Von Prag bis Baku: Erkundungsreisen in osteuropäische Städte
Besprechung von »Stadtgeschichten — Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku.« herausgegeben von Benjamin Conrad und Lisa Bicknell(Stadt)Exkursionen sind heute ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil innerhalb der universitären Bildung vieler Studierender. Dem akademischen Elfenbeinturm den Rücken zukehrend, begeben sich Studierende, aber auch erprobte WissenschaftlerInnen an historische Orte, um ihre fachspezifischen, vermehrt auch interdisziplinären Fragen an den oft gedrängten und zum Teil überlagerten Raum zu stellen und ihn mit allen Sinnen zu erkunden. Publiziert werden im Anschluss meist nur die konkreten Erkenntnisse der Ausgangsfrage. Die mitgenommenen Karten, Flyer und anderen Druckerzeugnisse, wie die zur Erinnerung aufgehobenen Museumstickets, fristen (bislang auch in der Forschung) häufig ein Schattendasein. Nun scheinen sie doch, wenn auch nicht explizit erwähnt, Verwendung gefunden zu haben. Der vorliegende Sammelband vermittelt den Eindruck, dass die beteiligten AutorInnen, die meisten entstammen dem Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, gerade erst von ihren Forschungsreisen zurückgekehrt sind und ihre (Stadt)Erlebnisse mit den erwähnten Fotos und Karten illustrierend niedergeschrieben haben. Die Wege, die für die vorliegende Publikation eingeschlagen wurden, führen über verschiedene Zeiträume in diverse Richtungen gen Osten. 15 Beiträge sind drei thematischen Kapiteln zugeordnet: Musealisierung und Monumentalisierung, Repräsentativität und Inszenierung sowie Multikulturalität im urbanen Raum. Umrahmt werden die Stadtexkursionen von einer Einleitung der HerausgeberInnen und einem Schlusskommentar von Meike Hensel-Grobe. Mit Letzterem möchte sie einerseits zu weiteren Exkursionen anregen, zum anderen fasst er kontextbezogen nochmals die Beiträge zusammen, weshalb er auch als inhaltliche Einführung gelesen werden kann. Wer allerdings einen umfassenderen Überblick über die aktuelle kulturwissenschaftliche Forschung zu osteuropäischen Städten erwartet, wird enttäuscht. Belohnt wird das Lesepublikum dahingegen mit vielseitigen Topografien — wortwörtlich Ortsbeschreibungen. Die Diversität zeigt sich bereits in der Schreibweise von Orts- und Landschaftsbezeichnungen und bezeugt die Neu- bzw. Umdeutung der Ereignisse auf historischer und sozio-kultureller Ebene. So zum Beispiel bei Hermannstadt: Während Hans-Christian Maner in seinem Beitrag Zur Multikulturalität zweier Städte in Rumänien die deutsche Bezeichnung für Sibiu — Hermannstadt — verwendet, benutzt er die rumänische für Jassy — Ias¸i. Die Namen dienen hier als ein Hinweis auf die ethnische Zusammensetzung der EinwohnerInnen dieser Städte. Auch die Stadt Lwiw hat seit ihrem Bestehen ihre Schreibweise und Nationalität gewechselt. Christof Schimsheimer untersucht, wie Lemberg im Lichte seiner Städtepartnerschaften seine Identität konstruiert.
Außer Ethnizität tauchen stets Konfessionen auf der demografischen Karte des Sammelbandes auf. Martin Paul Buchholz stellt am Beispiel der Ausˇros Vart gatve· — der Straße des Tores der Morgenröte — in Vilnius dar, wie politische Vorgänge eine »multikonfessionelle Nutzungsgeschichte« der Kirchenbauten beförderten und das nicht nur im 20. Jahrhundert. In thematischer und geografischer Nähe ist der Aufsatz von Svetlana Bogojavlenska anzusiedeln. Sie zeichnet nach, wie in Riga im Laufe der Zeit jüdische Orte mit repräsentativen Gebäuden räumlich von der Vorstadt ins Zentrum wandern, dagegen während des Zweiten Weltkriegs und innerhalb der Sowjetunion von der Karte schlichtweg verschwinden und heute wieder ein Netz von musealen und memorialen Erinnerungsorten bilden. Die Frage der Repräsentativität wirft auch Hans-Christian Petersen in seiner bemerkenswerten Ausführung zu Orten der Unterschichten in St. Petersburg auf. Neben sorgfältigen Überlegungen zum integrativeren Umgang mit diesem Teil der Stadtgeschichte und seiner BewohnerInnen — »Armut und ›die Armen‹ nicht als ein Stigma zu begreifen, […] sondern sie als einen Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren« — leistet Petersen einen wertvollen Beitrag, der ergänzend zu dem von Karl Schlögel et al. herausgegebenen Sammelband Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte steht. Man könnte sagen, der Wunsch von Jan C. Behrends in einer Rezension des genannten Buches, »[v]om St. Petersburg der zugewanderten Bauern, armen Industriearbeiter, der Prostituierten und Hehler, der Spieler, Kleinbürger und obdachlosen Tagelöhner […]« zu erfahren, wurde erhört und am Beispiel der Vjazemskaja lavra überzeugend präsentiert. Die Stadt St. Petersburg — die in der Literaturwissenschaft eine ganze Stadttextgattung prägt — ist noch ein weiteres Mal im Beitrag von Alexander Bauer vertreten. Sprachlich gewandt setzt er sich mit der russischen Geschichte auseinander, die mit dem Taurischen Palais verknüpft ist und die Architektur und Ausstattung gleichzeitig mitgeprägt hat. Diese Schnittstellen zwischen Inszenierung und Funktionalität werden an deutschen Botschaften in Moskau von Benjamin Conrad, an modernen Parlamentsbauten in Prag und Warschau von Paul Friedl sowie an Krönungsorten in Preßburg und Budapest von Stefan Albrecht überprüft. Allen diesen Abhandlungen ist gemein, dass der Mythos bzw. die Nostalgie der historischen Narrative an das Heute anknüpfen und dadurch eine chronologische und zugleich räumliche Kontinuität für die relativ jungen Staaten bieten. Inwieweit die politische Symbolik eines Vorgängerstaates auch nach seinem Untergang prägend sein kann und wie schwierig sich die Aufarbeitung der Geschichte gestaltet, machen Alena Alshanskaya und Maike Sach deutlich. Immer noch erweist es sich als eine Herausforderung, ein alternatives Geschichtsbild zu zeichnen, das sich nicht zwischen oppositionären Standpunkten, den heldenhaften Errungenschaften der UdSSR und dem Opfernarrativ bewegt. Die Zusammenführung patriotischer Motive im Sakralbau der Allerheiligen-Gedächtniskirche in Minsk, so das erste Beispiel, verweist auf die staatliche Instrumentalisierung der kirchlichen Erinnerungskompetenz. Das zweite Beispiel widmet sich dem Stalin-Museum in Gori und dem Museum der sowjetischen Okkupation in Tiflis. Außer der konkreten Auswahl der Exponate und ihrer Präsentation interessiert sich Sach für die politische Ikonografie. Das Museum, das das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt, ist per se ein »lieu de mémoire«, wie es von Pierre Nora oder Jan Assmann geprägt wurde — die Namen der beiden tauchen jedoch im gesamten Band nicht auf.
Zur Frage »[o]b die Republiken der Sowjetunion Kolonien seien?«, die Sach zum Schluss ihrer Ausführungen zur Diskussion stellt, gesellt sich auch der Beitrag von Andreas Frings. Vor dem Hintergrund des sowjetischen Bakus in den 1920er Jahren als Austragungsort des Kongresses der Völker des Ostens, skizziert Frings die »antikolonialen Bemühungen des internationalen Sozialismus«. Detailreich und an historischen Orten lässt er die »sowjetische Wahrnehmung des Orients« nacherleben. Ähnlich geht Lisa Bicknell vor und blickt wortwörtlich hinter die Kulissen eines ikonografischen Bildes: Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 — ein durchaus nachzuahmendes methodisches Vorgehen.
Die letzten zwei Beiträge wandern auf dem touristischen Pfad bzw. dem des Marketings und dem des Umweltschutzes. Auf die schwarze Ader, die sich durch die Hauptstadt Aserbaidschans zieht und sich in den Namen der Straßen, in Monumenten und Häusern widerspiegelt —, das Erdöl als eine endliche Ressource, macht Elnura Jivazada aufmerksam. Die Einzigartigkeit des Naturraums Baikalsee und das Kulturerbe der Stadt Irkutsk stehen im Mittelpunkt von Julia Röttjers Aufsatz. Ihr gelingt es, Parallelen in den Schutznarrativen und der Untergangsrhetorik aufzuzeigen, die bis in die Zeit der Erschließung Sibiriens reichen. Spätestens nach dem Lesen der letzten beiden Texte wird das breite Spektrum des gesamten Bandes deutlich und die Lust auf einen Städtetrip in eine der vielen besprochenen Städte des Ostens geweckt.
Insgesamt kann für das Sammelwerk festgehalten werden, dass einerseits die Stadt weit mehr Anknüpfungspunkte zu eigenen (Forschungs)Themen zu bieten scheint, als man selbst vermuten mag. Andererseits erhält das Lesepublikum Einsichten in verschiedene Facetten der osteuropäischen Städte, die Hintergrundinformationen für die aktuellen politischen, sozio-kulturellen Ereignisse liefern können. Möglicherweise hätte eine kurze theoretische Grundlage den Band bereichert und die referierten Beiträge enger verknüpfen können — dies war aber auch kein formuliertes Bestreben der HerausgeberInnen. Unklar bleibt außerdem, wie die einzelnen Autoren und Autorinnen ihre Stadtgeschichten (re)konstruiert haben. Dafür ist aber die Verwendung zweisprachiger — in Deutsch und der jeweiligen Stadtsprache — und ergänzender englischer Literatur anerkennenswert, auch wenn die Bibliografien manchmal zu knapp ausfallen. Für anregende Stadtgeschichte(n) und Exkursionsempfehlungen ist das Buch zweifelsohne lesenswert.
Natalja Salnikova