerInnen während phonotaktik.02
Information: www.mond.at/phono
Abstract: 
 Festival der elektronischen Musik in Wien, seit 2002 auch jeweils in einer Partnerstadt (2002: New York). Seit seinem Start war phonotaktik eine Erkundung der Stadt und ging an Orte, die normalerweise nicht für Kulturveranstaltungen gedacht sind. phonotaktik hatte immer zum Ziel, unbekanntes Territorium zu erkunden und neue Wege des künstlerischen Ausdrucks zu beschreiten. Eine private Umfrage unter Bekannten der OrganisatorInnen ergab, dass fast alle fähig waren, die Orte von phonotaktik.95 zu nennen, während die damals gespielte Musik kaum erinnert wurde. Man könnte phonotaktik als taktisches Instrument zur Formation von Netzwerken und zur vielfältigen Nutzung von Orten interpretieren. Es dient dazu, die Stadt in Anspruch zu nehmen und eine eigene Formation zu erzeugen, die Geschichten erzählt und Informationen verbreitet. Das Festival erlaubt den Zugang zu Orten, die sonst unbekannt bleiben, und die gegen deren Zweck gerichtete Nutzung von Orten.

Permanent Breakfast

Typus: Private Nutzung des öffentlichen Raumes zur Erprobung von dessen tatsächlicher Öffentlichkeit
Ort: öffentlicher Raum (wird von den Frühstücken ausgewählt)
Art der Nutzung: gastronomisch
Zeit: seit 1.5.1996, bis jetzt kein Ende abzusehen
Initiator: Friedemann Derschmidt
Rolle der Stadtverwaltung: keine
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: ca. 60 Frühstücke sind auf der Website genannt, macht bei etwa 10 FrühstückerInnen jeweils eine Summe von 600 - allerdings gibt es wohl eine große Anzahl unbekannter Frühstücke Information: www.p-breakfast.net
siehe Beitrag im Heft, S. 22

Hirnsegel #7

Typus: Experiment zur Programmentwicklung
Ort: zuletzt Südtirolerplatz, davor 6 verschiedene Orte in Wien (Kunsthalle Karlsplatz, Ramperstorffergasse, Retentionsbecken Auhof, Eisvogelgasse 6, Wehr am Donaukanal, Wiparkgarage Westbahnhof)
Art der Nutzung: kulturell
Zeit: 1995, eine Woche, davor (1992 bis 1995) jeweils einige Tage
InitiatorInnen: Florian Haydn, Marie-Therese Harnoncourt, Ernst J. Fuchs
Rolle der Stadtverwaltung: keine
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: 7 Experimente, insgesamt ca. 700 Besucher
Information: www.hausfressen.at
Abstract:
Über die Jahre waren die Betonsäulen unter der Eisenbahnbrücke nach und nach völlig verpackt durch Werbeplakate und Ankündigungen für verschiedenste Veranstaltungen in der Stadt. Entsprechend der Technik des Plakatanklebens wurden die Säulen für Hirnsegel #7 mit einer Kunststoffmembran so umhüllt, dass diese einen Raum zwischen den Säulen erzeugte. Dieser neue Raum war ein Leerraum als Möglichkeit. Im Gegensatz zu den beworbenen Orten überall in der Stadt gab es für diesen Ort keinerlei Programm. Die Membran, selbst ein Plakat, das auf den Ort verwies, den sie erzeugte, wartete auf mögliche Programme und Nutzungen, die während der Existenz des Leerraums auch in verschiedener Form realisiert wurden.

