Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


In den letzten Jahren zeichnet sich mit zahlreichen Neu- und Wiederveröffentlichungen eine Renaissance des französischen Kultschriftstellers Georges Perec (1936-1982) im deutschen Sprachraum ab. Neben den Verlagen Hanser und Ritter hat sich vor allem der Diaphanes Verlag um die Zugänglichmachung seines Werks verdient gemacht. Mit Träume von Räumen liegt nun ein zentraler Text aus dem umfangreichen Œuvre Perecs vor, der zuletzt 1990 als Übersetzung greifbar war. Der ursprünglich 1974 als Espèces d’Espaces erschienene Band ist in mehrfacher Hinsicht wesentlich für das Verständnis des Schriftstellers – und zugleich auch eine ideale Einführung in seine literarisch-philosophische Wunderwelt. Die eigenwillige, spielerische und zugleich auch sehr ernsthafte Erschließung der Spezies der Raumarten, die im Originaltitel eingelagert sind, war von Paul Virilio, mit dem Georges Perec bei der kurzlebigen Zeitschrift Cause commune zusammengearbeitet hatte, für dessen Buchreihe L’Espace critique beauftragt worden. Die deutlich soziologische bzw. philosophische Schwerpunktsetzung in der Auseinandersetzung mit der Kategorie des Raums, die diese Buchreihe bis heute prägt, hat retrospektiv betrachtet den idealen Rahmen für Perecs Ausführungen abgegeben. Wenig überraschend ist er mit seinen gleichermaßen autobiografischen wie topografischen Überlegungen dabei in namhafter Gesellschaft, sind doch beispielsweise auch Félix Guattari, Jean Baudrillard, Michel Onfray oder Marc Augé mit Monografien in L’Espace critique vertreten. Perecs Buch muss man aber trotzdem eine Sonderstellung zubilligen: Seine systematische Alltagserforschung mit den Mitteln literarischer Formenvielfalt, seine ungewöhnlichen, doch eindeutig bestechenden Perspektiven auf Subjekt und Raum können als in dieser Hinsicht unübertroffen gelten. Wenn Perec mit der Seite startet, über das Bett und das Mietshaus zum Viertel gelangt, u.a. Stadt, Land und schließlich sogar die Welt hinter sich lässt, um beim Raum zu landen, verfolgt er weniger ein Programm der Vollständigkeit oder gar die Begründung einer eigenen Raumtheorie, denn vielmehr ein persönliches, hochgradig reflexives Durchspielen selbstauferlegter Kategorien. Die oft nur wenige Seiten umfassenden Kapitel sind dichte literarische Beschreibungen, die in ihrer Vielfältigkeit zu nichts weniger anstiften wollen, als zu einer Neuausrichtung im Denken über Raum: Das schmale Buch enthält Listen, dramatische Szenen, Spielanweisungen, Bildbeschreibungen oder Kinderlieder ebenso wie lange Zitatpassagen, Brief- und Projektentwürfe. Die literarische Annäherung an das Nahe, das so genannte Alltägliche – eine Annäherung, die bei Perec stets unter den Vorzeichen des Experiments und des nivellierenden Befragens des Tradierten operiert – bringt dabei gleichermaßen das Unvermutete als auch »das wiedergefundene Vertraute« und das Eigene hervor. Geprägt durch das Trauma der Shoah ist nicht zuletzt deshalb die Auseinandersetzung mit der Kategorie der Erinnerung allgegenwärtig. Die Beschäftigung mit dem abstrakten Raum wird zur persönlichen Auseinandersetzung mit den bedrohlichen Seiten einer individuellen Kartografie der Geschichte(n). Die öffentliche Schrift, die veröffentliche Literatur wird bei Perec zum gestifteten Zeichen, dem Dauer zugebilligt wird. Zur Idee einer literarischen Hinterlassenschaft, die Spuren zieht und unübersehbar bleiben soll, tritt – und das scheint in der Auseinandersetzung mit Perec bislang weit weniger Beachtung gefunden zu haben – die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst als Referenz. So ist Träume von Räumen wenig zufällig dem Maler Pierre Getzler gewidmet, hatte Perec mit ihm doch einen Austausch zu Paul Klee, der sich in Perecs Défense de Klee aus 1959 manifestiert. Schon in diesem kurzen Text lässt sich eine Hinwendung zu den Details, zu den leichthin übersehenen Kleinigkeiten und auf das Ausweisen der Gemachtheit von Kunstwerken nachweisen. Perecs werkübergreifendes Projekt einer Weltaneignung qua literarischem Schreiben lässt sich zumindest für das vorliegende Buch als ein Schreiben im Sinne Klees definieren, in der die Aufgabe der Künste eben nicht in der Wiedergabe des Sichtbaren zu finden ist, sondern in der Sichtbarmachung an sich. Perecs Neuverhandlung im Umgang mit einer streckenweise entfremdeten Welt – auch dies ist ein Umstand, der sich schon im erwähnten Text über Klee finden lässt – ist dem Wahrnehmen als Mittel des Verstehens, dem Beobachten als Prozess des Erkennens verpflichtet. Träume von Räumen ist eine berührende, künstlerisch inspirierende und theoretisch im besten Sinne brauchbare Lektüre. Perecs literarische Mustersprache des Räumlichen – man denke zum Vergleich etwa an das historisch verwandte Werk A Pattern Language. Town, Buildings, Constructions (1977) von Christopher Alexander u.a. – ist dabei aber nicht nur Ausdruck einer durchdachten Standortüberprüfung, sondern eine generelle, bereichernde und nicht zuletzt sehr unterhaltsame Infragestellung unserer vermeintlichen Gewissheiten über die Kategorie des Raums.


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