Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


m Wohnbau sieht es mit theoretisch fundierten und gleichzeitig praxisorientierten Reformvorschlägen schlecht aus: ExpertInnen liefern häufig minimale Detaillösungsansätze für Auswüchse, die dann im parteipolitischen Gleichgewicht des Schreckens versanden. Andererseits gibt es Entwicklungsideen, denen man leider das mangelnde Wissen über Rahmenbedin- gungen und Praxis des heutigen Wohnbaus sofort ansieht. Andreas Rumpfhuber versucht mit seinem Band Wunschmaschine Wohnanlage, basierend auf seiner Arbeit im Rahmen des Roland-Rainer-Forschungsstipendiums, einen Vorschlag zu machen, der diesem Dilemma entkommt. Sein Beitrag ist theoretisch fundiert, er baut unter anderem auf seine Forschung zum Thema Raum und Arbeitswelt auf, und zieht aus diesem Fundament praktische Konsequenzen. Er nützt sein Thema, die Wiener Großwohnanlagen der 1950er bis 1980er Jahre, für eine generelle Diskussion zur Weiterentwicklung des Wiener sozialen Wohnbaus. Es gab in diesem Sektor, der bis heute vom Mythos des Roten Wien zehrt, auch in der jüngeren Vergangenheit zweifellos wichtige Neuerungen: Vor etwa zwanzig Jahren wurde das Fördersystem mit Bauträgerwettbewerb und Grund- stücksbeirat eingeführt, welches einerseits als Liberalisierung bezeichnet werden kann, andererseits aber hinsichtlich Quali- tätssteigerung, Preisbeschränkung und Bodenpolitik durchaus erfolgreich war. Vor acht Jahren wurde die soziale Nachhaltigkeit als neues Kriterium für den geförderten Wohnbau eingeführt. Und seit Kurzem gibt es ein umfangreiches Programm für besonders preiswerte Wohnungen, die Smart-Wohnungen, um die Zielgruppe in Richtung niedrige Einkommen zu erweitern. Im Gemeinderats-Wahlkampf 2015 wurde sogar ein Neubeginn des Gemeindebaus, also des kommunalen Wohnungsneubaus angekündigt, den es in Wien seit fast 15 Jahren nicht mehr gibt. Doch das Potenzial für Innovation ist nach wie vor enorm: Wichtige Themen des Wohnbaus, die in Wien in einzelnen Pilotprojekten behandelt, aber nicht zum Standard wurden, sind etwa Nutzungsmischung, Wohnen und Arbeiten, hochwertiger öffentlicher Raum, neue Mobilitätsmodelle, eine Vielfalt von Wohnbautypen und Akteuren und Akteurinnen sowie Selbstorganisation und Aneignung, man könnte generell sagen: sozialer Städtebau statt allein sozialer Wohnbau.
Rumpfhubers Studie beschäftigt sich mit dem Wiener Wohnbau dazwischen – zwischen dem Roten Wien der 1920er Jahre und der Phase der Liberalisierung seit den 1990er Jahren, begleitet von einer gewissen Refokussierung auf die soziale Frage in der jüngsten Zeit. Sein Ansatz ist es, nicht die überkommene und nach wie vor gültige Perspektive einzunehmen, nach der Wohnsiedlungen allein Orte des Wohnens, der Hausarbeit und der Freizeit sind, sondern sie zu Orten des Wohnens und Arbeitens zu transformieren, um so Urbanität statt bloß ein »Bild von Urbanität« herzustellen. Das ist für einen neuen sozialen Städtebau Wiener Prägung sicher die richtige Strategie – aktuelle städtebauliche Ansätze argumentieren heute oft, dass die Konzentration auf das Wohnen problematisch sei, imaginieren aber als Alternative Orte der Freizeit, die von den Leitbildern der Moderne nicht weit entfernt sind (Rumpfhuber: »Club Med ohne Animation«). Sein Ansatz geht von einer Integration von Wohnen und Arbeiten in der »Stadt nach der Arbeit« aus, setzt dabei allerdings vorrangig auf leicht verträgliche Kreativ- und Wissensarbeit, die ins »wohnliche« Umfeld passt – dieser Sektor wächst zweifellos, ein solcher Fokus greift aber gerade angesichts der aktuellen Debatte über die Rückkehr der Produktion in die Stadt etwas zu kurz. Als wichtige Qualität, als »Luxus« der Wohnanlagen identifiziert Rumpfhuber die umfangreichen Grünräume, die allerdings durch ihren Charakter als Abstandsgrün ihr Potenzial vergeuden. Wichtige Verfügungsmasse für eine Weiterentwicklung sind weiters die großflächigen, ebenerdigen Parkplätze. In seinem Ansatz werden, um Fläche freizumachen, Pkws in Parktürmen gesammelt, die bei Veränderung des Mobilitätsverhaltens rückgebaut werden können.
Rumpfhuber bezieht sich in seiner Studie vielfach auf die aktuellen kleinen, innovativen Ansätze im Wohnbau, die meist nicht von den großen und politiknahen Akteuren kommen, etwa Baugemeinschaften, Coworking Spaces, Planungspartizipation und die Belebung der Erdgeschoßzone. Diese sind zweifellos alle nicht so einflussreich, dass sie zu einer grundlegenden Veränderung des Wiener Wohnbausystems werden können – aber dass er auf sie einen leicht despektierlichen Blick wirft, in dem man durchaus eine Widerspiegelung der Ablehnung des selbstorganisierten, genossenschaftlichen Siedlungsbaus im Wien der 1920er Jahre durch die städtische Sozialde- mokratie sehen kann, haben sie nicht verdient. So wird in der Studie mehrfach behauptet, die Wiener Baugemeinschaften würden vorrangig einer Mehrwertproduktion für die jeweilige Gruppe dienen – dabei wird übersehen, dass gerade die Wiener Baugemeinschaften, im Unterschied etwa zu Deutschland, meist auf Gemeinschaftseigentum basieren und damit eine Rendite aus der Immobilie generell ausschließen – im Unterschied zur üblichen Form des Wiener geförderten Mietwohnungsbaus, wo heute durch die Vorgabe des Mietkaufs die Privatisierung der geförderten Wohnungen durchaus üblich ist. Auch wenn man Rumpfhuber recht geben muss, dass diese reformistischen Ansätze allein keine grundlegende Reform des Wiener Wohnbaus erreichen werden, so bleibt er eine Alternative schuldig, wie sein Reformziel prozessual zu erreichen wäre. Er geht schlussendlich implizit von einem starken politischen Akteur aus, der die vorgeschlagenen Änderungen durchzusetzen gewillt ist. Ob das der richtige Weg ist, um kooperative Modelle einer breiten Masse zugänglich zu machen, sei dahingestellt.
Rumpfhuber nennt seinen Vorschlag eine »Wunschmaschine« unter Bezug auf Deleuze/Guattari, er bezeichnet ihn also als bestehend aus nicht kalkulierbaren und somit unkontrollierbaren, unbewussten produktiven Prozessen. In § 1 seines Entwurfs Wunschmaschine Wohnanlage postuliert der Autor die Gründung einer großen »Wohn- und Arbeitsgenossenschaft«, die die Flächen der untersuchten Wohnanlagen im Baurecht von der Stadt Wien übernehmen soll, um sie zu dynamisieren und weiterzuentwickeln. Um das zu ermöglichen, soll das österreichische Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz geändert werden, sodass die gemeinnützigen (jetzt:) Wohnbauträger hinkünftig nicht mehr allein auf das Wohnungs- und Siedlungswesen verpflichtet wären, sondern zusätzlich auf die Errichtung und den Betriebvon Arbeitsräumen. Das ist zweifellos ein richtiger und wichtiger Ansatz, wenn sich damit auch eine Reihe von Konsequenzen ergibt, die zu prüfen wären. Unklar ist allerdings, warum Rumpfhuber eine einzige gigantische Genossenschaft vorschlägt, die mit Übernahme des Baurechts an den 46 Anlagen mehr als 50.000 Wohnungen besäße, die weiters durch die Weiterentwicklung fast verdoppelt werden könnten. Dies auch angesichts der Tatsache, dass die Grundstücke im Eigentum der Stadt blieben und somit der langfristige einheitliche politische Zugriff auf die Areale ohnehin gewährleistet wäre. Die Rechtsform Genossenschaft ist ein Vehikel der Selbstorganisation und Selbstverantwortung, was in solchen Dimensionen nicht mehr möglich wäre – das erkennt man schon an den heute existierenden genossenschaftlichen Bauträgern, die vergleichsweise klein sind, aber längst nur mehr formal durch Selbstorganisation gesteuert werden. Ebenso unklar ist, wie diese Konstruktion funktioniert, die weder »von oben« noch »von unten« organisiert sein soll. Die Genossenschaft wird von der Stadt Wien gegründet und soll dann die »alten« und zukünftigen BewohnerInnen der Anlagen aufnehmen, um schließlich den Transformationsprozess zu starten – aber woher soll das dafür nötige Kapital kommen, das angesichts des Vorschlags eines allgemeinen bedin- gungslosen Grundeinkommens für die Mitglieder ebenso gigantisch sein muss? Von den BewohnerInnen offensichtlich nicht. Schlussendlich läuft der Vorschlag auf einen neuen, (gar nicht so) kleinen Staat im Staat, so weit wie möglich unabhängig vom existierenden Staat, hinaus, der allerdings nicht vorrangig durch die eigenen StaatsbürgerInnen finanziert wird, sondern von außen. Eine Wunschmaschine oder Assemblage bildet diese Konstruktion gewiss nicht.
