Milena Hufnagel


»Nach dreißig Jahren eines sehr gewöhnlichen Lebens scheint es tatsächlich so zu sein, dass wir Istanbul graduell kennen gelernt haben (…) der Ort, an dem wir gelebt haben, war nicht Istanbul, das haben wir jetzt erfahren«, reflektiert Leyla, eine der Protagonist:innen in Das Fremdwerden der eigenen Stadt und beschreibt die Entwicklung der Nachbarschaft, in der sie aufgewachsen ist, vom urbanen Dorf hin zur großstädtischen Realität. Diesem Prozess des Fremdwerdens widmet Autorin Lisanne Riedel ihre Studie zu Biografie und Raum in Istanbul.
        Sie fragt: Welchen Einfluss hat Raumproduktion, die durch ständige Erweiterung und Erneuerung geprägt ist, auf biografische Handlungsverläufe und Lebens­entwürfe von betroffenen Individuen? Und daran anschließend: Welche Rückwirkungen haben diese veränderten Handlungsverläufe und Lebensentwürfe auf städtischen Raum und Raumkonstruktion? Lisanne Riedels Forschung basiert dabei auf Methoden aus der Biografieforschung. Und doch sind die wahren Protagonist:innen des Buches nicht die Teilnehmenden der biografisch-narrativen Interviews, sondern es ist die Stadt Istanbul.
        Ein Blick auf die Geschichte Istanbuls zeigt warum. So hat sich die Bevölkerung der Stadt seit den 1950er Jahren verfünfzehnfacht, von circa einer Million auf über 15 Millionen Einwohner:innen. Darüber hinaus hat sich Istanbuls Flächenverbrauch in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Grund dafür war in erster Linie urbane Migration. Aus diesem Zusammenhang heraus interviewt Riedel in ihren narrativen Interviews ausschließlich Menschen, deren Biografien in erster bis dritter Generation eine urbane Migrationsgeschichte vorweisen.
        Thematischer Schwerpunkt der Studie ist die Stadterneuerung. Diese spielt in jedem Interview eine Rolle und wird von Riedel als Prozess beschrieben. So spricht sie nicht vom Fremdsein der eigenen Stadt, sondern dem Fremdwerden, die gemeinte Stadt ist nicht irgendeine, es ist die eigene. Für Lesende sind vor allem die Schlüsse, welche Riedel aus ihrer Forschung zieht, interessant: So zeigen ihre Untersuchungs­ergebnisse, dass Interviewte, welche bio­gra­fisch stark von städtischen Raum­trans­­­formationen betroffen sind, mit Überforderung und Entfremdung auf die Stadtentwicklung reagieren. Dabei verhalten sich nicht alle Betroffenen gleich. Menschen, so Riedel, welche Raum bisher als Konstante wahrnehmen, also beispielsweise eine Kindheit in dörflichen Strukturen der Stadt erlebt haben, reagieren nach einer Transformation ihrer Umgebung mit wesentlich mehr Verlustgefühlen als Menschen, deren Biografie schon immer ständige Transformation aufwies.
        Das Buch zeigt besonders auch die Widersprüche von Stadtentwicklung auf. So ist die rapide Raumtransformation Istanbuls mit nie abnehmender Bauaktivität und Aufstockung von Apartmenthäusern teilweise von den Interviewten mitinitiiert, obwohl sie der Stadterneuerung eigentlich mit Skepsis begegnen.
        Besonders eindrücklich ist eine Interviewpassage mit der bereits erwähnten Protagonistin Leyla. Sie zeigt, wie unterschiedlich die Verknüpfung zwischen Raum­konstruktion und biografischen Handlungsverläufen aussehen kann.
        Der Prozess des titelgebenden Fremdwerdens tritt besonders drastisch in Erscheinung, als Leyla eine Szene in ihrer neuen Nachbarschaft nach einem Umzug schildert. Sie erzählt, wie sie nachts häufig aufwacht, weil auf der Straße unter ihrem Fenster Personen zusammengeschlagen werden. Sie kann nicht sehen, was passiert, deshalb ruft sie hinunter, sie werde die Polizei rufen. Daraufhin merkt ein ebenfalls zusehender Nachbar auf der anderen Straßenseite an, es sei die Polizei, die dort zuschlage. Diese Erfahrung hat großen Einfluss auf ihre mentale Gesundheit. Und sie erschrickt vor sich selbst, weil sie nach einiger Zeit nicht mehr am Fenster steht, sondern versucht, weiter zu schlafen, wenn es draußen laut wird. Sie entfremdet sich nicht nur von der Stadt und ihrer Umgebung, weil sie sich mit deren Rechtsprinzipien nicht mehr identifiziert, sondern befürchtet auch, sich von sich selbst zu entfremden. Gerade diese persönlichen Einblicke in die Leben von Menschen und ihren Umgang mit räumlicher Transformation machen die Auswirkungen von Stadt­entwicklungsprozessen auf Individuen greifbarer und halten die Lektüre des Buchs abwechslungsreich.
        Das Fremdwerden der eigenen Stadt ist eine Dissertation und liest sich wie eine solche. Die Abschnitte sind klar strukturiert. So folgt auf den Forschungsstand und Kontext die Methodologie und auf diese die Einzelfallkonstruktionen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden in den letzten beiden Abschnitten erläutert. Diese Einteilung macht den Text sehr übersichtlich, aber auch recht erwartbar. Die eng­lischen Interviewabschnitte werden anschließend ins Deutsche übersetzt und besprochen, eine Vorgehensweise, welche aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll ist, die Lektüre aber etwas repetitiv macht. Die große Stärke der Studie sind ihre Ergebnisse und Protagonist:innen. Besonders Leser:innen mit Interesse an qualitativer Stadtforschung und der Schnittstelle zwischen Biografie und Raum sei das Buch empfohlen.


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