Temporäre Nutzungen, Deregulierung und Urbanität
Temporäre Nutzungen tauchen seit einiger Zeit und immer öfter als neuer Begriff, als eine neue städtebauliche Methodik im Planungsdiskurs auf. Vor dem Hintergrund spezifischer Beispiele scheint klar zu sein, worum es sich dabei handelt; will man die einzelnen Phänomene jedoch verallgemeinern, treten einige Fragen auf: Was unterscheidet eine »temporäre Nutzung« von einer »normalen Nutzung«? Zeichneten sich städtische Nutzungen nicht immer schon durch ihren temporären Charakter aus? Tendieren gegenwärtig nicht alle Nutzungen dazu, kurzlebiger zu werden? Was ist überhaupt eine »Nutzung«? Was temporäre Nutzungen jedenfalls zu leisten scheinen, ist jede Menge Dekonstruktionsarbeit: Sie stellen Planung und mehr noch deren Voraussetzungen ganz grundsätzlich in Frage.
Temporäre Nutzungen tauchen seit einiger Zeit und immer öfter als neuer Begriff, als eine neue städtebauliche Methodik im Planungsdiskurs auf. Vor dem Hintergrund spezifischer Beispiele scheint klar zu sein, worum es sich dabei handelt; will man die einzelnen Phänomene jedoch verallgemeinern, treten einige Fragen auf: Was unterscheidet eine »temporäre Nutzung« von einer »normalen Nutzung«? Zeichneten sich städtische Nutzungen nicht immer schon durch ihren temporären Charakter aus? Tendieren gegenwärtig nicht alle Nutzungen dazu, kurzlebiger zu werden? Was ist überhaupt eine »Nutzung«? Was temporäre Nutzungen jedenfalls zu leisten scheinen, ist jede Menge Dekonstruktionsarbeit: Sie stellen Planung und mehr noch deren Voraussetzungen ganz grundsätzlich in Frage.
Das doppelte Gesicht der Nutzung
Die Sprache will uns glauben machen, dass Nutzungen das Selbstverständlichste auf der Welt seien. Sogar Marx hat dem »gesunden phänomenologischen Menschenverstand«[1] vertraut, wenn er vom »reinen und einfachen Gebrauchswert« eines Dings gesprochen hat, bevor es Tauschwert und in der Folge zum Fetisch der Ware geworden ist. Die »Nutzung« scheint für Flächen, Bauwerke und Räume das zu sein, was der Gebrauchswert für die Dinge ist – Raum als Behälter für sinnvolle Zwecke: Wohnen in der Wohnung, Unterricht im Schulgebäude, eine Aufführung im Theatersaal und all das mit der jeweils passenden Infrastruktur. Der Begriff Nutzung hat indessen ein Doppelgesicht: Er drückt einen Nutzen, eine Nützlichkeit aus, und zugleich spricht er das Recht der Gewährung an, wie es auch im alten Wort der Nutznießung zum Ausdruck kommt. Ein einziges Wort enthält in sich bereits den Übergang von einer Praxis des Gebrauchs, der »Funktion«, zu jenem Rechtsverhältnis der Verfügung und des Profits, wie es das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch auf der Basis des Privateigentums geregelt hat.
