» Texte / Von der Architekturbetrachtung zur Architektur als kulturpolitisch-gesellschaftliche Kraft

Peter Leeb

Peter Leeb ist Aktivist bei FRISCH - Freiraum Initiative Schmelz und lehrt am Institut für Kunst und Architektur. Er ist Architekt und Partner von NURARCHITEKTUR in Wien.


Der erste Eindruck beim Betreten der neuen Schausammlung des Architekturzentrums Wien (AzW) mit dem Titel Hot Questions – Cold Storage ist ein überwältigender: gelb, orange, rot zeigen sich Ausstellungsarchitekturen in durchaus konstruktivistischer Anmutung. Die Farben erinnern an progressivere Zeiten des Architekturgeschehens, Zeiten, in denen Architektur als gesellschaftspolitische Triebkraft mit Veränderungspotenzial verstanden wurde. Der Gestaltung von Form und Raum wohnte die Hoffnung auf ein besseres Leben inne. Damit sind wir auch schon bei der zentralen Botschaft dieser Schau, die sich zu einem Großteil aus Beständen des AzW zusammensetzt. Denn seit der ersten Schausammlung, die 17 Jahre lang zu sehen war, konnte ein umfangreiches Archiv aufgebaut werden, welches die »bedeutendste und umfassendste Sammlung zur österreichischen Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts« (AzW) zum Gegenstand hat. War die erste Schau eine enzyklopädisch-chronologische Zusammenstellung des hiesigen Architekturschaffens, so spielt nun die Architektur als kulturpolitisch-gesellschaftliche Kraft die zentrale Rolle. Anhand von sieben Themen werden Beispiele aus der jüngeren Architekturgeschichte gleichsam als Zeugen einer Entwicklung befragt, um so die gesellschaftliche Bedeutung des Bauens herauszustellen. Dieser ›social turn‹ ist nun schon seit geraumer Zeit im architektonischen Diskurs zu beobachten und findet in dieser Ausstellung seine kuratorische Entsprechung. Die Schau wendet sich also bewusst etwas ab von ›klassischer‹ Architekturbetrachtung und konzentriert sich auf deren soziales Potenzial.
       Was sind also die Fragen, worin bestehen die Antworten und an welches Publikum ist bei dieser Art der Themenbehandlung gedacht? Gleich zu Beginn wird die Frage ›Wer sind wir?‹ einerseits durch progressive Beispiele kommunalen Bauens im Burgenland der 1960er und 70er Jahre beantwortet, andererseits wird auf Entwicklungen in Wien (z. B. Kleines Café) und Graz (z. B. Terrassenhaussiedlung) hingewiesen. Der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen religiösen Bauaufgaben (Kirche, Moschee und Synagoge) und den hier so bezeichneten Symbolen der Macht (Roland Rainers Stadthalle, Günther Domenigs Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, der Wettbewerbsbeitrag zur Umgestaltung von Hitlers Geburtshaus) erschließt sich nicht wirklich. Die internationale Positionierung Österreichs unter Zuhilfenahme architektonischer Mittel ist dagegen sehr verständlich (Johann Stabers UN in Wien, Raimund Abrahams Kulturforum in New York). Kurt Waldheim wird bei dieser Gelegenheit auch erwähnt, offenbar eine Konstante österreichischen Selbstverständnisses.
       Die Frage ›Wer macht die Stadt?‹ wird ausschließlich mit Blick auf Wien behandelt. Stadtentwicklungspläne, Demografie und Migration, Bodenpreiskritik, aber auch der unter Bürgermeister Lueger Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte starke Zugriff der Stadt auf die Wirtschaft werden hier besprochen. Am anderen, antikapitalistischen Ende spannt sich der Bogen vom durch die Wiener Wohnbausteuer finanzierten Wohnbau der Zwischenkriegsjahre bis zu zeitgenössischen Planungen (Kabelwerk, Bikes and Rails). Allerdings bleibt hier so gut wie alles nur angedeutet. Unter dem Untertitel Das Andere (historisch: eine von Peter Altenberg und Adolf Loos herausgegebene Zeitschrift) wird der Rolle des Wiener Judentums und der antisemitischen Ressentiments gedacht: die Liste ermordeter oder exilierter Architekten schockiert noch immer, dass aber an Otto Wagner hier durch eine Leihgabe mit antisemitischem Inhalt erinnert wird, scheint dann doch sehr verkürzt. Zur Frauenbewegung (im Architekturzusammenhang) erfährt man, dass der erste Frauenclub Wiens von Adolf Loos ausgestattet wurde und dass Lina Loos in ihrer kurzen Ehe einen starken Einfluss auf Loos hatte. Es verwundert aber, dass Loos als einer der wichtigsten Vertreter der Moderne ansonsten in dieser Ausstellung keine Erwähnung findet.
       Die sanfte Stadterneuerung, der wir doch einiges verdanken, wird durch das Projekt PlanQuadrat repräsentiert: es sind die 1970er, in denen diese wegweisenden, aber leider nur selten wiederholten partizipativen Projekte entstanden sind. In diese Zeit fallen auch die ersten Beispiele des ökologischen Bauens, die Berücksichtigung von Energiehaushalten wie überhaupt eine Hinwendung zur Natur, womit wir bei einer weiteren Frage angekommen sind, nämlich ›Wie überleben wir?‹ War Friedensreich Hundertwassers Verschimmelungsmanifest noch eine oft belächelte Kunstmanifestation, so konnte das Landschaftsprojekt der Donauinsel die Nachhaltigkeitsthematik in einen infrastrukturellen Maßstab übertragen. Die Bedeutung dieses beispielhaften Projekts sollte endlich im allgemeinen Bewusstsein angekommen sein. Denn im Gegensatz zu den so notwendigen utopischen Vorstellungen (Abraham, Coop Himmelb(l)au, Haus-Rucker-Co, Hollein) stellt es den Beweis der Realisierbarkeit einer Megastruktur dar, die von den Menschen auch angenommen wird.
