Wie Phönix aus der Asche - Stadtentwicklung in Moravia, Medellín
Besprechung von »Moravia Manifesto« hrsg. von M. Ahlert, M. Becker, A. Kreisel, P. Misselwitz, N. Pawlicki & T. SchrammekMoritz Ahlert, Maximilian Becker, Albert Kreisel, Philipp Misselwitz, Nina Pawlicki, Tobias Schrammek (Hg.)
Moravia Manifesto – Coding Strategies for Informal Neighborhoods / Estrategias de codificación para barrios populares
Englisch / Spanisch
Berlin: Jovis, 2018
344 Seiten, 32 Euro
Moravia Manifesto erzählt eine Geschichte von Flucht und Ankunft, von Besetzung und Aneignung eines scheinbar unbewohnbaren Ortes und von Widerstandsfähigkeit und kreativen Denkweisen angesichts unzähliger Widrigkeiten des Alltags informeller Stadtsiedlungen.
Das Moravia-Manifest entwickelt eine eigene Methode, den sogenannten Moravia Code speziell für das namensgebende Viertel im Herzen der kolumbianischen Stadt Medellín, mit dem es sich für einen Paradigmenwechsel in der urbanen Planung einsetzt. Es fordert neue und integrative Ansätze, die Top-down-Planung mit Bottom-up-Initiativen kombinieren, um eine nachhaltige und qualitativ hochwertige Lebensumgebung für benachteiligte Viertel zu schaffen. Der Code ist das Ergebnis eines zwei Jahre andauernden Engagements des Urban Lab Medellín | Berlin, im Rahmen dessen kolumbianische und deutsche Architektur- und Städtebau-Student*innen einen intensiven Austausch mit gegenseitigen Städtebesuchen pflegten. Praktisches Herzstück der Aktion war die über mehrere Monate andauernde Reaktivierung einer kommunalen Treppe und die Gestaltung eines Gemeinschaftsgartens im Viertel selbst.
Das in vier Teile gegliederte Buch erzählt zunächst die Geschichte Moravias, des ursprünglichen Sumpflands am Rande der wachsenden Stadt, das zur Müllhalde, zur Einkommensquelle und Heimat der Müllrecylcer*innen und schließlich zu einem der größten Stadtgärten Kolumbiens wurde. Anhand von einprägsamen Illustrationen, Texten und Bildern werden die wichtigsten historischen Etappen durchlaufen – beginnend mit den Grauen des bewaffneten Konflikts seit den 1960er Jahren und seinen Konsequenzen für die Migrationsbewegungen in Richtung der großen urbanen Zentren des Landes.
Die Ankunft der Menschenmassen, in Medellín besonders am Nordbahnhof gegenüber dem Müllberg von Moravia, stößt von staatlicher Seite zunächst auf gewaltsame Reaktion, auf Marginalisierung und Vertreibung. Als in den 1980er und 1990er Jahren die Situation durch die Eskalation des bewaffneten Konflikts auszuufern droht – Medellín ist 1993 mit einer Mordrate von 381 pro hunderttausend Einwohner*innen die gefährlichste Stadt der Welt – sieht sich die Politik zur Reaktion und Anwendung erster städteplanerischer Instrumente gezwungen.
So wird etwa dem Umfassenden Verbesserungsprogramm für Moravia (1983) eine zentrale Funktion für die Anerkennung als Stadtviertel zugesprochen. Aber erst das neue Jahrtausend kann einen wirklichen Neuanfang für Medellín einläuten: Die Befriedung von bewaffneten urbanen Banden oder der Tod des Drogenbosses Pablo Escobar bringen ein langsames Ende der Gewaltexzesse der 1990er. Der Bau der Metro 1995 oder das Programm des Urbanismo Social der 2000er Jahre führen zu ersten wesentlichen infrastrukturellen, sozialen und kulturellen Verbesserungen und die Anbindung der benachteiligten Viertel. Sie belegen gleichzeitig das Potenzial der Architektur als Katalysator für ganzheitliche Veränderung und sie sind es, die den Weg der Transformation zu einer modernen Metropole ebnen und der Stadt später den Titel der »innovativsten Stadt der Welt« einbringen.
Eingebettet in die traumatische Stadtgeschichte liefert der zweite Abschnitt, Urban Coding, die Definition und historische Einordnung des inklusiven Planungsansatzes und diskutiert die Methoden, die das Urban Lab Medellín | Berlin entwickelt und in der Praxis ausprobiert hat. Die Autor*innen beschreiben anschaulich die drei Stadien des Kodierungsprozesses: Unter Decoding werden Daten, Fakten und Karten zur sozioökonomischen Situation präsentiert und Schlüsselthemen zum Verständnis des urbanen und sozialen Gefüges erläutert. Darauf aufbauend wird der Moravia Code aufgestellt, ein Forderungskatalog für zukünftige Planungsprozesse, der sich an unterschiedliche Akteur*innen (Behörden, Planer*innen, Unternehmen, Organisationen, Basisbewegungen) richtet und durch eine Reihe an konkreten Instrumenten zur Erfüllung dieser Ansprüche ergänzt wird. Anwendung zeigt schließlich verschiedene Transformationsszenarien für Moravia auf, die von Community-Mitgliedern inspiriert und von Student*innen aus Medellín und Berlin entwickelt wurden.
Der dritte Abschnitt, Globaler Kontext, bietet einen umfassenden Überblick über soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen in informellen Kontexten, um die Relevanz und Kohärenz der im Moravia-Manifest besprochenen Themen hervorzuheben. Eine Auswahl an Essays internationaler Expert*innen ergänzt unterschiedliche Perspektiven und Positionen zu urbaner Informalität und den Potenzialen der Koproduktion für die Stadtentwicklung. In einer abschließenden Reflexion werden Prozess und Ergebnisse des Urban Lab Medellín | Berlin rekapituliert und die potenzielle Bedeutung für entsprechende städtische Aushandlungsprozesse diskutiert.
Beim Moravia Manifesto handelt es sich um eine ästhetisch ansprechende und inhaltlich umfangreiche Dokumentation des
Forschungs- und Umsetzungsprozesses des Urban Labs Medellín | Berlin. Das darin entwickelte Kodierungsverfahren dient als vielversprechende Methode zur Replizierung und Anwendung in vergleichbaren urbanen Kontexten, die kollektive Aktion unter Einbindung der lokalen Bewohner*innen als beispielhaftes Instrument der sozialen Intervention für Stadterneuerungsprozesse.
Das Buch zeigt innovative Wege auf, wie Planung, Politik, Wirtschaft und Verwaltung gemeinsam mit Kommunen urbane Transformationsprozesse anstoßen und umsetzen können. Es wird damit zum politischen Manifest, das mittels Anleitung für eine integrative und koproduzierte Stadtplanung menschenwürdige Bedingungen für informelle Communitys einfordert.
Manuel Oberlader ist Soziologe und Verkehrswissenschaftler. Er führte Projekte zu urbaner Mobilität, Migration und Armut in Wien und Lateinamerika durch und arbeitete im bilateralen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Bereich. Manuel hat Soziologie und Französisch an der Universität Wien und der Nouvelle Sorbonne in Paris studiert.