»Nutzungen im Sinne des deutschen Sachenrechts sind die Früchte und die Gebrauchsvorteile. Der Begriff wird an verschiedenen Stellen des Bürgerlichen Gesetzbuchs verwendet, z. B. wenn dem Nießbraucher die Nutzungen zugewiesen werden oder wenn der dem Eigentümer gegenüber nicht zum Besitz berechtigte Besitzer ab Klageerhebung verpflichtet wird, nicht nur die Sache selbst, sondern auch deren Nutzungen herauszugeben.«[2]
»Nutzungsrecht ist die vom Eigentümer einer Sache oder vom Inhaber eines Rechts eingeräumte Befugnis, die Sache oder das Recht zu nutzen oder zu verwerten. Eine besondere Art des Nutzungsrechts ist die Lizenz, bei der es um die Nutzung eines Urheberrechts, Patents oder eines anderen gewerblichen Schutzrechts geht.«[3]
Da die gesamte Welt der Sachen hierzulande flächendeckend als Eigentum konstituiert ist, ist dieses bürgerliche Recht die eigentliche Verfassung der Nutzungen, in der Stadt wie in der Architektur. Die Nutzung ist jedenfalls keine Qualität, die den Dingen, Bauten oder Räumen eingeschrieben ist, vielmehr ist sie immer auch schon ein gesellschaftliches Verhältnis im Dreieck von Eigentum, Besitz und Nutzungsrecht. Insofern ist die Nutzung eine mehr oder weniger flexible Beziehung, innerhalb derer die Menschen einen unterschiedlichen Gebrauch von ein und derselben Sache machen können, bzw. noch allgemeiner ausgedrückt: sich unterschiedlich zu dieser Sache verhalten – und dabei unterschiedliche Interessen verfolgen – können.[4]
Jene Nutzungen, wie sie im Bau- und Planungsrecht geregelt sind, erscheinen so selbstverständlich, dass ArchitektInnen und PlanerInnen wenig Gedanken an die spezifische »Konstruiertheit« dieser Nutzungen ver(sch)wenden. Was allenfalls diskutiert wird, ist die Polarität von Nutzungstrennung und Nutzungsmischung. Die Frage nach der Konstruktion von Nutzungen läuft letztlich aber darauf hinaus, wie das praktische Leben und die gesellschaftlichen Prozesse räumlich und eigentumsmäßig parzelliert und zeitlich segmentiert worden sind: Was davon sozusagen »vermischt« stattfindet, und wofür demgegenüber (ab-) gesonderte Institutionen, Praktiken, Räume entwickelt worden sind, die entweder als freies Angebot bzw. auf dem Markt gegen Bezahlung zur Verfügung stehen oder sogar verpflichtend in Anspruch genommen werden müssen.
Man macht sich von der »alten Gesellschaft« gern ein relativ statisches Bild und stellt dem die fortschreitende »Deregulierung« gegenüber: die Loslösung von tradierten Bindungen, etwa der Menschen an konkrete Räume. Tatsächlich hat es aber immer heftige Kämpfe um die Aneignung von Räumen gegeben, die im 19. Jahrhundert einen spezifischen Höhepunkt erreicht hatten – in dem alle gegenwärtigen Veränderungen ihren Beginn genommen haben und insofern verhältnismäßig klar von der vorigen gesellschaftlichen und räumlichen Verfasstheit ablösbar sind: Industrialisierung und Verstädterung, die Konstituierung einer neuen, bürgerlichen Gesellschaft und die Produktion von ArbeiterInnen als unabhängige Individuen.
Ein Auftakt dafür waren etwa in Deutschland die Stein-Hardenberg’schen Reformen, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Form mehrere Edikte die deutsche Raumordung grundlegend verändert haben, indem sie die für die moderne Stadt konstitutive Deterritorialisierung, die Entkoppelung von Haus und BewohnerInnen sowie alle möglichen anderen »Freiheiten« vorangetrieben haben: die Freizügigkeit der Person – d. h. die Auslösung der Bauern aus dem Untertanenverhältnis gegenüber den Grundherrn –, die Gewerbefreiheit – d. h. die Abschaffung des Zunftwesens – und die freie Verfügung über Grund und Boden – d. h. die Entwirrung oftmals mehrschichtiger Besitz- und Verfügungsrechte, damit verbunden die Enteignung vieler Bauern und die sukzessive Aufhebung kommunalen Eigentums. Damit wurden die rechtlichen Grundlagen für die Generierung frei verfügbarer Arbeitskräfte geschaffen, sie sind die Basis für den massiven Zuzug in die Städte und die Entstehung eines davor ungekannten Konkurrenzdrucks, der zur Proletarisierung vieler kleiner Gewerbetreibender geführt hat.[5]
Die Mobilisierung betrifft nicht alle gleichermaßen; es entsteht vielmehr eine Teilung der Bevölkerung in tendenziell sesshafte und hochmobile Gruppen, die durch die Neuverteilung des Bodens, die das Bürgertum gegenüber dem Adel stärkt, freigesetzt werden. In den Städten entstand so eine Parallelität von relativ fixen Raumnutzungen auf der Basis von langfristigen und stabilen Eigentumsverhältnissen und flexibleren, kurzlebigeren Nutzungsverhältnissen – verteilt auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Und dies mit einem heute kaum mehr vorstellbar häufigen, oftmals vierteljährlichen, Wohnungswechsel.[6] Neben den Wanderungen in die Stadt und in der Stadt machen die zeitlich befristeten und wechselnden Märkte, die jahreszeitlichen Aktivitäten und kirchlichen und weltlichen Feste die »temporären Nutzungen« der Stadt des 19. Jahrhunderts aus.
