Zur Bewertung des Wohnens
Besprechung von »Affordable Living – Housing for Everyone« herausgegeben von Klaus Dömer, Hans Drexler und Joachim Schultz-GranbergLösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Mit dem ständig wachsenden Anteil der in Städten lebenden Weltbevölkerung ist dieser Anspruch zu einem globalen geworden. Wie lassen sich aber internationale Ansätze mit ihren regionalen Spezifika in ihren Unterschiedlichkeiten bewerten und miteinander vergleichen?
Das Buch Affordable Living – Housing for Everyone stellt anhand von sechs Essays und sechzehn Projektbeispielen internationale stadtplanerische und architektonische Lösungsansätze der jüngsten Zeit dar, die einen Beitrag zu diesem Thema leisten. Der Band stellt das Ergebnis einer mehrjährigen Auseinandersetzung im Rahmen eines akademischen Austausches zwischen der Universität Münster und dem Harbin Institute of Technology in Shenzen, China, dar.
Im Zentrum dessen, was leistbarer Wohnbau sein kann, stehen die an diesen Entwicklungsprozessen beteiligten AkteurInnen und die Abhängigkeiten zwischen Investition, Rechtsform und Regulativen. Die allerorts fortschreitende Liberalisierung der Märkte legt die Produktion sowie die Regelung des Zuganges zu Wohnraum und dessen Verwaltung vor allem im massenweise produzierten sozialen Wohnbau zusehends in die Hände von privaten InvestorInnen. Im indischen Bangalore, wo die Gentrifizierung innerstädtischer Gebiete eine starke Verdrängung der ärmeren Bevölkerung nach sich zieht, treten nunmehr mehrgeschossige Wohnbauten an die Stelle informeller, niedriger Strukturen. Kostengünstiger Wohnraum als am stärksten nachgefragtes Marktsegment wird nach westlichem Vorbild durch PPP-Modelle oder allein durch private InvestorInnen gedeckt. Die Wohnraumproduktion dient dabei buchstäblich der Umverteilung von unten nach oben, selbst die SlumbewohnerInnen werden nunmehr vertikal geschichtet, die zentralen Fragen nach dem Zugang zu Mobilität und zu Land bleiben dabei im großen Maßstab ungelöst.
Gegensätzlich dazu gestaltet sich die Situation in China, wo ein Tandem aus staatlichen und informellen Maßnahmen kostengünstigen Wohnraum sichert. So sind es in Shenzen ehemalige Bauern, die einen Großteil des Bedarfes an leistbarem Wohnraum informell decken. Ihnen wurde vom Staat großflächig Bauland für die Errichtung von Wohngebäuden als Kompensation für ihre landwirtschaftlichen Flächen gegeben. Auf diesen dehnt sich nun die Stadt rings um die ehemaligen Dörfer aus. Aus den ehemaligen Bauern wurden notgedrungen Bauherren, die das in kollektivem Besitz stehende Land dicht bebauten, um den Wohnraum an zugezogene ArbeiterInnen zu vermieten. Diese so genannten Urban Villages decken gemeinsam mit dem staatlichen sozialen Wohnungsbau im Rahmen der regulierenden wirtschaftlichen Maßnahmen den Bedarf an kostengünstigem Wohnraum.
Gemeinschaftliches Eigentum steht auch im Zentrum der bottom-up organisierten Kooperativen und Baugenossenschaften, die sich in Westeuropa immer größerer Beliebtheit erfreuen. Sein eigener Bauherr zu werden, kann mitunter bedeuten, für sich selbst die Standards zu definieren, nach denen Wohnraum noch einen Bedarf deckt und nicht Ausdruck einer Bedürfnisproduktion darstellt, frei nach der Frage »Wieviel ist genug?«
Den Hauptteil des Buches bilden die sechzehn Projektbeispiele, die in vier Themengebiete gegliedert sind: Standards/Participation, Mass Housing, Minimizing/Externalization und Prefabrication. Ihnen werden jeweils vier ausgesuchte Wohngebäude aus Europa, Asien und den USA zugeordnet, die einer Analyse im ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Kontext unterzogen werden. Die Projekte werden dabei textlich kontextualisiert und anhand ihrer Entstehungsgeschichte und regionaler Besonderheiten erläutert. Den methodologischen Kern der Publikation bilden hierbei Diagramme zur Leistbarkeit, der Bebauungsdichte und charakteristischen Kostenwerten. Die Leistbarkeit der Projekte wird dabei im Verhältnis zum Anteil des Monatseinkommens definiert, der im Durchschnitt für Wohnen ausgegeben wird. Ergänzt werden diese Darstellungen durch einen grafisch übersetzten Qualitätenkatalog, der sich über mehrere Maßstabsebenen von gebäudebezogenen und bauphysikalischen Kennwerten bis zur städtebaulichen Integration erstreckt. Durch diese Abstraktion werden die Projekte weniger an eine relative Vergleichbarkeit herangeführt als vielmehr hinsichtlich des Zusammenhangs von architektonischen Stellschrauben und Kosten vergleichbar.
Der Blick auf die globalen Vorgänge ermöglicht die Kontextualisierung der Prozesse und Ansätze, und es zeigt sich erwartungsgemäß, dass sich das Kriterium der Leistbarkeit hervorragend als Lesart für die Kontextualisierung von Wohnbau und Politik eignet. Die Essays bieten Einblicke in städtebauliche, soziokulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge, wobei sich die Beschreibungen teils recht unabhängig voneinander hinsichtlich der zu Grunde liegenden Prozesse entwickeln, die die Leistbarkeit von Wohnraum prägen. Die diagrammatische Aufbereitung der Projektbeispiele wiederum knüpft an aktuelle Fragen der Repräsentation und Vermittelbarkeit von Wissen in Architektur und Städtebau an. Dies überzeugt mehr als die Auswahl der Projektbeispiele, denen hinsichtlich der Vergleichbarkeit auch eine stärkere Fokussierung gut getan hätte, etwa ausschließlich auf Mietprojekte. Auch würde man sich eine Untersuchung der in den Essays erwähnten radikaleren Projekte wünschen, wie beispielsweise eines Wohnbaus aus den eingangs erwähnten Urban Villages von Shenzen. Die würden sich vielleicht nicht direkt in die mitteleuropäische Logik der Wohnraumproduktion übertragen lassen, könnten diese aber umso mehr in Frage stellen. Ebenso interessant wie die Diagramme in Bezug auf die Projekte wäre eine Darstellung der am Wohnbau beteiligten AkteurInnen, deren jeweiliger Einflussbereiche und ihrer Interessen.
Insgesamt wird das Handbuchhafte durch das Layout und das handliche Format der Publikation schlüssig umgesetzt. Das Buch stellt sowohl für praktizierende ArchitektInnen als auch für Studierende einen wertvollen Beitrag zu der Frage dar, welche Maßnahmen für kostengünstiges Bauen ausschlaggebend sind. Darüber hinaus leistet es auf der Ebene der Vermittlung einen wichtigen Beitrag zur einem Verständnis komplexer Zusammenhänge.
Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner.