Von Spanien lernen?!
Besprechung von »Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen« von Nikolai HukeDie über Wochen besetzten Plätze in den Zentren der Metropolen als Orte der Selbstermächtigung und Laboratorien einer neuen, echten Demokratie; die vielfältigen Praxen der Solidarität und Selbstorganisierung im Angesicht einer alltäglichen Krise; der offensive Kampf gegen die Austeritätspolitik nationaler Regierungen und europäischer Institutionen — die Krisenproteste, die seit 2010 vor allem, aber keineswegs ausschließlich in Südeuropa entstanden sind und Hoffnung auf einen demokratischen Aufbruch in Europa geweckt haben, erscheinen angesichts der aktuellen politischen Großwetterlage beinahe wie Bilder aus einer längst vergangenen Zeit. Nicht zuletzt das Experiment linker Stadtregierungen in Spanien und die auch hierzulande geführte Debatte um einen neuen Munizipalismus zeigen jedoch, dass der mit dem Ausbruch der Krise begonnene Kampfzyklus noch nicht vollständig zum Erliegen gekommen ist, sondern weiterhin Aufmerksamkeit verdient.
Genau hier setzt das im letzten Jahr erschienene Buch Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen des Politik-wissenschaftlers Nikolai Huke an. Wie der Autor in der Einleitung schreibt, verfolgt das Buch am Beispiel Spaniens das Anliegen, »der ereignisorientierten, bruchstückhaften Rezeption von Protestbewegungen eine integrale Entwicklungsgeschichte gegenüber zu stellen, die relativ kleinteilig Entstehung und Dynamiken unterschiedlicher Bewegungen und Protestformen über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Ziel ist es, Erfahrungen mit politischer Organisierung sichtbar zu machen, die für soziale Bewegungen im europäischen Zentrum (…) das Potential bieten, eigene Praxen kritisch zu hinterfragen und konstruktiv weiterzuentwickeln.« Zu diesem Zweck zeichnet Huke, der dabei auf eine Vielzahl von Interviews mit Aktivisten und Aktivistinnen unterschiedlicher Bewegungen zurückgreifen kann, detailliert den Verlauf und den schrittweisen Wandel der Krisenproteste in Spanien zwischen 2011 und 2015 nach.
In vier eigenständigen Kapiteln widmet sich das Buch der Bewegungen der Indignados des 15-M, den vor allem mit der PAH (Plattform der Hypothekenbetroffenen) verbundenen Kämpfen um Wohnraum, den Protesten gegen Kürzungen und Restrukturierungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie zuletzt dem Versuch, durch neue linke Parteien und Wahlplattformen die Machtverhältnisse im Inneren des Staates selbst zu verändern. Ausgehend von der Entstehungsgeschichte der unterschiedlichen Bewegungen rekonstruiert Huke dabei deren zentrale politische Inhalte und Strategien ebenso wie die konkreten Protest- und Organisierungsformen, die unterschiedlichen Kommunikations- und Mobilisierungsmethoden und die soziale Basis und Zusammensetzung der Proteste. Diese dichte und trotzdem jederzeit anschauliche Darstellung lässt nicht nur die ungeheure politische Dynamik des Protestzyklus lebendig werden. Vielmehr macht sie auch sichtbar, wie sehr die Bewegungen — etwa in Gestalt einer alltagsnahen, ermächtigenden Politik der ersten Person, der Etablierung inklusiver und horizontaler Strukturen oder einer relativ breiten Beteiligung unterschiedlichen sozialer Gruppen — durch die basisdemokratische politische Grammatik der Platzbesetzungen des 15-M geprägt waren.
Das Buch geht jedoch insofern über eine bloße Beschreibung der inneren Funktionsweise der Krisenproteste hinaus, als Huke diese nicht isoliert betrachtet, sondern in den breiteren gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Spaniens verortet. Neben den Beziehungen zu den etablierten Organisationen der spanischen Linken betrifft dies insbesondere die Auswirkungen der Krisenproteste auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und ihre Wechselwirkung mit den staatlichen Apparaten. Diese Frage wird hauptsächlich im letzten, resümierenden Abschnitt jedes Kapitels thematisiert, wo Huke auf eine bemerkenswert allgemeinverständliche Weise Konzepte kritisch-materialistischer Staatstheorie sowie neuerer Ansätze aus dem Bereich der Politischen Theorie aufgreift, um die zuvor beschriebenen Prozesse gesellschafts-theoretisch und politisch zu deuten.
Die Ausgangsthese lautet dabei, dass die Bewegung des 15-M, indem sie Form und Inhalt der Krisenpolitik der etablierten Parteien grundlegend in Frage stellte und mit eigenen, radikal-demokratischen Formen der Interessenartikulation und Entscheidungsfindung experimentierte, »(…) gleichzeitig Effekt und Katalysator der Repräsentations- und Legitimitätskrise der repräsentativen Demokratie [war]. Ihr gelang es erfolgreich, die Grenzen der allgemeinen Repräsentationsbehauptung des Staates sichtbar zu machen und damit ungehorsame Praktiken gegenüber dem Staat zu legitimieren.« Huke zufolge schuf erst diese Verschiebung im politischen Koordinatensystem die Grundlage dafür, dass es in der Folge in d en Kämpfen in den Bereichen Wohnen bzw. Bildung und Gesundheit zu einer »Normalisierung und Ausweitung ungehorsamer Praktiken weit über ›traditionelle‹ aktivistische Segmente der Bevölkerung hinaus« kommen konnte, die bis zur »Selbstvollstreckung« sozialer Grundrechte in Form von Hausbesetzungen reichten.
Trotz breiter gesellschaftlicher Unterstützung und vieler »kleiner großer Erfolge« vermochten die Proteste jedoch kaum eine substanzielle Veränderung der zunehmend autoritär verhärteten Krisenpolitik zu erwirken. Dass ein Teil der Bewegungen infolgedessen die strategische Entscheidung traf, mittels neuer linker Parteien und Wahlplattformen einen »Überfall auf die Institutionen« zu versuchen, sieht Huke kritisch. Zwar gesteht er insbesondere den munizipalistisch orientierten Initiativen wie Barcelona en Comú oder Ahora Madrid zu, sich gegenüber den Bewegungen um ein nicht-instrumentelles Verhältnis zu bemühen und neue, produktive Formen der (partei-)politischen Praxis entwickelt zu haben. Insgesamt überwiegt jedoch deutlich seine Skepsis gegenüber den traditionellen Formen des Politikbetriebes und dessen Tendenzen zu Expertentum, Kooptierung und Deradikalisierung.
Unabhängig davon, ob man diese Einschätzung am Ende teilt oder nicht: Mit seiner detailreichen, fundierten und gut lesbaren Analyse liefert Hukes Buch eine unverzichtbare Grundlage für das Verständnis der Errungenschaften, aber auch der Grenzen der Krisenproteste in Spanien. Gerade wegen seiner praxisnahen und sympathisierenden, dabei aber nie unkritischen Haltung gegenüber den Bewegungen bietet es darüber hinaus auch für politische Experimente und strategische Debatten hierzulande unzählige Anknüpfungspunkte. Ein Pflichtkauf!
Felix Wiegand