Temporäre Nutzungen als Selbstbeobachtung der Gesellschaft
Während die moderne Architektur – die an der Kritik der gründerzeitlichen Stadt und ihren erzwungenen Wanderbewegungen, an der so genannten »Wohnungsfrage« entstanden ist – an einer besonders engen Koppelung zwischen den Gebrauchsweisen und den Bauteilen, Räumen und Gebäuden interessiert war – Stichwort Funktionalismus –, hat die Architekturavantgarde der 1960er und -70er ein ausgesprochenes Interesse an den Themen der Flexibilität und Variabilität bekundet; lange bevor die neuen Informations-, Kommunikations- und Arbeitstechnologien, die neuen Just-in-Time-Formen und die Flexibilisierungen und Deregulierungen der Märkte und Institutionen (die entgegen ihrem Anschein nur die noch stabilere Aneignung von Eigentum in privater und profitablerer Form zum Gegenstand haben) den ArchitektInnen die diesbezüglichen Aufgaben gestellt haben.
Dass städtisches Leben – »Urbanität«, wie wir auch zu sagen pflegen, als Bild und als Prozess – innerhalb der räumlichen Trennungen des Funktionalismus nicht optimal prozessieren kann, ist die eine Seite, eine andere, dass es mit stabilem privatem Eigentum an Grund und Boden nur begrenzt kompatibel ist. Ein weiterer – damit in Zusammenhang stehender – Aspekt ist, dass es innerhalb des gesamten Spektrums urbaner Nutzungen zahlreiche Aktivitäten gibt, für die der private Immobilienmarkt nur unzureichende Angebote bereithält. Hat dies schon auf das vorletzte und letzte Jahrhundert zugetroffen, gilt es in veränderter Form ebenso für die Gegenwart, nun vor dem Hintergrund einer weiteren Beschleunigung der Verwertungszyklen und einer allgemeinen Mobilisierung. Während die Kategorien der Flächenwidmung mit den konventionellen Märkten für Wohnungen, Büros und Industriearealen auf der Basis des privaten Grund- und Hauseigentums und längerfristiger Belegungen einigermaßen korrespondieren, kann ein zunehmender Widerspruch zwischen der normalen Ökonomie privater Raumverwertung und den Anforderungen einer »urbanen Ökonomie« festgestellt werden.[7]
Unter diesem Begriff wird die Gesamtheit der für die Stadt wichtigen Aktivitäten und Nutzungen verstanden, die auch als Tauschsysteme aufgefasst werden können, die aber zum Teil aus dem Rahmen rentablen Tauschens herausfallen – insofern nur sehr niedrige Mieten bezahlt werden können. Viele dieser Nachfragegruppen sind zudem instabil und zu fern der etablierten Märkte, als dass sie soviel Kapital akkumulieren könnten, um auf dem städtischen Immobilienmarkt mit »normalen Nutzungen« konkurrieren zu können. Dazu gehört das Feld sozialer Nutzungen: Vereinsaktivitäten, Räume für Kinder und Jugendliche u. ä., insgesamt gemeinschaftliche Aktivitäten, die nicht dauernd stattfinden, aber dennoch Räume benötigen; oder das kulturelle Feld, das längst über die klassischen Kulturstätten oder Orte der Populärkultur hinausgewachsen ist und flexible Räume in den verschiedensten Größenordnungen benötigt. Eine weitere Spielart der urbanen Ökonomie ist die Innovationsförderung: Start-ups und die Netzwerke der so genannten creative industries, die besondere Räume und Produktionsbedingungen benötigen, die der normale »Raummarkt« nur in unzureichendem Zuschnitt oder zu teuer anbietet.