Während somit § 1 der Wunschmaschine offensichtlich noch nicht weit genug geht, bieten die weiteren drei Paragraphen wichtige Ansätze für die Diskussion über den Wiener Wohnbau, insbesondere über die Weiterentwicklung des Bestands aus der Zeit zwischen 1950 und 1990. Eine Stärke des Beitrags ist der in § 2 formulierte Entwurfsansatz im Gegensatz zu den prozeduralen und organisatorischen Vorschlägen. Die städtebauliche Lösung für die Verdichtung der Großwohnanlagen, die oft aus Zeilen bestehen, ist herausragend in seiner Einfachheit und Angemessenheit: Um jede Zeile zieht Rumpfhuber eine niedrig zu bebauende, kreisförmige Zone, die abhängig von der jeweiligen Situation nicht als voller Kreis, sondern als Kreissektor in ein Gebäude umgesetzt wird, er schreibt von einem »parametrischen« Zugang. Der kreisförmige Grundriss um die Zeilen wird gleichzeitig symbolisch verstanden. In dem Bebauungsvorschlag für eine Anlage in Wien-Donaustadt zeigt sich allerdings, dass diese Lösung ähnlich selbstbezüglich ist wie die ursprüngliche Planung der Anlagen, wenig Spielraum für ein Eingehen auf den räumlichen Kontext lässt und sich somit teilweise ungünstige Raumsituationen ergeben, die für alte wie neue BewohnerInnen nachteilig sind. Es stellt sich die Frage, ob in der Praxis nicht eine kontextuelle, spezifische einer generischen Lösung für alle oder jedenfalls viele Anlagen vorzuziehen wäre, um die grundsätzliche Schwäche des parametrischen Zugangs zu vermeiden. Und das Parametrische ist wohl mit dem Konzept der Wunschmaschine unvereinbar. Der Ansatz erlaubt jedenfalls ein Abgehen von der Not-in-my-Backyard-Vorgangsweise, die bisherige Vorschläge oft verfolgten. § 3 zur »Programmatik der Wunschmaschine« ist der eigentliche Kern der Studie, der die Integration von Arbeit in den Wohn- und Siedlungsbau ausführt und damit Bedeutung über den konkreten Anlass der 46 Gemeindebau-Wohnanlagen hinaus besitzt. Durch Entspezialisierung der Gebäude soll dabei eine intensivere und effizientere Raumnutzung entstehen, die somit den Raumbedarf ebenso wie die notwendigen Wege reduziert. Diese Perspektive ist notwendige Voraussetzung für einen zukünftigen Städtebau Wiens insgesamt und natürlich auch aller anderen europäischen Städte. In §4 geht es um eine Dynamisierung der Anlagen durch eine Veränderung der Raumtypologie: Statt wie bisher Wohnungen der Typen A bis E (Ein- bis Fünf-Zimmer-Wohnungen) anzubieten, soll der Mix zukünftig nur mehr die Typen A (etwa 35 Quadratmeter) und C (etwa 75 Quadratmeter) umfassen, ergänzt durch einen neuen, für Wohnen ebenso wie Arbeiten nutzbaren Typ X (20 Quadratmeter), durch Gemeinschaftsräume und Sonderprogramme. Diese Raumtypologie ist vermutlich nicht die einzig mögliche und sinnvolle, vor allem für so viele Wohnungen gleichzeitig. Sie ist aber zweifellos ein interessanter Vorschlag, der erprobt und weiterentwickelt werden müsste. Alles in allem: Die Wunschmaschine ist eine gute Grundlage für ein Pilotprojekt; die generische Lösung, die sie sein will, ist sie nicht.


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