Wochenklausur Wien

Typus: Soziopolitische Interventionen
Ort: erstmalig: Stützpunkt Secession Wien, Realisierungsort Karlsplatz Wien
Art der Nutzung: sozial
Zeit: erstmalig Juni bis August 1993, insgesamt 17 Interventionen seither
Initiator: Wolfgang Zinggl
Rolle der Stadt: Finanzierung der Ärzte (bei der ersten Wochenklausur)
Status: legal
Information: www.wochenklausur.at
Abstract:

Wochenklausur benützt für kurze Zeit die Infrastruktur und die finanziellen Mittel von Kunstinstitutionen, um politische und administrative Problemlösungsprozesse zu initiieren und zu beschleunigen. Dafür wird 8 bis 12 Wochen lang konzentriert vor Ort in »Klausurwochen« gearbeitet, um ein konkretes Problem von lokaler Relevanz zu lösen. Energien, die sonst über Monate verteilt werden, sind so konzentriert. Die erste Intervention organisierte statt einer Ausstellung in der Secession die medizinische Versorgung Obdachloser in Wien mittels eines Busses, der zur mobilen Ambulanz umgebaut wurde.

Freie Motorenfabrik (FMF)

Typus: Konglomerat aus Projekten und KünstlerInnen
Ort: Martinstraße, Wien 18.
Art der Nutzung: kulturell, sozial
Zeit: September 2001 (Theater), ab April 2002 ein halbes Jahr lang
InitiatorInnen: Dominik Castell, Martin Schwanzer, verschiedene Künstler und Gruppen
Rolle der Stadt: keine
Status: großteils legal
Information: www.fmf.at.tf
Abstract:

Ehemalige Fabrik, 3000 m2 Grund mit Garten, 2000 m2 Nutzflächen, erstmals im September 2001 für Proben und eine Theateraufführung genützt. Ab Mai 2002 existiert das »Netzwerk FMF«, es gibt diverse Theaterprojekte, Künstlerateliers, Werkstätten, Geschäftslokale, eine Kantine und Notfallswohnungen. Der Grundeigentümer, ein Architekt, stellte das Areal in der Zeit bis zum geplanten Umbau den KünstlerInnen zur Verfügung, ohne dafür Miete zu verlangen, sodass die Nutzungen sehr spontan und ohne große Förderungen starten können. Allerdings gibt es schließlich zwischen Eigentümer und temporären NutzerInnen einerseits und zwischen verschiedenen temporären NutzerInnen andererseits Konflikte, vor allem bezüglich des Auszugstermins. Regelmäßige Konflikte mit den Nachbarn können durch eine gute Gesprächsbasis mit der Polizei im Rahmen gehalten werden. Die Nutzungsdauer ist vom Eigentümer strikt vorgegeben, während die Nutzungsart relativ frei bleibt.

Haus des Lehrers

Typus: Zwischennutzung eines leerstehenden Bürohochhauses durch »junge Kreative«
Ort: Berlin, Alexanderplatz, Haus des Lehrers, ca. 15.000 m2 auf 12 Geschoßen
Art der Nutzung: »Creative Industries«
Zeit: 2 Jahre, 1999-2001
Initiator: Bezirksverwaltung Berlin-Mitte
Rolle der Stadt: Eigentümerin, Vermieterin
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: ca. 30 bis 40 MieterInnen, ca. 80 Personen
Information: www.tu-berlin.de/fak7/urban- catalyst/hdl.pdf
Abstract
:
In den zwei Jahren zwischen dem Auszug der Altnutzer und dem Beginn der Sanierung des »Hauses des Lehrers«, erbaut von Hermann Henselmann 1961-64 am Alexanderplatz, wurde das Gebäude von der Bezirksverwaltung Mitte an »junge Kreative« zu sehr günstigen Konditionen vermietet. Bei den MieterInnen handelt es sich vorrangig um Architekturbüros, aber auch Filmstudios, Grafikdesign-Ateliers, Soundstudios, etc. – die MieterInnen sind durchschnittlich 27 Jahre alt. Als die MieterInnen wegen des beginnenden Umbaus wieder ausziehen müssen, werden zwei Ersatzgebäude zu ähnlichen Konditionen angeboten, das »Haus des Reisens« und das Gebäude des »Neuen Deutschland«, in die jeweils 15 bzw. 25 der MieterInnen umziehen. Im »Haus des Lehrers« entstehen während der Nutzungsdauer vielfältige Synergien zwischen den MieterInnen, die zur Entstehung des Labels »Haus des Lehrers« beitragen und zum Zusammenhalt führen, der die gemeinsame Übersiedlung zumindest mitbedingt.