In diesen Feldern wird deutlich, dass im Rahmen der üblichen Rechtsverhältnisse und Planungsverfahren eine Reihe zentraler städtischer Nutzungen nur schwer aktiviert werden können; sie fallen offenbar aus dem, was als »normal« angesehen wird, heraus. Um dennoch Raum für solche Aktivitäten zu erhalten, werden immer häufiger – vor allem im Kunstkontext – rechtlich prekäre Situationen[8] in Kauf genommen, die schon aufgrund der Vertragslage eine nur »temporäre Nutzung« bedeuten. Insofern sie den ökonomischen und rechtlichen Ausnahmefall darstellen, markieren temporäre Nutzungen, wofür eine Gesellschaft üblicherweise keinen Raum vorgesehen hat, und sie benützen Räume, die aus welchen Gründen auch immer leerstehen, die also im Schatten gesellschaftlicher oder privater Aufmerksamkeit liegen. Temporäre Nutzungen beobachten gesellschaftliche Verhältnisse und nützen Lücken und Nischen aus. Paradox ist dabei, dass einerseits laufend – und im Zunehmen begriffene – Leerstände zu verzeichnen sind und andererseits die Städte in ihrer Standortpolitik und -konkurrenz jede Art von Belebung und Innovation dringend nötig hätten. Infrage steht hier, ob temporäre Nutzungen dafür eine Lösung anbieten bzw. insgesamt zu
Ähnliche Fragen werden heute bereits auch von offizieller Seite und die »normalen«, großflächig auftretenden städtischen Nutzungen betreffend – gestellt. Etwa, wenn das DifU[9] im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen eine »Studie über die spezifischen wirtschaftlichen Nutzungszeiten von städtebaulichen Funktionen und Einrichtungstypen« bearbeitet, in der die grundsätzliche Frage nach den »Zeitintervallen von Nutzungszyklen bei gewerblichen Immobilien und Flächen« gestellt wird. Dabei geht es um das »erhöhte Tempo des Umschlags von Immobilien in verschiedenen Branchen« mit der Gefahr von Leerständen, Brachen und konkreten stadträumlichen Schäden dieses galoppierenden und urban weitgehend unverantwortlichen Investments.[10]
Man kann nun unter stadtplanerischen, gesellschaftskritischen Perspektiven diese Deregulierung beklagen; man kann – wie dies die DifU-Studie nahe legt – einige zusätzliche steuernde Instrumente restriktiver wie monetärer Art zu entwickeln versuchen, und ansonsten zusehen, wie die »alte Urbanität« in den Städten mehr und mehr verfällt, und sich darüber streiten, welcher soziale ökonomische und kulturelle Stellenwert der »neuen Urbanität« beigemessen werden soll: der städtischen Eventkultur, den Straßenmärkten, Schanigärten, Fußgängerzonen und Shopping-Malls. Eine andere Schlussfolgerung wäre, der passiv erlittenen Deregulierung eine andere, positive, programmatische Deregulierung von Nutzungen im Verhältnis zu langfristigem Eigentum und »Normalverwertung« in der Form von »temporären Nutzungen« entgegenzusetzen.
