Urbane Psychologien
Besprechung von »Jetzt können wir schlafen gehen! Zwischen Wien und Berlin« von Anton Kuh, herausgegeben von Walter SchüblerBerliner und Wiener sind ethnologisch verschieden. Anton Kuh, legendäres Unikum der mündlichen Rede und Gutachter urbaner Seelenriffe, hat diese Tatsache beharrlich erörtert — in polarisierendem Sprachgewand, in auflagestarken Periodika, in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Kuh war Anwalt der Differenz, ein Seismograph kultureller Spannungen, Dreistigkeitsexperte, Großstadtpychologe.
Der Wiener Literaturwissenschaftler Walter Schübler hat Anton Kuhs urbane Gutachten aufs Neue gesichtet und geordnet, um den hartnäckigen Makel Kuhs — Dampfplauderer, Schwätzer, Störenfried — in notable Bahnen zu lenken. Nota bene. Auch im Gestrüpp der Literaturgeschichte sind Verholzungen nur mit der Baumschere entfernbar. Walter Schübler hat sich ins Gestrüpp begeben, um die Kuhsche Wurzel freizulegen. Die bislang unbekannten Zweige sind im Sammelband Zwischen Wien und Berlin mit einigen seiner auskragenden Astadern zu finden. Nur der Titel des Gebindes Jetzt können wir schlafen gehen! lässt die Stirnfalten runzeln. Warum schlafen gehen, wenn zwischen Wien und Berlin noch soviele Kapitel liegen? Als Vorschlaflektüre etwa? Oder Gleichzeitigkeitsschlaflektüre? Dafür eignet sich der notorische Aufrüttler Kuh nicht, jener »Aufmischer aus Wien«, der zwischen einem »gedruckten und einem wirklichem Wien« unterschied. »Merkmal des gedruckten: daß es selbiges nicht gibt. Merkmal des andern: daß man nicht will, daß es sei.« Heutigen Pressestandards wäre Anton Kuh gewiss zu aufrichtig, tonangebende Zeitungen würden Anton, den Stier, gar nicht erst in ihre Meinungsarena lassen, denn »wenn einer Kuh heißt und ernst genommen werden will, muß er so tun, als wäre er ein Stier.« (Géza von Cziffra. Der Kuh im Kaffeehaus) Als solcher nahm Kuh auf die Hörner, was mit falschem Selbstbewusstsein strotzte: preußischen Ehrgeiz, »dynamisch triefenden Wortschweiß« der Theaterkritiker, Wiener Provinzaffekte und Berlins Surviving »am Abgrund der Unwirklichkeit«.
Dafür bekam er erboste Lanzen zu spüren: »Anekdotenlieferant«, »schlampiges Genie«, »Nestbeschmutzer«, aber auch den Jubel der Bewunderer: »Zerplatzender Intellekt, Mensch gewordener Nerv« usw. Die Zuschreibungen tragen phantastisch blitzende Rüstung aus Wort, Bild, Effekt. Auch Anton Kuhs publizistischer Stil bestand aus phantastisch aufblitzenden Einfällen, die ihrer Wirkung sicher sein wollten.
Beides, Einfall und Rüstung, gaben sich die Klinge, denn Klinken verachtete Kuh, während sein Name bereits durch die Redaktionsstuben polterte, noch bevor überhaupt eine Zeile von ihm eintroffen war. Kuhs eloquenter Wortwitz war so schlagfertig, dass man ihm entgegenkommend das bezahlte, was er als Redner gesagt hatte, aber ohne Gewähr, dass das von ihm Gesagte in druckreifer Form auch nachgeliefert zu bekommen.
Anton Kuh schrieb zwar, aber nicht auf Geheiß. Er handelte mit Versprechen wie Finanzberater, die Wertzusagen geben, um falsche Hoffnungen in profitable Fiktionen zu verwandeln. Anton Kuh war vornehmlich ein mündliches Furiosum. Seine aus der Zeit zwischen 1918 und 1940 überlieferten Causerien (lat.causa »(Ur)Sache«; frz.causer »plaudern«) sind unterhaltsame, gebildete Plaudereien in literarischer oder pamphletartiger Gestalt. Zumeist handelt es sich um kurze, informelle essayistische Arbeiten bzw. stenographierte Vorträge; überwiegend geht es jedoch um journalistische oder stadtbezogene Themen mit überraschenden Kunstsprüngen in die Absurditäten zweier Metropolen. Wien und Berlin. Dazwischen wettert aufklärende, ethnologische Differenz, die sich bis heut in Berlinern und Wienern zu regenerieren scheint. Genaueres bitte nachzulesen bei Anton Kuh: Zwischen Wien und Berlin. Bevor Sie schlafen gehen.
Su Tiqqun