
Urbanism goes territorial
Besprechung von »Territorial Urbanism Now!« hg. vom Insitut für Städtebau der TU GrazTerritorial urbanism ist der Titel des englischsprachigen Readers, den die Architektin und Stadtplanerin Aglaée Degros mit einem großen Herausgeber:innenteam vorgelegt hat. Über 20 Autor:innen aus Europa geben teils theoretisch, teils praktisch mittels Best Practices Einblick in die sich ständig erweiternde Disziplin des Urbanismus. Angesichts der Klimakrise kooperiert sie mit der Landschaftsplanung und verbindet die einstmals getrennten Sphären von Stadt und Land, sodass nun auch der Begriff des Territorial Urbanism angemessen ist. Das Fernziel einer solchen Bewegung oder Denkrichtung wäre vielleicht das, was Kritias bei Platon als einen Kosmos bezeichnete, der der griechischen Bedeutung nach ein Schmuckstück, oder moderner, ein Mikrokosmos des guten Lebens sein könnte.
Aglaeé Degros fragt in ihrer Einleitung: Was ist ein territorial shift? Ein radikales Beispiel für diese Verschiebung in Planung und Design stellt das Raumkonzept für Mar Menor dar, das auf einer von der in der südostspanischen Stadt Murcia lehrenden Rechtsprofessorin Teresa Vincente ins Leben gerufenen Initiative beruht. Mar Menor ist eine Lagune im Südosten Spaniens, die unter dem doppelten Druck von Wohnsiedlungen und Landwirtschaft litt und durch diese Initiative eine Chance zur Heilung ihres kaputten Ökosystem bekam (Davide Curatola Sprana). Das Besondere und Neue besteht darin, dass Mar Menor 2022 nach einem erfolgreichen Volksbegehren durch einen Beschluss des spanischen Parlaments den Status einer selbstständigen Rechtsperson erhielt. Dieser ermächtigt nun Bürger:innen im eigenen Namen stellvertretend für Mar Menor bestimmte Ansprüche einzuklagen.
Das ist eine Verschiebung vom Status eines Objekts zu dem eines Subjekts. Dieser Wandel wurde bereits von Paola Vigano eingefordert, indem sie sich auf die Umstellung der Werte und Ethiksysteme berief. Sie bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Bruno Latour, dem grundlegenden Denker der ökologischen Transformation, der die Unterstützung jener Gebilde verlangte, die bisher als geopolitische Einheiten bezeichnet wurden. Latour hatte sich bereits in Parlament der Dinge explizit für eine Aufhebung des Objektstatus der betroffenen Gegenstände ausgesprochen und ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt. Das betrifft den Wolf ebenso wie das Bakterium, eine Firma ebenso wie den Wald, eine Gottheit ebenso wie die Familie. Die Besitzer:innen des Landes müssen dokumentiert werden – im wahrsten Sinne des Wortes – also jene, die auf diesem Boden sitzen, ihn besetzen und von ihm abhängig sind. Er sieht darin ein dynamisches Netzwerk, das alle Aktanten, Agenten und Handlungen umfasst, das ein Gefüge erzeugt, das die räumlichen und zeitlichen Maßstäbe und Horizonte weit übersteigt. Territorialer Urbanismus ist eine Bewegung, die auf dieser Vorstellung des Territoriums und der Elemente, die diesen lebendigen Prozess aufrechterhalten, beruht.
Paola Vigano spricht von einer neuen epistemologischen und ontologischen Basis für den Übergang, den territorial turn, der das territoriale Subjekt hervorbringen soll und schlägt das Konzept einer horizontalen Stadt mit einer diffusen, isotropen urbanen Verfassung vor, in der die Differenz zwischen Zentrum und Peripherie unscharf und verwischt wird. Anders als der vereinfachende Gegensatz von Zentrum und Peripherie soll das Konzept einer horizontalen Metropolis den durch den sprawl geprägten Zustand weniger als eine Einschränkung, sondern eher als ein potenzielles Vermögen betrachten und aufwerten, um eine andere Dimension der Urbanität zu erreichen. Wichtig ist es, gegen die extreme Spezialisierung des Raums zu arbeiten, gegen die Bildung von Zentren und Peripherien, weil diese künstlich hergestellt sind und nicht auf natürlichen Grundlagen beruhen. Daher sollen auch räumliche Hybride gefördert und neue räumliche Konfigurationen entwickelt werden, die horizontale Beziehungen zwischen Territorien und Populationen ermöglichen.