Temporäre Nutzungen als Programm
Dies würde bedeuten, dass es in den Städten einer ergänzenden Praxis der Raumnutzung bedarf, die geschickt – und durch eine geringfügige Erweiterung des Planungs- und Baurechts – mit Leerständen, Nischen und Zeitfenstern in Nutzungsveränderungen operiert, um urbane Disparitäten auszugleichen. Temporäre Nutzungen würden sich damit in eine – von den Effekten her vielfältige, teils ambivalente – Bewegung einreihen, wie sie in der Deregulierung und Flexibilisierung der Raumnutzung ohnedies vor sich geht: etwa die zeitlich gestaffelte Nutzung öffentlicher Räume für Events; die Parkraumbewirtschaftung auf der Basis unterschiedlicher Zeiten und Berechtigtenkreise; neue Befristungen im Mietrecht; die gewaltige Deregulierung der Berufsbiografien und deren Effekte auf die Wohnsituation etc.[11] Temporäre Nutzungen könnten das Paradigma der Deregulierung aber möglicherweise in neuer anderer Weise interpretieren. Was würde sie dann gegenüber den »normalen« immer kurzlebigeren Nutzungen kennzeichnen? Welche räumlichen und zeitlichen Muster mit ihren je verschiedenen ökonomischen und ökologischen Konsequenzen lassen sich hier unterscheiden? In den USA beispielsweise finden sich temporary uses in vielen Planungs- und Bauordnungen, sie sind die Sammelbezeichnung für Nutzungen von kurzer Dauer, die mehr oder weniger taxativ aufgelistet sind und alles zwischen Christbaummärkten, Musterhäusern und Konstruktions- bzw. Verkaufsbüros von DeveloperInnen betreffen. Diese US-amerikanische Pragmatik ist jedenfalls die Ursache, dass sich im Internet (Google) unter der englischen Wortgruppe temporary uses 6.400 Eintragungen finden lassen. Demgegenüber stehen in Google gerade einmal 200 Nennungen unter der deutschen Wortgruppe »temporäre Nutzungen«, und davon mehr als die Hälfte aus dem Umkreis von »Urban Catalyst«[12]. Hier und nur hier sind »temporäre Nutzungen« ein programmatischer Begriff, der aus bestimmten historischen »Nutzungen« – oder vielmehr Ereignissen – und der sich etwas verflüchtigenden Gegenwart der Sub-, Gegen- bzw. Alternativkultur[13] eine städteplanerische Methodik entwirft.
Von der Aneignung eines heruntergekommenen Lofts als Bildhaueratelier oder der »Besetzung« eines alten funktionslos gewordenen Schlachthofes wie 1976 in Wien und seine Umwandlung in eine »Arena« für die Zwecke alternativer Kultur – die spektakulärste Wiener Hausbesetzung – ist es aber ein weiter Weg zu einer neuen Programmatik temporärer Nutzungen und deren solider Absicherung im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch. Die Kunst hat in der Ausdifferenzierung der modernen Funktionssysteme gewisse Freiheitsgrade erhalten, sich bewahrt oder erobert, mittlerweile jedoch geradezu systemisch überantwortet bekommen. Insofern darf Kunst – aber nur auf symbolische Weise – auch mit dem Privateigentum wie mit den meisten anderen gesellschaftlichen Institutionen »spielen«, ihre Grenzen ausloten und Unterscheidungen thematisieren. Wurde die Arena 1976 nach einer 100-tägigen »Spielzeit« gewaltsam polizeilich geräumt, gehören kulturelle temporäre Nutzungen nunmehr zum offiziellen Programm von Stadtentwicklungsvorhaben, wie etwa am Gelände des ehemaligen Kabelwerks in Wien Meidling.
Etwas ganz anderes würden temporäre Nutzungen im Feld »des Sozialen« bedeuten; doch ist dieses Feld anders kodiert als jenes von Kunst und Kultur. Das Soziale liegt in der Verantwortung des Staates und der »guten Besitzenden«, weshalb die Aneignung von Privateigentum durch Obdachlose oder Arbeitslose das System stärker provozieren würde, als dies im Fall der Kunst gegeben ist: Für das Minimal-Soziale hat der Staat zu sorgen, der Rest soll durch private und freiwillige Almosen abgedeckt werden oder wird hinter Kirchentüren betreut.[14] Temporäre Nutzungen von 1968 bis heute waren insofern im Wesentlichen die subkulturelle, zeitlich begrenzte Aneignung von Räumen für den emphatisch artikulierten »erweiterten Eigenbedarf«. Damit wurde und wird immer noch ein letzter Rest von Bohème-Bonus konsumiert. Nur künstlerisch und kulturell – nicht aber moralisch oder politisch – erträgt die herrschende Ordnung ihre punktuelle Selbstbefragung und Infragestellung. Darüber hinauszugehen, wäre das wirklich Interessante an einer Praxis temporärer Nutzungen, die jedoch ambivalent bleiben wird.
