Vom Ghetto ins Gefängnis
Besprechung von »Das Janusgesicht des Ghettos« von Loïc WacquantDer in den USA unterrichtende französische Soziologe Loïc Wacquant gibt mit dem vorliegenden Essayband Einblick in zwei seiner zentralen Forschungsschwerpunkte. Die dem ersten Schwerpunkt zugeordneten Essays „(re-)konstruieren einen tragfähigen soziologischen Begriff des Ghettos als sozialräumlichen Apparat ethnorassischer Segmentierung und Kontrolle“. Im zweiten Teil analysiert Wacquant, „wie Staaten für die Implementierung der neoliberalen Revolution von der sozialstaatlichen Regulierung auf die bestrafende Verwaltung der menschlichen Abfälle der Marktgesellschaft umstellen, die die Tendenz hat das städtische Subproletariat in eine wütende Kaste Verstoßener zu verwandeln“.
Wacquant legt besonderen Wert auf eine genaue Definition von Ghetto und zeigt den historischen Bedeutungswandel, den der Begriff in den USA von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat, und wie sich das Ghetto in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert hat. Nachdrücklich weist er auf dessen Unterschiede zu Slums, Einwanderervierteln, Banlieus, Favelas etc. hin.
Als die „vier konstituierenden Elemente des Ghettos“ sieht er „Stigma, Zwang, räumliche Einsperrung und institutionelle Ausstattung“. Immer wieder hebt Wacquant hervor, dass Armut zwar häufig vorkommt, aber im Gegensatz zu Slums kein notwendiges Charakteristikum ist. Ghetto und Reichtum schließen sich nicht unbedingt aus und ein Kennzeichen dafür ist, dass nicht nur Angehörige der Arbeiterklasse dort leben, sondern der größte Teil einer Bevölkerungsgruppe an diesem Ort ansässig ist.
Allerdings hat sich, beginnend mit den 1970er Jahren, der Charakter der US-amerikanischen Ghettos doch stark geändert. Armut und Arbeitslosigkeit haben ständig zugenommen, die Mittelklasse hat sich neue angesehenere Wohnorte gesucht und die Schutzfunktion vor rassistischen Übergriffen, die das „klassische“ Ghetto seinen BewohnerInnen auf eine gewisse Art bieten konnte, ist verloren gegangen. Die Kürzung von Bundesmitteln für die Städte (ab der Ära Reagan) hatte eine verheerende Auswirkung auf die Infrastruktur der Ghettos. Die Streichung von sozialen Unterstützungen tat ein Übriges. Die industriellen Produktionsbetriebe, die vielen AfroamerikanerInnen während der Hochkonjunktur Arbeitsplätze boten, verlagerten ihre Standorte oder verringerten die Zahl der Beschäftigten drastisch, der Einfluss der Gewerkschaften sank ebenso rasch wie atypische Beschäftigungsverhältnisse zunahmen. Wacquant spricht deswegen ab Einsetzen dieser Entwicklungen von Hyperghettos.
Mit dem Verschwinden des „Semi-Wohlfahrtsstaates“ und dem Aufkommen des „Strafstaates“ (laut Wacquant ein „einzigartiges soziohistorisches Experiment“) wurden nun Polizei, Gerichte und der Strafvollzug für die Verwaltung der Marginalisierten zuständig. Das Schicksal, das in Europa (und hier vor allem in Österreich!) Flüchtlinge erwartet – nämlich ohne ein Verbrechen begangen zu haben, im Gefängnis zu landen – ereilt in den USA immer mehr Obdachlose, psychisch Kranke und Drogensüchtige. Da es in weiten Teilen der USA kaum mehr soziale und medizinische Einrichtungen gibt, die für eine Betreuung oder Behandlung zur Verfügung stehen, ist es nicht ungewöhnlich, dass Obdachlose (vor allem im Winter) kleine Straftaten begehen, um für Essen und ein Bett ins Gefängnis zu kommen. „Ein Drittel der Zellen in den Haftanstalten der Vereinigten Staaten ist mit psychischen Kranken belegt, die keinerlei Verbrechen oder Vergehen begangen haben, es gibt nur keinen anderen Ort, wo man sie unterbringen könnte. Denn in 17 Bundesstaaten ist es völlig legal, einen psychisch Kranken auch ohne juristische Gründe einzusperren, und diese Praxis ist auch in Staaten gang und gäbe, wo sie vom Gesetz ausdrücklich verboten wird.“
Das Buch gibt einen guten Einblick in Wacquants Forschungsarbeiten und ermöglicht aufgrund der zahlreichen Literaturverweise eine eigene Weiterbeschäftigung mit dem Thema. Ein wenig schade ist, dass viele der Essays aus den späten 1980er bzw. den 1990er Jahren stammen und somit aktuellere Entwicklungen nicht berücksichtigen. Warum Wacquant, der so penibel darauf achtet, dass der Begriff Ghetto nicht falsch verwendet wird, der Meinung ist, ein Ghetto sei ein „KZ-ähnlicher Raum“ bleibt jedoch ein Rätsel.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.