einfach - mehrfach

Typus: Initiierung von Mehrfachnutzungen und Zwischennutzungen
Ort: Wien, Baulücken, Schulsportanlagen, Sommerbäder, Parks, Innenräume, etc.
Art der Nutzung: Zwischennutzung und Mehrfachnutzung
Zeit: seit 1998
InitiatorInnen: Baudirektion der Stadt Wien, Jutta Kleedorfer
Rolle der Stadt: Projektinitiierung, Koordinierung der Einzelprojekte
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: Kinder und Jugendliche; es gibt Projekte für verschiedene Nutzergruppen, z.B. geschlechtsspezifisch; nach einem Jahr ca. 50 Projekte
Information: www.wien.gv.at/stadtentwick- lung/06/22/01.htm
Abstract:
Die Stadt Wien schuf 1998 die Position einer Projektkoordinatorin für Mehrfachnutzung, die ohne eigenes Budget, aber mit einem dichten Netzwerk als Vermittlerin tätig ist. Sie ermöglicht Zwischen- und Mehrfachnutzungsprojekte z.B. in Baulücken, bevor gebaut wird, zur Nutzung von Schulsportanlagen auch am Nachmittag, am Wochenende und in Ferien, zur Teilöffnung von Sommerbädern, zur Einrichtung von Mädchengärten, Jugendtreffs und Nebenräumen für Parks. Viele Projekte werden erst dadurch möglich, dass erstens die Mehrfachnutzungen in die »Gemeindehaftung«, also die Versicherung aller im Besitz der Gemeinde befindlichen, nicht vermieteten Objekte, aufgenommmen werden, und dass zweitens durch die städtische Koordinatorin Gemeindedienststellen kooperativer werden, als dies sonst oft der Fall ist. Ausgangspunkt des Projektes war die Erkenntnis, dass es in der Stadt zu wenig Freiräume für Kinder und Jugendliche gibt, und dass vorhandene Freiräume aufgrund restriktiver Nutzungsbedingungen oft nicht verwendbar sind. Das Projekt kann natürlich mit der unabhängig von üblichen Verwaltungsstrukturen agierenden und vernetzenden Koordinatorin als strategisch im Hinblick auf die städtische Administration gesehen werden, ebenso wie im Hinblick auf breit akzeptierte Nutzungsformen öffentlichen Raumes, man darf dabei aber nicht die Unterdotierung und personelle Unterbesetzung außer Acht lassen.

SOHO in Ottakring

Typus: Kunstfestival in einer so genannten »städtischen Problemzone«
Ort: Wien, Ottakring, Gürtelnähe (Brunnenviertel)
Art der Nutzung: Kunstprojekte im öffentlichen Raum, in leerstehenden Geschäftslokalen, Gasthäusern, Künstlerateliers und Galerien
Zeit: jährlich für 2 Wochen, seit 1999
Initiatorin: Ula Schneider
Rolle der Stadt: Sponsor
Status: legal
Temporäre NutzerInnen: jeweils ca. 200 KünstlerInnen
Information: www.sohoinottakring.at
Abstract:
Das Brunnenviertel, für gewöhnlich mit Begriffen wie »Geschäftesterben«, »MigrantInnenviertel« und »Rotlichtviertel« problematisiert, ist unter anderem deshalb auch EU-Fördergebiet im Rahmen von URBAN. Die Künstlerin Ula Schneider wollte an diesem Ort einen Gegenpol zur etablierten Kunstszene schaffen und die Kommunikation im Viertel, vor allem unter ansässigen KünstlerInnen und zwischen diesen und anderen BewohnerInnen, verbessern. Aufgrund der vielen leerstehenden Geschäftslokale sah auch die Wirtschaftskammer dieses Projekt als Möglichkeit für die »Aufwertung« und beteiligte sich, mittlerweile sind 35 Lokale neu vermietet und es besteht auch »Top- down«-Interesse am weiteren Stattfinden des Festivals und an dessen Ausrichtung. Und auch wenn bei derartigen Prozessen die Ursachen kaum exakt nachvollzogen werden können, kann gesagt werden, dass sich das Viertel mittlerweile in einem Gentrifizierungsprozess befindet, die Aufwertung erfolgte unter anderem durch das soziale Kapital von Kunst, die öffentliche Aufmerksamkeit für das Gebiet ist gestiegen. Es bleibt abzuwarten, ob die Balance gehalten werden kann, sodass es keine oder nur geringe negative Effekte für die lokale Bevölkerung gibt. Weitere Projektbeispiele sind auf der Website www.templace.com im Projektpool zu finden.

