Ljubomir Bratić

Ljubomir Bratić lebt als Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist, Aktivist und Flüchtlingsbetreuer in Wien.


Es gibt sie, die allgemeine Aufbruchsstimmung. Man findet kaum mehr Zeit, über die Fülle der neuen Aktionen, die sich tagtäglich abspielen, nachzudenken.
Nachdem wir uns den ersten oberflächlichen Einblick in die Situation verschafft haben. Nachdem wir jetzt gelernt haben, zwischen der Demokratischen Offensive, SOS-Mitmensch und den Menschen auf der Straße zu unterscheiden. Nachdem die Versuche der Vereinnahmung sich nicht erfüllt haben, steht man jetzt plötzlich vor einer neuen Situation der Ratlosigkeit. Mit jedem Tag wird die Atmosphäre - trotz der neuen Einsichten, Informationen, neugewonnenen Freiheiten und der Zurückeroberung von Teilen des öffentlichen Raumes - auswegloser. Es scheint, daß Mann/Frau etwas verheimlicht, wenn sie sich entscheiden, so im Unklarem stehen zu bleiben. Nähert man sich durch das Infragestellen nicht sehr dem eigenen nutzbringenden Vorurteil?
Ich will hier nicht den kritisch-intellektuellen Gehalt von Manchen bezweifeln. Ganz im Gegenteil, ich merke, wie wichtig ihre Rolle ist und wie gut sie diese spielen. Ich will auch nicht sagen, daß die rationale kritische Vernunft - die stärkste Waffe der Intellektuellen - nicht merkt, worum es sich hier handelt. Schließlich habe ich selber die Gelegenheit, ab und zu mit manchen von diesen Menschen zu reden.
Aber manche Fragen müssen genau um dieser Vernunft Willen gestellt werden, weil es keine Tabus mehr geben kann. Und die erste dieser Fragen ist: Wo sind die MigrantInnen? Was ist denn passiert, daß sich diese 10% der österreichischen Bevölkerung so verhalten wie auch bisher: reserviert gegenüber der Sache der Majoritäten ... fast so, als wenn es ihnen gar nicht um irgendwas in diesem Aufbruch gehen würde. Eine Frage, auf die bisherige Analysen der Vernünftigen nicht eingegangen sind, und die mich brennend interessiert.
Heißt die Antwort wie die von Roland Barazon in der ORF-Sendung »Zur Sache« auf die Frage von Ariel Muzikant, warum keine MigrantInnen dort sprechen dürfen? Barazon erklärte, daß es bei dieser Diskussion um die »Fremdenfeindlichkeit« geht, um das also, was sich ausschließlich in den Köpfen von ÖsterreicherInnen ereignet, und wo die MigrantInnen dazu nichts zu sagen haben.
Oder stimmt eine Antwort so, wie Hito Steyerl es formuliert: »Der Nenner des derzeitigen Wiener Aktionismus gegen die neue schwarz-blaue Regierung ist ganz einfach: während die Haider-Wähler nicht, wie allseits behauptet, gegen den Filz stimmen, sondern für den Rassismus, demonstriert der überwiegende Großteil ihrer Gegner umgekehrt nicht gegen den Rassismus, sondern für den Filz. Das bedeutet: für die sozialstaatlichen Privilegien, die in Österreich traditionell nach dem Konsensprinzip verteilt wurden. MigrantInnen wurden jedoch von diesem nationalen Konsens mit einer Inbrunst ausgegrenzt, die sich angesichts des kommenden ethnisierenden Sozialabbaus nur noch verstärken wird. Unter dem Banner des antirassistischen Widerstands treffen also nicht Verbündete zusammen, sondern politische Konkurrenten um knapper werdende Ressourcen«
Ich glaube, daß wir, die MigrantInnen, mit der zweiten Antwort viel mehr anfangen können.

Ljubomir@magnet.at


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