Bevor man zeitlich befristete Nutzungen zum Programm erhebt, sollte man sich vergegenwärtigen, dass »temporäre Nutzungen« am unmittelbarsten und in unvorstellbarem Ausmaß mit Kriegen, Vertreibungen oder Naturkatastrophen verbunden sind. Temporäre Nutzungen entstehen in erster Linie aus einer Mangelsituation heraus. Dies in eine positive Deutung zu überführen, ist alles andere als selbstverständlich, entspricht aber derselben Auffassung, mit der heute die Großstadt des 19. Jahrhunderts positiv aufgefasst wird. Urbanität entspringt einer Mangelwirtschaft, die die HausbewohnerInnen aufgrund fehlenden Wohnraums – verursacht durch einen unregulierten Wohnungsmarkt – in den öffentlichen Raum drängt. Die Stadt des 19. Jahrhunderts ist geprägt von der Logik des Immobilienmarkts, der von Verwertungszyklen ausgeht und nicht von idealen Endzuständen – und der damit eine funktionalistische Architekturauffassung durchquert. Was dadurch erzeugt wurde, war ein Auseinanderfallen von vorgesehener und praktizierter Nutzung und eine dauernde Wiederaufbereitung alter Bausubstanz – eine Version möglicher Urbanitätsdefinitionen[15].
Dies trifft freilich nicht mehr zu, wenn größere Leerstände bzw. ständiger Neubau infolge neuer Investmentstrukturen und Produktionstechnologien leistbar werden, was den Immobilienmarkt ganz anders funktionieren lässt. Die zunehmende Temporalisierung von Nutzungen kann zu Stadtplanung als Stadtrecycling führen, sie kann aber auch zu einem immer schnelleren Wechsel von »Idealzuständen« führen, wie ihn Rem Koolhaas unter dem Titel »Junk-Space« beschrieben hat[16] – der seine unnütz gewordenen Hüllen hinterlässt und der öffentlichen Hand überantwortet. Bringt Ersteres eine historische Dimension in die »Nutzung« ein, eine erzwungene Auseinandersetzung mit älteren Nutzungen, verkörpert in den bestehenden Bauformen, stellt Zweiteres einen ahistorischen auf die Spitze getriebenen Funktionalismus dar, der scheinbare Idealsituationen aneinander reiht ohne in der Lage zu sein diese zu vernetzen – mit allen ökologischen und sozialen Konsequenzen.
Dass temporäre Nutzungen nun auch von PlanerInnenseite als sinnvolle Momente einer prozesshaften Planungspraxis gesehen werden, hängt mit diesen Entwicklungen eng zusammen. Ein solches – postmodernes – Planungsverständnis ist ein nicht unbedeutendes Novum in der Geschichte der Stadtplanung, insofern eine Planung, die von einer radikalen Konvertibilität von Gehäusen ausgeht, sich selbst radikal infrage stellt. Dieses Umdenken hängt sicherlich mit dem Scheitern modernen Städtebaus zusammen, ist nicht zuletzt aber ein Effekt einer zweihundertjährigen Geschichte der Zersetzung traditioneller Bauformen und der Auflösung der Verbindung von Bau, BewohnerInnen und »Nutzungen« durch den Immobilienmarkt, der darin eine aufbereitende ‚architekturkritische’ Arbeit vollzogen hat.
