Von der Regulation zur Moderation
In dem Einladungstext zu der Veranstaltung heißt es, daß man von der Hypothese ausgehe, nicht mehr der Masterplan vom Reißbrett wäre das Modell für die Stadtentwicklung, sondern temporäre Nutzungen, die an einem Ort vorhanden seien, entwickelten Programme aus dem Kontext, gewissermaßen »organisch« und unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung.
Tatsächlich scheint eine Rückkehr zum »großen Plan« für die politischen Institutionen und städtebaulichen Disziplinen nicht mehr in Frage zu kommen. Für diese Umorientierung ist eine Reihe von Gründen verantwortlich zu machen. Bevor ich auf die näheren Umstände eingehe, möchte ich zunächst den Begriff der »temporären Nutzung« historisch einordnen.
In dem Einladungstext zu der Veranstaltung heißt es, daß man von der Hypothese ausgehe, nicht mehr der Masterplan vom Reißbrett wäre das Modell für die Stadtentwicklung, sondern temporäre Nutzungen, die an einem Ort vorhanden seien, entwickelten Programme aus dem Kontext, gewissermaßen »organisch« und unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung.
Tatsächlich scheint eine Rückkehr zum »großen Plan« für die politischen Institutionen und städtebaulichen Disziplinen nicht mehr in Frage zu kommen. Für diese Umorientierung ist eine Reihe von Gründen verantwortlich zu machen. Bevor ich auf die näheren Umstände eingehe, möchte ich zunächst den Begriff der »temporären Nutzung« historisch einordnen.
Temporäre Nutzung und die Situationisten
Die Terminologie verweist auf theoretische Vorbilder aus den späten fünfziger Jahren. Provoziert von den homogenisierenden und disziplinierenden Auswirkungen des funktionalen Städtebaus, hatte damals die »Situationistische Internationale« (SI) ein neues Verständnis vom sozialen Raum der Stadt formuliert. Programmtisch waren in dieser Hinsicht die Vorschläge der Situationisten für eine »rationale Verschönerung« der Stadt Paris: Nächtliche Öffnung der Metrostationen, begehbare Dächer für Spaziergänge, Umfunktionierung der Kirchen zu Kinderspielplätzen, Abschaffung der Museen und Verteilung der Kunstwerke auf Kneipen und Cafes. Ebenso sollten die Pariser Markthallen an den Stadtrand verlegt und die Gebäude durch eine Reihe kleiner Baukomplexe ersetzt werden, deren Funktion dann darin bestanden hätte, »Rummelplatz zur spielerischen Erziehung von Arbeitern« zu sein. Gefordert wurden bewegliche urbane Räume und eine modifizierbare Architektur, die sich je nach den Wünschen ihrer Bewohner teilweise und sogar vollständig wandeln konnte. Neben dem Zweckentfremden kulturellen Materials bildete das »Umherschweifen« einen weiteren Schwerpunkt der subversiven Praxis. Bei solchen »psychogeographischen« Erkundigungen ging es darum, die Sozialität der Topographie und die affektive Dimension des bebauten Raums hervorzuheben. Die urbanistische Umsetzung der situationistischen Programmatik - die Verbannung des Funktionalen und die Variabilität des Raums für spielerische Aktivitäten - gipfelte in dem Konzept für eine Stadt, die einem beständigen aktiven Konstruktions- und Zerfallsprozeß unterworfen sein sollte. Die neuen Bautechnologien schienen den Konflikt zwischen dem Dauerhaften und dem Temporären zu lösen und damit eine Kombination von Strukturierung und Beweglichkeit zu ermöglichen. Doch schon bald wandte sich der radikalere Teil der Situationisten von solchen Architekturmodellen zugunsten einer radikalen Kritik des zeitgenössischen Urbanismus ab. Die Vorstellung, daß neuartige Räume fast zwangsläufig zu neuen gesellschaftlichen Beziehungen führen müßten, wurde nun als bürgerliche Ideologie denunziert.