       Die Frage ›Wer sorgt für uns?‹ spannt das weite Feld architektonischen Schaffens im Rahmen des modernen Wohlfahrtsstaates auf. Anton Schweighofers Stadt des Kindes ist hier durch aus der Abbruchmasse gerettete Artefakte vertreten, deren Qualität den gesamtheitlichen Gestaltungsansatz dieser Anlage in Erinnerung ruft. Die Hygiene im öffentlichen wie im privaten Bereich ist ein zentrales Thema moderner Architektur: Otto Wagners Arbeit an der Anstalt Am Steinhof genauso wie die gläserne Badewanne seiner eigenen Wohnung machen dies deutlich. Die fortschrittlichen Bauten der Bildungsoffensive genießen auch außerhalb Österreichs einen besonderen Ruf. Der begrenzte Raum in dieser Ausstellung bietet leider nur Platz für wenige ausgesuchte Beispiele dieses sozialreformerischen Programms: Josef Lackners Schule der Ursulinen, Viktor Hufnagels Schule in Weiz aber auch die derzeit so heftig diskutierte Schule am Kinkplatz von Helmut Richter sowie PPAGs Bildungscampus Sonnwendviertel stehen für die große Zahl der Abwesenden.
       Ein, den gesellschaftlichen Umständen geschuldet, kleiner Beitrag setzt sich mit der Stellung der Frauen in dem bis vor kurzer Zeit noch nahezu gänzlich männlich dominierten Architekturberuf auseinander. Das Segment ›Wer spielt mit?‹ stellt neben der historisch strukturellen Benachteiligung von Frauen in Beruf und Ausbildung (Aufnahmepraxis der Universitäten) die Frage nach den Geschlechterrollen in der Architektur. Die Antworten, die dazu ›archetypisch‹ (Günther Feuerstein nach C. G. Jung) gegeben werden, beschränken sich auf formale Manifestationen, die für die Zukunft wohl noch vieles offen lassen. Die Erinnerung an bedeutende Beiträge aus dem Bereich der Theorie und Kritik bzw. Repräsentation (Friedrich Achleitner, Margheritha Spiluttini) sowie an einflussreiche Ausstellungen (Architektur in Wien um 1900, Traum und Wirklichkeit) lenkt den Blick auf ein mögliches gedanklich-reflektierendes Fundament der Disziplin, welches unter dem Begriff des Kanons zusammengefasst werden möchte. Hans Holleins Beitrag zur ersten Architekturbiennale (The Presence of the Past) verdeutlicht den Einfluss derartiger Veranstaltungen auf das internationale Architekturgeschehen. Partizipative Projekte (Ottokar Uhl, Eilfried Huth) ergänzen die Frage nach der Rolle der beteiligten Menschen an Bau- und Entwurfsprozessen, einer Frage, die heute u. a. in Form von Baugruppen eine realisierbare Antwort erhält.
       ›Wie wollen wir leben?‹ – In einem paternosterartigen Regal werden Beispiele unterschiedlicher Wohn- und Siedlungsformen präsentiert, die der Vielzahl an Wünschen und Möglichkeiten des Habitats Rechnung tragen, wobei die Bandbreite von Kleinstformen (Zubau Zita Kern von ARTEC) bis zu projektgebliebenen Megastrukturen (Neue Wohnform Ragnitz von Günther Domenig und Eilfried Huth) reicht. Bei aller Diversität fällt doch auf, dass hier eines der nach wie vor einflussreichsten Projekte fehlt: denn neben der Gartenstadt Puchenau und dem weltberühmten Karl-Marx-Hof sollte wohl auch dem Wohnpark Alt-Erlaa ein Platz in dieser Architekturgeschichte eingeräumt werden.
       Ein Blick in den Fundus der neben Reisen oft vernakulär geprägten Inspirationen, ein virtueller Besuch in einigen Architekturateliers sowie die beispielhafte ›Grammatik‹ von verwendeten Materialien und Werkzeugen versucht die Frage ›Wie entsteht Architektur?‹ zu beantworten. Besonders unterhaltsam sind dabei von Peter Noever und Günther Feuerstein unter dem Titel Also, wenn Sie mich fragen … 10 Behauptungen zur Architektur (in Österreich) zusammengefasste Statements von (ausschließlich männlichen) Architekten.
       Die Gestaltung dieser ambitionierten Ausstellung ist gekennzeichnet durch klar unterscheidbare, räumliche Strukturen, die den einzelnen Themen zugeordnet sind. Die nicht nur durch die Farbe erzeugte Merkbarkeit ist dementsprechend gut gelungen und unterstützt die Orientierung innerhalb dieser Menge von Exponaten. Inwieweit diese Ausstellung den Anspruch auf Vollständigkeit, wie er von der Vorgängersammlung noch gestellt worden ist, im Stande ist zu erfüllen, lässt angesichts der Fragestellung und der mitunter sehr subjektiven Auswahl der Beispiele zumindest für Architekturkundige so manches offen. Die Problematik besteht darin, dass es für das unkundige Publikum, trotz wichtiger und richtiger Ergänzungen in einigen Bereichen, nicht möglich sein wird, das Fehlen wesentlicher Werke zu bemerken. Wie lange diese sehenswerte, aber doch recht gegenwärtig ausgerichtete Schau von Belang sein kann, wird die Zukunft zeigen.


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