Iris Meder


Dass in den letzten Jahren ein Mangel an Publikationen über das Haus Tugendhat geherrscht hätte, kann man nicht behaupten. Abgesehen von allen »Mies in …«, »Mies am …«, »Mies-Möbel« usw. -Katalogen haben sich in jüngster Zeit vier Bücher speziell mit Mies’ ikonischem Brünner Bau beschäftigt. Den Anfang machten zwei bei Pustet und Springer erschienene Bände, die erstmals auch die erhaltenen Möbel bzw. die Amateurfotografien Fritz Tugendhats ausführlich vorstellten. Möbel wie Fotos sind zum größten Teil im Besitz von Daniela Hammer-Tugendhat, der im Exil geborenen jüngsten Tochter der Tugendhats. Es folgten ein kompakter Symposiumsband und eine fotografische Dokumentation des Brünner Fotografen Libor Teply. Erfreulicherweise sind alle vier Bücher empfehlenswert. Jedes zeichnet sich durch höchste Kompetenz in den länger oder kürzer gehaltenen Textbeiträgen aus.
Die Welt hatte also eigentlich nicht nach noch einem Buch über das Haus gelechzt. Im bescheidenen Gewand eines querformatigen A4-Hefts kommt aber nun ein wunderbarer neuer Kommentar zu den seit 1930 nicht verstummten Debatten um die Bewohnbarkeit des Hauses daher. Er zeigt, im Zusammenhang der Wiener Ausstellung zu Mies’ Möbeln, unter anderem Fritz Tugendhats bisher unveröffentlichte Farbfotos. Bereits im Springer-Band hatte Daniela Hammer-Tugendhat einige Schwarzweißfotos aus den Familienalben publiziert. Da sah man die jüdischen Tugendhats vor ihrem großen Weihnachtsbaum und die Kinder mit Freunden und Freundinnen beim Spielen auf den weichen Wollteppichen. Und, eines der schönsten Bilder, den kleinen Ernst und seinen Spielkameraden, wie sie, die nackten Füße über der Warmluftheizung, die Regentropfen betrachten, die die Glaswand des Wohnraums herunterrinnen.
Mit der Veröffentlichung der farbigen Bromölumdrucke, die Fritz Tugendhat in der eigenen Dunkelkammer anfertigte, wird nun offensichtlich, dass eine neue Betrachtung von Mies’ minimalistischer Moderne not tut. Das tägliche Leben im Haus gestaltete sich nämlich weitaus gelassener, als es Mies’ radikaler Ansatz erwarten ließ. Beinahe hätte er kurz zuvor noch den Auftrag zurückgelegt, als die Tugendhats Zweifel an der Sinnhaftigkeit raumhoher Türen äußerten. Seine kategorische Antwort: »Dann baue ich nicht«. Mies durfte, mit raumhohen Türen, bauen. Die Tugendhats, alles andere als laienhafte, repräsentationssüchtige Modefreaks, mussten in der Folge öffentlich Auskunft zur Frage »Kann man im Haus Tugendhat wohnen?« geben und zögerten nicht, generelle Erklärungen zu liefern, nach denen das Haus ein befreiend strenges Regiment führe. »Diese Strenge verbietet ein nur auf ‘Ausruhen’ und Sich-Gehen-Lassen gerichtetes Die-Zeit-Verbringen«, stellte Grete klar; »die unvergleichliche Zeichnung des Marmors, die natürliche Maserung des Holzes sind nicht an die Stelle der Kunst getreten, sie treten in der Kunst auf, im Raum, der hier Kunst ist«, erläuterte Fritz.
Der Wohnraum eines Einfamilienhauses als Kunst? Das klingt nach Wiener Werkstätte und feinnervigem Gesamtkunstwerk. Gerade deshalb bilden Fritz Tugendhats Fotos eine Ergänzung zu diesem ästhetizistisch-puristischen Wohnkonzept, die absolut notwendig ist, will man der Architektur von Mies gerecht werden. Sie zeigen nämlich, wie entspannt die strenge Konzeption eines Mies-Hauses in der Praxis zu handhaben war. Bereits von Anfang an geplant war offenbar der Pflanzenbewuchs des Hauses und der Stahlpergola auf der Terrasse. Bunte Blumensträuße statt modischer Kakteen stehen auf den Glastischen, knallrot gepolstert ist der Sessel, auf dem Grete ein knallrotes Buch liest. Kinder lümmeln behaglich auf den Stahlrohr-Freischwingern statt mit durchgedrücktem Kreuz und verbissenem Blick, wie es zeitgenössische Karikaturen darstellen. Narzissen blühen im Wintergarten, und auf dem Palisander-Bridgetisch liegt ein – horribile dictu – Spitzendeckchen.
Über Jahrzehnte hinweg wurden Theorie und Praxis der Moderne unreflektiert in eins gesetzt. Kaum jemand hinterfragte das kanonische schwarzweiße, strikt orthogonale Bild funktionalistischer Architektur. Schon damals ersetzten Fotografien für die meisten Architekturinteressierten die eigene Anschauung. Gerade bei veränderten oder zerstörten Bauten (oder für den Westen lange Zeit nicht zugänglichen wie dem Haus Tugendhat) sind die sofort nach Fertigstellung entstandenen Aufnahmen komplett anstelle des Gebäudes getreten. Die abstrahierte, menschenfreie Darstellung war beabsichtigt. Der unbefleckte leere Bau wurde auf die Platte gebannt, bevor die ignoranten Bewohner und Bewohnerinnen ihre Scheußlichkeiten hineintrugen. Denn, so Kurt Schwitters in seiner Kritik von Mies’ Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung: »Es kann vorkommen, dass die Einwohner nicht so reif und so frei sind wie ihre eigenen Türen.« Es konnte nicht nur vorkommen, es war die Regel. Die Tugendhats stellten sich dem Kampf mit ihren Türen. Und sie waren siegreich. Das Dokument dieser Aneignung sei allen an moderner Architektur Interessierten wärmstens ans Herz gelegt.

Ilsebill Barta
Wohnen in Mies van der Rohes Villa Tugendhat
fotografiert von Fritz Tugendhat 1930-1938
Wien 2002 (Museen des Mobiliendepots)
46 S., EUR 15.-


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