Auch wenn die avantgardistischen Ideen der Situationisten einen ausgesprochen spielerischen Charakter besaßen, beruhten sie auf der grundlegenden Prämisse, die bebaute Umwelt auf den gesellschaftlichen Kontext zu beziehen, den Raum als Konstrukt des sozialen Handelns zu denken. Diese Perspektive wurde von dem französischen Philosophen Henri Lefebvre, der zeitweilig im engeren Kontakt zu den Situationisten stand, systematisiert: Der städtische Raum sei sowohl Produkt als auch Medium, er werde sozial hergestellt und strukturiere zugleich die Gesellschaft. Zur genaueren Bestimmung sozialräumlicher Prozesse hat Lefebvre ein komplexes Schema entwickelt: Der erste Dimension repräsentiert den wahrgenommenen Raum. Hier geht es um die kollektive Produktion von städtischer Realität. Also die Rhythmen von Arbeiten, Wohnen und Freizeit, in der eine Gesellschaft ihre Räumlichkeit dechiffriert und reproduziert. Dann der vorgestellte Raum, der durch Wissensformen, Zeichen und Codes gestaltet ist. Es handelt sich dabei um »Repräsentationen des Raumes«, sprich um die Konstruktionen von Städteplanern, Architekten und anderen Spezialisten, die den Raum in einzelne Elemente zerlegen und wieder neu »zusammenmontieren«. Diese Ebene dominiert im Kapitalismus. Sein vorherrschender Diskurs ist auf marktgerechte Verwertung, Quantifizierbarkeit und Administration ausgerichtet, er legitimiert und stützt so die Funktionsweise von Kapital und Staat. Schließlich der erlebte und erlittene Raum. Hier handelt es sich um »Räume der Repräsentation« - der Raum, wie er durch die begleitenden Bilder und Symbole hindurch von den Benutzern und Benutzerinnen alltäglich erfahren wird. Er birgt eine mögliche Widerständigkeit in sich.
Raumideologien
Mit Hilfe dieses Schemas läßt sich die Transformation urbanistischer Diskurse und Praktiken gut erfassen. So beruhten die konzeptiven Ideologien der Moderne auf der Vorstellung, die industrielle Stadt als mechanische Einheit und große Integrationsmaschine zu behandeln. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich dieses Stadtmodell, das man auch als die fordistische Stadt bezeichnen kann, zum wichtigen Dispositiv des Sozialstaates. Der Fordismus war auf eine quantitative Steigerung des Produktionsvolumens und eine räumliche Expansion der industriellen Strukturen ausgerichtet. In der Annahme, daß das nationale Territorium als Ganzes die entscheidende geographische Einheit darstellte, sollte durch ein Gerüst von »zentralen Orten« gleichmäßiges Wachstum hergestellt und bestehende sozialräumliche Disparitäten beseitigt werden. Ziel war die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« und eine gesamtgesellschaftlich ausgewogene Wohlfahrtssituation. Dieses zentralstaatliche Interventionsmodell versuchte lokale Eigeninitiativen einzuschränken, die man als »bornierten Partikularismus« wahrnahm. Den Kommunen kam lediglich die Rolle des »Transmissionsriemens« zu, deren Hauptfunktion vor allem darin bestand, Vorgaben von »oben« administrativ umzusetzen. Der Funktionalismus entwickelte sich zur dominanten Raumideologie, die für einige Jahrzehnte die Kohäsion zwischen Städtebau, Politik und Alltagshandeln begründete und die unterschiedlichen gesellschaftlichen Praktiken miteinander koordinierte. Die städtebaulichen Disziplinen waren bestrebt, einen homogenen Raum zu erzeugen, der über die Trennungen von Arbeiten, Wohnen und Verkehr zusammengehalten wurde. Daraus resultierte ein Urbanisierungsmodell, daß durch die Organisation eines seriellen Rasterraums das Alltagsleben der Stadtbewohner zu normieren versuchte. In gewisser Weise könnte man deshalb die urbane Machtmatrix des Fordismus als eine Variante der Foucaultschen Disziplinargesellschaft auffassen. Im Laufe der siebziger Jahre formierten sich in den unterschiedlichsten Konstellationen soziale Bewegungen gegen den rationalisierten Alltag und funktionalistische Modernisierungsstrategien. Die wachsende Kritik an der »Entstädterung« wurde dann unter Stichworten wie »Revitalisierung der Städte« oder »Urbanität« von den urbanistischen Disziplinen aufgegriffen.
Es ist auch das Jahrzehnt, in der die politische Ökonomie des fordistischen Wachstumsmodells in eine doppelte Krise gerät. Einerseits erschöpfen sich die Produktivitätsreserven der tayloristischen Arbeitsorganisation, andererseits versagen mit der wachsenden Internationalisierung der Ökonomie die Instrumentarien des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Angesichts der größer werdenden Schere zwischen dem realen gesellschaftlichen Konfliktpotential und den staatlichen Problemlösungsmöglichkeiten artikuliert sich eine wachsende Kritik an der Regulationspraxis der fordistischen Institutionen. Der Neoliberalismus nimmt nun diese Kritik am Wohlfahrtsstaat gewissermaßen auf und wendet sie gegen die Subjekte: Die mit ihm verbundenen neuen Machttechnologien zielen darauf ab, soziale Risiken zu individualisieren, vormalige Schutzrechte abzubauen und die Menschen der Selbstregulation zu überantworten. Auf die verstärkte Forderung nach individuellen Gestaltungsspielräumen reagiert das neue Regime mit einem »Angebot« an die Individuen, sich aktiv an der Lösung von Problemen zu beteiligen, die bislang durch staatliche Einrichtungen reguliert wurden.
