Warschau - Jüdische Absenz, Jüdische Präsenz
Mein erster Besuch in Warschau fand 1979 statt, im Jahr des Papstbesuchs, der bis heute als einer der auslösenden Momente für die Entstehung der Solidarnos´c´ und damit für den Beginn des Systemwandels gilt. Auch ohne dieses Großereignis konnte man als Besucher schnell feststellen, dass hinter der offiziellen Maske Sozialismus der Katholizismus die eigentliche prägende Kraft in der Stadt (und im Land) war, überall präsent mit gefüllten Kirchen, mit Blumen und Kreuzen. Dagegen schien das jüdische Warschau – dem Besucher – fast nur noch in zwei Zeichen verdichtet: dem Denkmal für das Warschauer Ghetto und seine Zerstörung im Stadtteil Muranów, einsam fast auf einem großen leeren Platz gelegen und umgeben von den Plattenbauten der Wiederaufbaujahre, und dem Jiddischen Theater am Grzybowski-Platz, das bis 1968 – bis zu ihrer Emigration – von Esther Rachel Kamin´ska, später dann von Szymon Szurmiej geleitet wurde: ein schier überlebensgroßes Monument des Todes und der Zerstörung, entworfen 1947/48 von Nathan Rapaport, umgeben von einer weiten Leere, und ein winziges Symbol des Lebens, ebenso wertvoll wie unbeachtet.
Joachim Schlör leitet seit 2006 als Professor for Modern Jewish/non-Jewish Relations an der University of Southampton das Parkes Institute.