TeilnehmerInnen bei tempo..rar: Peter Arlt, Andrea Breitfuß, Gerhard Buresch, Jens Dangschat, Friedemann Derschmidt, Andreas Feldtkeller, Martin Fritz, Matthew Griffin, Hans Groiss, Ursula Hofbauer, Barbara Holub, Brigitte Jilka, Christa Kamleithner, Jutta Kleedorfer, Rudi Kohoutek, Elke Krasny, Martin Kutschera, Michael Mellauner, Helmut Mondschein, Klaus Overmeyer, Erich Petuelli, Mirko Pogoreutz, Sabine Pollak, Paul Rajakovics, Christian Reder, Walter Rohn, Klaus Ronneberger, Florian Schmeiser, Andreas Schneider, Georg Schöllhammer, Roland Schöny, Dieter Schreiber, Susanne Schuda, Martin Schwanzer, Andreas Spiegl, Dietmar Steiner, Christian Teckert, Klaus Vatter, Rudolf Zabrana, Wolfgang Zinggl, Beatrix Zobl.
Konzept/Organisation: Florian Haydn, Mirko Pogoreutz, Robert Temel. Alle Beiträge der TeilnehmerInnen von tempo..rar sind im Web unter www.hausfressen.at/temporar zu finden. Das Symposion tempo..rar schloss an das Forschungsprojekt Urban Catalyst an, das von der Europäischen Kommission mit Mitteln des 5. Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung gefördert wurde. Kulturwissenschaft ist nicht die ureigenste Domäne der EU-Forschungsförderung, aber im 5. Rahmenprogramm, das von 1998 bis 2002 lief, gab es innerhalb des thematischen Programms über Energie, Umwelt und nachhaltige Entwicklung eine key action zum Thema »Die Stadt von morgen und das kulturelle Erbe«. Nachdem 80 Prozent der (aktuellen) EU- BürgerInnen in Städten leben, wurden diese als untersuchungswürdig angesehen, allerdings wurde die key action im aktuellen 6. Rahmenprogramm nicht fortgeführt, ob wegen mangelnden Erfolgs oder mangelnder Bedeutung des Themas sei dahingestellt. Für kulturelles Erbe gibt es nach wie vor ein Programm, Stadtforschung kann allerdings inzwischen nur mehr im Rahmen von Projekten wie URBAN und INTERREG gefördert werden. Die Struktur von Urban Catalyst war überaus disparat: Elf PartnerInnen in sechs Ländern kooperierten innerhalb des Projektes, die jeweiligen Schwerpunkte unterschieden sich jedoch massiv, sie reichten von reiner sozialwissenschaftlicher Analyse bis zu stadtplanerischen Entwürfen, von der Reintegration ungenutzter Flächen in den Immobilienverwertungszyklus bis zur Beschwörung der Qualitäten der Leere und des Temporären. Projektinitiator und -koordinator war eine Gruppe in Berlin um Philipp Oswalt, Klaus Overmeyer und Kees Christiaanse. Näheres zu Urban Catalyst unter www.urbancatalyst.de

Florian Haydn ist Architekt und Urbanist; lebt und arbeitet in Wien und Berlin.
Gründungsmitglied von the POOR BOYs ENTERPRISE. Er war Projektpartner des EU-Forschungsprojektes Urban Catalyst und Mitorganisator des Symposions tempo..rar.

Robert Temel ist Architekturkritiker und Architekturtheoretiker in Wien sowie Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Arhitektur (ÖGFA). Er war Mitorganisator des Symposions tempo..rar.


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