Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Der 1951 geborene Künstler Enki Bilal ist eine erfreuliche Ausnahmeerscheinung: In den unterschiedlichsten Feldern erfolgreich, hat er sich nie Moden angepasst oder Marktzwängen unterworfen. Der Kristallisationspunkt seiner zahlreichen Arbeiten, ob nun Bildende Kunst, Comic oder auch Film, ist die Auseinandersetzung mit einem politisch motivierten und zugleich ästhetisch hochreflexiven sequentiellen Erzählen. Abseits aller rückwärtsgewandter Beschwörungen monolithischer Ideologien kehrt Bilal immer und immer wieder neu zur konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit den Fragen des Politischen, des Urbanen und des Gesamtgesellschaftlichen zurück. Von Größen wie Moebius beeinflusst, entwickelte er seit der Veröffentlichung seiner ersten Comic-Kurzgeschichte 1972 seinen eigenwillig-betörenden Zeichenstil, der u. a. nicht unwesentlich für das Gelingen der unlängst neu aufgelegten Doku-Fantasy-Serie Legenden von heute war. In dieser ab 1975 zusammen mit Autor Pierre Christin realisierten Geschichtenfolge bietet er eine Abrechnung mit Machtmissbrauch und sozialer Ungerechtigkeit in Form politischer Allegorien. Durch diese Arbeiten und Folgeprojekte wie Treibjagd wird Bilal als einer der Chronisten des Untergangs des damaligen Ostblocks begreifbar, dessen Bildwelten nicht selten von der Leitästhetik ebendieses Systems partizipieren und zehren. Nicht weniger kritisch und detailgenau wirken auch die apokalyptisch anmutenden Szenarien der Trilogie Alexander Nikopol. Diese in naher Zukunft angesiedelte Dystopie eines faschistischen Systems und des Aufbegehrens einiger romantischer, doch desillusionierter Protagonisten – eben des vom System verfolgten Astronauten Alexander Nikopol, seines weiblichen Pendants Jill Bioskop und des altägyptischen Gottes Horus, der von seiner Göttergesellschaft ausgeschlossen wurde – verbindet erneut bissige Sozialkritik und phantastisch geprägte Stadtdarstellung mit mythologischen Elementen.
Neben Versatzstücken der antiken Mythologie ist es auch der Einsatz der literarisch vorbelasteten Farbe Blau, die sich in den ansonsten recht monochrom angelegten Tableaus bemerkbar macht und auch schon in den früheren filmspezifischen Arbeiten des Künstlers nachweisbar ist: 1983 entwarf er einige Szenen und das Setdesign für Alain Resnais’ La vie est un roman und arbeitete an Michael Manns The Keep mit. Nach Designarbeiten für Der Name der Rose (1986) folgte 1989 Bilals Regiedebüt Bunker Palace Hôtel, das bereits lose auf dem ersten Teil der Nikopol-Trilogie Die Geschäfte der Unsterblichen basiert – ein Comic, der in den Vereinigten Staaten unter dem sprechenden Titel Gods in Chaos veröffentlicht wurde. 1997 entstand schließlich der erzählerisch anspruchsvolle, von Verweisen durchzogene Film Tykho Moon. Dieser – bei seinem Erscheinen von der Kritik eher gemischt aufgenommene – Film versetzt uns, ganz gemäß dem typischen Setting von Bilals Arbeiten, in ein dystopisches politisches System. Beherrscht vom hypochondrisch-hysterischen Diktator Macbee, erstreckt sich auf dem Mond eine schäbige, heruntergekommene Metropole, eine staubige Welt, die trotz aller gewollter Verzerrungen immer noch als ein Spiegelbild unserer Wirklichkeit zu erkennen ist. Der von einer Erbkrankheit bedrohte Despot, der ständig am Rande des Zusammenbruchs steht, residiert in einem streng isolierten Bereich und verlangt nach Unsterblichkeit, die ihm ausgerechnet die Organe seiner Nemesis Tykho Moon garantieren sollen. Die titelspendende Hauptfigur ist eine der zahlreichen Chiffren des symbolträchtigen Films, und es scheint nur passend, dass sich Fragen von Identität, staatlicher Lenkung und biopolitischer Macht in ihr verbinden. Tykho Moon ist aber, ganz eine der Varianten von Bilals gebrochenen Protagonisten, kein Actionheld, sondern ein flüchtender Künstler ohne Gedächtnis, eine romantische Reminiszenz. In einer von Sirenengeheul erfüllten Welt, die von einer Vielzahl getriebener, verschwörungsgeplagter Figuren bevölkert ist, verfolgt scheinbar nur er keine eigene Agenda. In symbolträchtigen, düsteren Bildern gestaltet Bilal seine mysteriöse, heruntergekommene Stadt, ein lunares Babel voller Wirrnisse und Gefahren. Anstelle hermetischer narrativer Angebote und Genretopoi zeigt er eine auch formal zersplitterte Welt, die den ZuseherInnen ein deutliches Maß an Rekonstruktions- und Denkarbeit abverlangt. Tykho Moon ist eine ebenso ernüchternde wie absurd anmutende filmische Zukunftsversion, die es wieder­zuentdecken gilt.


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