Auch das urbane System erfährt eine grundlegende Transformation. Überspitzt könnte man sagen: Waren die Metropolen zuvor über den Prozeß der Verarbeitung materieller Ressourcen definiert, so fungieren sie nun als Orte der Produktion und des Transfers von Symbolen und Wissen. Der Niedergang der industriellen Basis und der Aufstieg der Tertiärökonomie lösen einen gesellschaftlichen Polarisierungsprozeß aus. Der soziale Raum der Stadt hierarchisiert und fragmentiert sich zugleich. Da der Zentralstaat die wachsenden sozialräumlichen Disparitäten nicht mehr ausreichend durch Transferleistungen ausgleichen kann oder will, gewinnen lokale Entwicklungsmodelle an Bedeutung. Ging es in den siebziger Jahren noch darum die Ungleichheit der Räume zugunsten einer einheitlichen nationalen Dimension aufzuheben, so setzt nun der Staat verstärkt auf die lokale Dimension. Die Städte sehen sich dazu veranlaßt unternehmerische Profile zu entwickeln und eine aktive lokale Arbeits- und Sozialpolitik zu betreiben. Nicht mehr die Bereitstellung sozialer Infrastrukturen, sondern die marktförmige Organisation des städtischen Raums erhält für die lokalstaatliche Politik einen zentralen Stellenwert. Die Abwendung vom etatistischen Solidarprinzip und die Mobilisierung des Raums als strategische Ressource sind die entscheidenden Merkmale der »unternehmerischen Stadt«.
Neue Territorialstrategien
Diese Ausrichtung der Stadtentwicklungspolitik bringt auch eine Reihe von neuen Territorialstrategien mit sich. So forciert das urban management den Ausbau der Kernstadt zur Konsum- und Erlebnislandschaft für einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen und Touristen. Dafür wird auch das Modell der europäischen Stadt in historischen Kulissen wieder belebt. Daneben entstehen am Rande der Zentren hochgradig verdichtete Raumeinheiten, die in irgendeiner Weise Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Unterhaltung vereinigen. Diesen beiden dominanten Formen von Städtebau gilt auch die Aufmerksamkeit der kommunalen Planungspolitik. Häufig werden dabei städtebauliche Schlüsselprojekte in Form von plublic-private-partnership zwischen öffentlicher Hand und privaten Investoren abgewickelt. Parallel dazu zieht sich die kommunale Administration aus der gleichmäßigen Verantwortung für die gesamte Stadt zurück. Die punktuelle Konzentration der Aktivitäten und Ressourcen wird mit der Erwartung vorangetrieben, auf diese Weise exemplarische Erfolge zu erzielen, geht aber zu Lasten einer breit angelegten Interventionspolitik. Die unternehmerische Strategie folgt der Logik einer ökonomisierten Standortkonkurrenz, die den Stadtraum durch besondere Aufmerksamkeit auf einzelne Fragmente hierarchisiert und zugleich durch die Größe der Projekte den städtebaulichen Maßstab des modernen Städtebaus sprengt. Angesichts der Globalisierung und Flexibilisierung der Ökonomie erweist sich das territoriale Arrangement des Fordismus für die mobilen Kapital und Informationsströme als Hindernis. Das neue Netz der privilegierten Knotenpunkte legt sich über die fordistischen Raumstrukturen und reißt die großräumigen Funktionsraster auseinander.
Neben der »Politik der privilegierten Orte« zeichnen zwei weitere Territorialstrategien ab. Zum einen versuchen die Kommunen den fragmentierten Stadtraum stärker durch ordnungspolitische Kontrollstrategien zu regulieren und »konsumabträgliche« Submilieus von zentralen Orten und Plätzen zu verdrängen. Zum anderen gewinnt das »Regieren durch Community« an Bedeutung. Es handelt sich um eine Form von Machttechnologie, die auf selbstverantwortliche Gemeinschaften setzt und vor allem zur Durchsetzung von Integrationsprogrammen in sogenannten Problemquartieren zum Einsatz kommt. Durch die Stärkung lokaler Mitwirkungsrechte und die Einbeziehung der Anwohner in Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, sollen die selbstaktivierenden Fähigkeiten der Betroffenen gefördert werden. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, handelt es sich doch um subalterne Gruppen, die bislang eher unter dem strengen Reglement staatlicher und fürsorgerischer Institutionen standen. Aber auch auf diesem sozialen Feld lassen sich zunehmend aktivierende Interventionstechniken beobachten, die auf empowerment - sprich Eigenverantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Dasein und Mitverantwortung für das Gelingen von Gemeinschaftlichkeit.
