
Work-Life-Balance zwischen Care-Arbeit, Gig-Economy und Home-Office
Besprechung der Ausstellung »24/7 – Arbeit zwischen Sinnstiftung und Entgrenzung« im Kunsthaus GrazDie derzeit im Grazer Kunsthaus noch laufende Ausstellung 24/7 – Arbeit zwischen Sinnstiftung und Entgrenzung nähert sich sehr umfangreich über künstlerische Arbeiten dem Thema Arbeit bzw. Nichtarbeit.
Der Einstieg zu dieser Ausstellung erfolgt bereits auf der Rolltreppe über einen Ameisentunnel, einer älteren Arbeit von Peter Kogler, die für das Kunsthaus adaptiert wurde, die das Thema Arbeit somit gleich auch auf andere Lebewesen überträgt. Oben angekommen sieht man ein Video des leider viel zu früh verstorbenen Harun Farocki mit historischem Bildmaterial, das das Verlassen der Fabrik nach einem Schichtwechsel zeigt. Erweitert wird diese Arbeit von seiner Partnerin Antje Ehmann, die viele Kurzfilme unterschiedlichster Arbeitssituationen gesammelt hat, um diese dem fordistischen Verlassen der Fabrik gegenüberzustellen. Diese Dekade hat – nicht zuletzt infolge von Covid – zu neuen Transformationsprozessen in der Arbeit- und Wirtschaftswelt geführt, die die bekannten Strukturen der postfordistischen Globalisierung herausfordert. Der massive Einsatz von Home-Office mitsamt seiner Videokonferenzen hat unsere Arbeitsbedingungen verändert. In weiterer Folge hat sich vielfach die Frage gestellt, warum unser Arbeitsplatz nicht generell mobil und im Sinne einer optimierten Work-Life-Balance örtlich selbstbestimmt werden kann. Auf der anderen Seite hat die Gig-Economy eine Schar von Auftragnehmer:innen geschaffen, die weltweit vor ihren Computern Minijobs erledigen oder auf ihren geleasten Elektrofahrrädern das gerade bestellte Essen fast aller Bevölkerungsgruppen austragen. Hierauf bezieht sich die Arbeit mit bunten Arbeitsgewändern von Theresa Hattinger, Michael Hieslmair und Michael Zinganel, die sich nicht nur im Kunsthaus selbst, sondern auch im Außenraum vor dem Kunsthaus wiederfindet.
Die Ausstellung setzt zudem auf ein dichtes Kooperations- und Vermittlungsprogramm, wobei die Kooperation mit dem Haus der Geschichte und der Ausstellung Alles Arbeit. Frauen zwischen Erwerbs- und Sorgetätigkeit, Fotoarchiv Blaschka 1950–1966 wohl die umfangreichste ist. In dieser Ausstellung wird das Nachkriegsbild der Frau den immer noch ungelösten Fragen und Problemen der Care- und Sorgearbeit und ihren Ungerechtigkeiten gegenübergestellt. Dazu gibt es in der Ausstellung ein Video von Lia Sudermann und Simon Nagy. Schräg gegenüber läuft der zur feministischen Ikone gewordene Klassiker Semiotics of the Kitchen von Martha Rosler. In dem Video stellt Rosler all ihre Küchengeräte alphabetisch und teils aggressiv vor. Inhaltlich ähnlich kann das Video AEG von Selma Selman (siehe dazu auch das Kunstinsert in dérive #80 ) gelesen werden, in dem die Künstlerin Staubsauger zertrümmert.
Der relativ lang angesetzte Ausstellungszeitraum wurde gut genutzt, um Arbeiten in der Ausstellung selbst entstehen zu lassen: Gleich zu Beginn startete Santiago Serra mit der Schreibperformance zweier Menschen mit Fluchterfahrung, die den Satz »Ich werde niemals einem Europäer die Arbeit wegnehmen« vier Stunden lang schreiben mussten. Natürlich wurden die Performer:innen für diese Arbeit mit Fair-Pay-Honoraren bezahlt. KURS (Mirjana Radovanovic´ und Milosˇ Miletic´) lassen ihr großes Wandbild We have always received something in exchange that we lived on lazyness ebenfalls in mehreren Etappen entstehen, wo in dieser Ausstellung vielleicht am besten die Frage nach einer Work-Life-Balance zum Thema wird. Aldo Giannotti nimmt die Teilnahme an der Ausstellung zum Anlass, eine Dauerperformance Museum Encounters (On work) zu initiieren, bei der Besucher:innen täglich mit Museums-mitarbeiter:innen auf einem Podest sprechen können. Eine persönliche Neuentdeckung ist der kanadisch-britische Künstler Sam Meech, der mit Punchcard Economy – 8 Hours an einer Strickmaschine mit Lochkarte acht Stunden im Kunsthaus ohne Unterbrechung gestrickt hat. Seinen Lohnzettel über 400 € setzt er ins Zentrum der Installation. Das gestrickte Produkt selbst sieht er als Nebensache, was auch viele Fragen des Kunstmarktes und selbstredend die Bezahlung von Künstler:innen aufwirft. Die Bezahlung von Arbeit wird am prägnantesten durch die Videoinstallation One Euro von Oliver Walker thematisiert, die fragt, wie lange die jeweilige Person in ihrem Beruf benötigt, um einen Euro zu verdienen. Die Ungleichheit zwischen einem CEO und einer Landarbeiterin im Süden ist erdrückend: Eine Sekunde des CEO entspricht vielen Stunden der Landarbeiterin.
Den beiden Kurator:innen ist es gelungen, sehr tief in das umfangreiche Thema einzutauchen. Auch Arbeiten klingender Namen wie Liam Gillick, Jeremy Deller, Michail Michailov oder Andreas Gursky werden gezeigt. So kann man in die wunderbare Fotoarbeit von Andreas Gursky im Amazon-Lager eintauchen. In dieselbe Richtung geht auch das fiktionale Video Supercargo-Halbautomatisches Reisen, welches Christoph Schwarz auf der Reise auf einem Frachtschiff entstehen ließ. Die Arbeit von Tehching Hsieh, die seinen ein Jahr lang andauernden Selbstversuch, sich jede Stunde mit einer Kamera, die mit einer Stechuhr verbunden war, zu fotografieren, ist ein Klassiker.
Am 16. Jänner 2025, drei Tage vor dem Ende der Ausstellung, wird es noch eine umfangreiche Finissage geben: Eine Kurator:innenführung und einen Workshop Sinnerfüllt Arbeiten; drei Kurzfilme der Filmemacher:innen Lia Sudermann / Simon Nagy, Michail Michailov, Christoph Schwarz, einen Live-Feed zur Wiederaufführung der Performance Punchcard Economy: 8 Hours Labour von Sam Meech in Montreal, sowie Beratungsangebote von ÖGB und AK.
24/7 – Arbeit zwischen Sinnstiftung und Entgrenzung
kuratiert von Katia Huemer;
co-kuratiert von Martin Grabner
Kunsthaus Graz
01.05.2024 bis 19.01.2025
Paul Rajakovics ist Urbanist, lebt und arbeitet in Wien.