Wir müssen das Leben ändern
Besprechung von »The situationist and the city« herausgegeben von Tom McDonoughThe situationists and the city, herausgegeben von Tom McDonough, bietet eine konzentrierte Sammlung von zentralen Texten und emblematischen Images zu urbanistischen Fragestellungen, die im Rahmen der Situationistischen Internationale (1958-1972) entstanden sind. Es finden sich neben Klassikern wie Guy Debords Theorie de la dérive oder der Formulaire pour un urbanisme nouveau (Formel für einen neuen Urbanismus) von Ivan Chtcheglov auch Erstübersetzungen ins Englische. Einbezogen werden auch die frühen Texte der Lettristischen Internationale (1952-1956), der wichtigsten Vorläuferbewegung, die ebenfalls von Guy Debord geprägt worden war.
Der rote Faden im urbanistischen Denken der S.I. lag in einer fundamentalen Kritik an der modernen Stadtplanung und insbesondere an einer modernistischen Planungsdoktrin. Man sah in Form der räumlichen und sozialen Transformationen der Stadt Paris in den 1950er und 60er Jahren nichts weniger als eine neue „Haussmannisierung“ am Werk. Diese zeigte sich für die S.I. in erneuten „Slum-Bereinigungen“ und im Bau von großmaßstäblichen Wohnsiedlungen an der Peripherie, die von der Gesamtstadt abgetrennt waren. Diese Tendenz zur Segregation manifestierte sich nicht zuletzt in der Spaltung in einen vom Bürgertum geprägten Westteil und in einem vorwiegend von ArbeiterInnen bewohnten Ostteil der Stadt. Die situationistische Kritik ging aber weit über eine ästhetische Kritik, die sich damals etwa gegen die „Seelenlosigkeit“ und „Anonymität“ modernistischer Wohnblöcke zu formieren begann, hinaus. Man sah in der Verbindung von standardisiertem Wohnbau und privatem Autobesitz die Manifestation des kapitalistischen Systems schlechthin – das man überwinden wollte. Man kritisierte, dass Wohnungen zur Ware geworden waren und Menschen zu Dingen, die man in Wohnmaschinen à la Le Corbusier verwahrte und deren Verhalten man auch durch räumliche Ordnungssysteme zu konditionieren suchte. Der Tendenz zur räumlichen Trennung von Arbeit, Wohnen, Produktion und Konsum setzte man einen Urbanisme unitaire (unitärer Urbanismus) entgegen, der eine wiedergewonnene Einheit von Leben, Arbeiten und spielerischer Kreativität zum Ziel hatte. Als Vorbild taucht in den Texten wiederholt die Pariser Kommune (1871) auf, ein geschichtliches Ereignis, das nicht zuletzt durch die revolutionäre Aneignung von städtischem Raum geprägt war. Politische, soziale und räumliche Grenzen wurden für einige Wochen aufgelöst. Auch der Urbanisme unitaire wurde als revolutionärer Urbanismus verstanden und als solcher mehr als Praxis der Aneignung und Umdeutung von existierenden Objekten und Räumen (détournement) als als Propagierung einer bestimmten Form von Stadtplanung. Die Psychographie, die Praxis des dérive, die die Herstellung von Situationen zum Ziel hatte, sollte in idealer Weise surrealistische Techniken und marxistische Analysen vereinigen.
So ist es auch konsequent, die Phase von 1957-62 als architectural interlude (architektonisches Zwischenspiel) zu bezeichnen, wie es Tom McDonough in seinem Vorwort tut. Constant Nieuwenhuis’ experimentelle Stadtutopie New Babylon ging von einer Gegenwartsanalyse aus und wollte das „virtuelle Potenzial“ der Gesellschaft nützen. Auf diese Weise war es Labor und Utopie zugleich, basierte der Entwurf doch auf der Annahme, dass die BewohnerInnen des entgrenzten Raumlabyrinths von der Pflicht zu arbeiten enthoben waren und frei für kreative Arbeit und Begegnung und eine spielerische Erfahrung von Freiheit. Nicht zuletzt die charismatischen Modelle und Zeichnungen haben seither eine dominierende Rolle in der Rezeptionsgeschichte der Bewegung gespielt.
Ab 1960 kam es bekanntlich innerhalb der Gruppe – vor allem durch die Initiative von Raoul Vaneigem und Attila Kotányi – zu einer teilweisen Revision des urbanistischen Konzepts und zu einer internen Kritik am utopischen Charakter von New Babylon. Utopien ohne Chance auf Realisierung wurden – in Marxscher Tradition – zunehmend kritisch betrachtet. Urbaner Raum wurde weniger als ein Ort der Entfaltungsmöglichkeit, als eine Konkretisierung von Entfremdung gesehen. Man wollte zudem auch zu diversen Strömungen einer Neo-Anvantgarde (wie etwa Yona Friedmans Manifest Ville spatiale) Distanz wahren und favorisierte zunehmend einen Rückzug aus konkreten städtebaulichen Fragestellungen.
Interessanterweise kam es Anfang der 1960er Jahre wieder zu einer kurzzeitigen Zuwendung zu einem „Architektur-Visionär“, dem Österreicher Günther Feuerstein. Die von diesem Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre verfassten Manifeste sind im vorliegende Band zum Teil enthalten, wie etwa die Thesen zur Inzidenten Architektur (1958). Mit Feuerstein verband die SituationistInnen die Kritik an einer bürokratischen, modernistischen Planungspraxis und die Hinwendung zu emotionalen Raumqualitäten. Man sollte hier anmerken, dass Günther Feuerstein als Architekturlehrer in Wien die jungen Coop Himmelb(l)au förderte, deren Manifest Architektur muss brennen (1980) der Forderung Guy Debords, dass „Architektur aufregend sein müsse“, entsprach. Ob sich Guy Debord über die von Coop Himmelb(l)au 2007 in München fertiggestellte BMW-Welt gefreut hätte oder diese eher als eine Kathedrale der Spektakelgesellschaft betrachtet hätte, sei dahingestellt.
Die vorliegende Textsammlung dokumentiert exemplarisch, wie produktiv die Verweigerungshaltung der S.I. war. Angenehmerweise propagierte man weder eine Rückkehr zu einem unverfälschten Modernismus oder zu vormodernen Formen, noch findet sich ein schwarzer Kulturpessimismus wie er der konservativen Moderne-Kritik oft eigen ist. Die großteils klarsichtige Stadt-Analyse und Planungskritik ist auch heute noch interessant zu lesen. Ist anfänglich noch deutlich der Einfluss der SurrealistInnen spürbar, so setzt sich nach und nach eine nüchternere Betrachtungsweise durch. Eine zentrale Referenz wurde etwa das Werk des Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe: Paris et l’agglomeration parisienne (Paris und die Pariser Region) von 1952. Der vorliegende Band könnte auch dazu beitragen, ein Gegenwicht zur Dominanz der Rezeption von Constants New Babylon vor allem in Architektenkreisen herzustellen und eine breitere Diskussion anzuregen.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.