Tommaso Pietropolli, ebenfalls ein Verfechter der horizontalen Stadt, beschreibt das Konzept des Greater Geneva, indem er die Notwendigkeit schwacher Strukturen betont, nicht zuletzt durch eine die Landesgrenzen von Schweiz und Frankreich überschreitende Konzeption. Das beginnt mit der Wiedereinsetzung stillgelegter Bahnlinien in Frankreich, der Restauration alter Verkehrsverbindungen zwischen den kleinen historischen Orten zur Wiederbelebung der alten Netzwerke. Die Transitorientierung des Verkehrs soll zugunsten eines Ausbaus der lokalen Infrastruktur vermindert werden, ein Ausbalancieren der Mobilität und die Förderung lokaler Formen der Arbeit das Territorium verbessern. Wenn er von schwachen Strukturen spricht, so meint er nicht den Verzicht auf Ordnung und Organisation, sondern sieht jene Elemente als schwach an, die bislang durch urbane Entwicklungen ignoriert oder marginalisiert wurden und als fragile Subjekte oft als erste die Folgen des Klimawandels erleiden müssen.
Dabei geht es um ökologische Faktoren wie Wassereinzugsgebiete, Bodenverbesserung, kollektive Mobilität und dergleichen. Der Raum des Wassers erhält in den Niederlanden neue Bedeutung durch eine Umkehr. Wurde bisher Land dem Meer abgetrotzt, so wird nun der Mündungsbereich der Maas erweitert, um den natürlichen Verlauf und das Habitat wieder herzustellen (Eric Luiten, Room for the River).
Territorialer Urbanismus ist ein Bewusstsein, das eine ökologische Kontinuität verfolgt, wobei es nicht um die Erhaltung der Wildnis wie in Henry David Thoreaus Zeiten der industriellen Revolution geht, sondern um die Politik einer Konnektivität. Das bedeutet nicht nur die Kooperation verschiedener Disziplinen wie Design, Agronomie oder Gartenkultur, sondern auch zwischen den verschiedenen Instanzen der Entscheidungsträger:innen und Handelnden sowie der Einbeziehung der Bürger:innen. Das Leben hinter der relativen Sicherheit eines Deichs ist sehr verschieden vom Leben in einer flexiblen und nicht vorhersehbaren Zone, wo es keine genaue Vorhersehbarkeit aufgrund des Einflusses des Wetters gibt und wo es manchmal extrem nass oder auch trocken sein kann.
Der plan local d’urbanism (PLU) in Paris arbeitet unter den genannten Bedingungen. Der Kampf gegen die steigenden Temperaturen soll nicht über das Verbot von Klimaanlagen geführt werden, sondern auf einer gesamtstädtischen Ebene gelöst werden. Das bedeutet auch die umfassende Bepflanzung der Stadt. Bis 2040 sollen auf jede:n Pariser Bürger:in nach den Empfehlungen der WHO 10 m² Grünraum kommen, derzeit sind es nur 5,8 m².
Eine wichtige Rolle spielt auch das gebaute Habitat, bei dem für klimatische Herausforderungen umgerüstet werden muss. Statt weiteren Gebäudewachstums wird der Akzent auf Verbesserungen im Bestand und Grünraum gesetzt. Auch kündigen sich eine Obsoleszenz des urbanen Raums (Stefan Rettich) und neue Bereiche zur Nutzung an. Kaufhäuser verlieren durch Online-Handel massenhaft Kund:innen, müssen schrumpfen und umgewandelt werden, Bürogebäude werden durch die Einführung des Homeoffice teils obsolet. Die Säkularisierung erzeugt einen Wandel und Schwund der Religionsgemeinschaften und vermindert den Bedarf an Kirchen, die nun für profane Zwecke umgewidmet werden. Auch der Wandel in der Bestattungskultur führt bei Friedhöfen zu Flächen, die zu Aktivitäten der Sport- und Freizeiteinrichtungen umgenutzt werden könnten.
Eva Schwab schließt das Buch mit einer Zukunftsbetrachtung ab, indem sie an die Architekt:innen appelliert, Design und Aktivismus zu verbinden, die Menschen stärker in ihre Arbeit einzubeziehen, um durch aktivistische Kooperation ein breiteres Bewusstsein für die ökologische Problematik des Territoriums zu erlangen. Dies läuft auf die einfach scheinende Formel eines Lebens der Menschen in Einklang mit der Natur hinaus, gleicht aber einer Aufgabe für Titanen.
Institut für Städtebau: Aglaée Degros, Eva Schwab, Anna Bagaric, Sabine Bauer, Jennifer Fauster, Radostina Radulova-Stahmer, Mario Stefan, Alice Steiner (Hg.)
Territorial Urbanism Now!
Berlin: Jovis 2024
264 Seiten, 38 Euro
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.