In der Bundesrepublik läuft dieses Mobilisierungsprogramm unter dem Begriff des »aktivierenden Staates« an. Die Befürworter des Konzepts setzen sich damit ausdrücklich vom Modell des »Schlanken Staates« ab, der ihrer Meinung sich lediglich auf die Reduzierung öffentlicher Aufgaben beschränkt. Der »aktivierende Staat« soll im Unterschied zum fürsorgenden Interventionsstaat die Gesellschaft nicht direkt steuern, sondern ihr bei der »Selbstentfaltung« moderierend zur Seite stehen. Dieses Modell schlägt sich beispielsweise in dem bundesweiten Programm Soziale Stadt und verschiedenen Länderinitiativen nieder. Nachdem der Zentralstaat die Städte bereits seit den achtziger Jahren zur kommunalen Selbsthilfe gezwungen hatte, verlagern diese nun ihrerseits teilweise die Verantwortung für die ökonomische und soziale Entwicklung auf die einzelnen Quartiere. Besonders betont wird in derartigen Programmen auch die Absicht der Mobilisierung lokaler Ressourcen, das Ziel der Entwicklung von selbsttragenden Strukturen und die Aktivierung der Bewohner zur Selbsthilfe. Die kommunale Modernisierungspolitik instrumentalisiert damit in gewisser Weise lokale Akteure und Formen der Selbstorganisation, um die gegenläufige Entwicklung zwischen Sozialabbau und Verarmung zu bremsen. Eine lokale Verankerung planerische Vorgaben wurde von den sozialen Initiativen im Kampf gegen die zentralstaatlich gesteuerte Flächensanierung schon seit langem gefordert. Allerdings hat sich im Laufe der Zeit der politische Kontext gänzlich verändert. Noch in den siebziger Jahren beschränkten sich die Partizipationsmodelle in der Regel auf Bürgerbeteiligungen bei Planungsvorhaben. Später arbeiteten lokale Behörden im Rahmen der »sozialen Stadterneuerung« mit zahlreichen lokalen Projekten zusammen, die meist aus dem Protest gegen kommunale Sanierungsvorhaben entstanden waren. Gegenwärtig wird nun die »Selbstorganisation« oder Partizipation von Bewohnern in den sogenannten Problemquartieren geradezu beschworen. Als Idealbild gelten nun »selbständige Gemeinwesen«, die möglichst wenig Kosten verursachen sollen und eine Rücknahme von staatlichen Interventionen ermöglichen.
Angesichts veränderter Gesellschafts- und Machtstrukturen hat sich das vormals dominante Modell des flächendeckenden Plans weitgehend diskreditiert. Zwar gibt es weiterhin das traditionelle Planungsinstrumentarium, aber die zentral- und lokalstaatlichen Institutionen haben immer weniger die Ressourcen und den politischen Willen, es anzuwenden. Nicht die Festschreibung von Raumstrukturen durch großflächige Konzepte, sondern die Organisation und Moderation von Prozessen bewirken heute städtebauliche Effekte. Zugleich hat sich ein Pragmatismus breit gemacht, der die Planungsinstanzen zu ausführenden Organen der durchsetzungsfähigsten partikularen Interessen degradiert.
Entwicklungsstrategien, die solche Machtkonstellationen reflektieren, müßten also den übergeordneten Zusammenhang im Blick behalten und sich davor hüten, eine bestimmte räumliche Ebene als den entscheidenden Aktionsraum zu definieren. Es ist vielmehr angebracht städtebauliche und sozialräumliche Projekte über eine Vielzahl von Ebenen hinweg miteinander zu verbinden. Sowohl horizontal zwischen community und Region als auch vertikal zwischen lokaler und nationaler oder gar transnationaler Ebene. Da Orte nicht lokal begrenzt sind und Machtverhältnisse in verschiedenen räumlichen Einheiten produziert und reproduziert werden, sollte die Perspektive darauf ausgelegt sein, die einzelnen territorialen Ebenen zu überspringen und dabei auch die Grenzen von Quartier und Stadt überschreiten. Eine Politik des jumping scales könnte neuen Formen einer urbanen Praxis den Weg öffnen, die den neoliberalen Territorialstrategien entgegenarbeitet.
Transkription eines Vortrages, gehalten am 15. Mai 2003 bei tempo.rar.
Klaus Ronneberger, Stadtsoziologe, Schwerpunkt Stadt- und Raumplanung, Frankfurt