Fußnoten
Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 205. ↩︎
Dies ist wiederum ein Ansatzpunkt für Ästhetik, Kunst und Kultur, der es ermöglicht, die Dinge und Räume zu verfremden, ihnen alternative, auch gegen den Gebrauchswert gerichtete Bedeutungen zu geben. Hier liegt auch der Irrtum eines bestimmten – monofunktionalen – »Funktionalismus«, der die Nutzung der Dinge und Räume immer einheitlicher, störungsfreier und zwingender gestalten wollte. ↩︎
Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus, Bd. 1: 1740-1862. München: Prestel, 1980, S. 72f, 47. ↩︎
Clemens Wischermann: Mythen, Macht und Mängel: Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozess, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800-1918. Das bürgerliche Zeitalter, hg. von Jürgen Reulecke. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung; Stuttgart: DVA, 1997, S. 448. ↩︎
vgl. auch den Endbericht der Magistratsabeilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung für das EU-Forschungsprojekt »Urban Catalyst. Strategien für temporäre Nutzungen – Entwicklungspotentiale für urbane Residualflächen in europäischen Metropolen«, der in Form eines Werkstattberichtes demnächst publiziert wird. ↩︎
Eine vertragliche Form, die für die NutzerInnen nur geringe Kosten bedeutet, ist das so genannte Prekarium, das von der Eigentümerseite jederzeit kündbar ist. ↩︎
Deutsches Institut für Urbanistik ↩︎
http://www.difu.de/forschung: »Einzelhandelsobjekte in Nebenzentren und hoch spezialisierte Immobilien in der Freizeitbranche weisen ein erhöhtes Risiko auf, im weiteren Verlauf brachzufallen.« »Um Vorsorge für den Fall eines dauerhaften Leerstands zu treffen, wurde angeregt, eine Pflichtversicherung zur Finanzierung des Rückbaus und der Renaturierung vorzusehen.« Interessant ist hierbei, dass an »Renaturierung« gedacht ist, nicht aber an das Zur-Verfügung-Stellen für Nutzungen, die günstigen Raumbedarf haben. ↩︎
Alle diese »Bewegungen« operieren ohne Zweifel im Feld einer gewaltigen Spannung zwischen Prozessen der massiven Deregulierung und neuen Fixierungen sowie Kapitalkonzentrationen, die vermittelt über die Folgewirkungen der drohenden Arbeitslosigkeit, der Vernichtung des Know-hows kleiner Firmen, der radikalen Konzentration der Buch-, Zeitungs- und Medienmärkte usw. aktiv und passiv auch eine Fülle neuer nomadischer Ströme freisetzen. ↩︎
siehe dazu die Informationen am Ende des Artikels von Florian Haydn und Robert Temel in diesem Heft. ↩︎
Temporäre Nutzungen als die mehr oder weniger friedliche bis subversive Aneignung von Flächen und Bauten zum subkulturellen Eigenbedarf, also »Hausbesetzungen«; oder die Formen von vorübergehender Aneignung privaten Grundeigentums, wie sie in verschiedenen Ländern bei leerstehenden Häusern und entsprechender Notlage toleriert wurde bzw. wird (Italien, Großbritannien oder in den südamerikanischen Favelas). ↩︎
Ausnahmen eines sozial-räumlich bereits anerkannten temporären Bedarfs, der sowohl mit der allgemeinen Deregulierung und den sinkenden Mitteln der öffentlichen Hand wie auch einer positiven Anerkennung der Qualitäten des Temporären, Ephemeren zu tun hat, sind bspw.: Schulraum (Schulschiff, eingemietete Klassen, bis hin zu den Vorlesungen in leerstehenden Großkinos), temporäre Freiraumnutzungen für Kinder und Jugendliche (die Koordinationsstelle für Mehrfachnutzung »einfach mehrfach« des Wiener Magistrats) u. ä. ↩︎
nach: Walter Siebel: Strukturwandel der europäischen Stadt, in: Ernst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler (Red.), 100% Stadt. Der Abschied vom Nicht-Städtischen, hg. vom Haus der Architektur. Graz, 2003, S. 29. ↩︎
Rem Koolhaas: Junk-Space, in: ARCH+ Nr. 149/150. Aachen 2000. ↩︎
Christa Kamleithner
Rudolf Kohoutek arbeitet freiberuflich zu Themen im Bereich Architektur, Wohnen, Stadtentwicklung, Kultur und Planungsmethoden.