Zur Rolle der Hyper-Präsenz im Film heute. Vom Dokumentarfilm als Realitätscheck, um gegen Ränder zu drängen und Räume zu erweitern
Besprechung der Viennale - Vienna International Film FestivalViennale – Vienna International Film Festival
Wie gelingt es, im Film heute ausgehend von dokumentarischen Mitteln und fundierten Sozialstudien geopolitisch engagierte Formen der Kommunikation zu entwickeln, die unser durch populistische, manipulative Medien und Fake News verzerrtes Bild von der Welt korrigieren? Die 57. Viennale (24.10. bis 6.11.2019) forcierte ein Programm, das die Grenzen des Kinos zu verschieben versuchte und durch das Featuren neuer Formen des Spiel- und Dokumentarfilms politische Themenfelder öffnete, die sich intensiv mit komplexen Fragen zur Flüchtlings- und Kriegsproblematik in Europa befassen. Die Intention, den Dingen auf den Grund zu gehen, äußerte sich auch in den Publikumsgesprächen und begleitenden Diskussionen. Vom Leben der Zurückgebliebenen in Krisen- und Kriegsgebieten handeln die Filme Atlantique (Regie: Mati Diop) und Atlantis (Regie: Valentyn Vasyanovych), welchen es gelingt, durch Kunstgriffe der Science Fiction und der Ghost Story neue Zugänge zum Dokumentarfilm und dessen Anspruch auf die Vermittlung von komplexen Realitäten zu schaffen.
Bis dato werden in Europa Klimaflüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkannt, erhalten als Wirtschaftsflüchtlinge kein Asyl und leben in der Illegalität. Aus europäischer Sicht gilt der Senegal als stabiles Land mit einer funktionierenden Demokratie. 70 Prozent der Bevölkerung leben in der Landwirtschaft, doch die Sahara breitet sich durch den
Klimawandel rasant aus, verschlingt fruchtbares Land und zwingt die Menschen, in den Städten nach Arbeit zu suchen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt nach Schätzung internationaler Organisationen bei 43 Prozent. Im Jahr 2019 haben 7.019 SenegalesInnen, vorwiegend junge Männer, nachts, ohne ihre Angehörigen oder Freundinnen davon zu informieren, ihre Heimat verlassen. Viele von ihnen sterben auf der riskanten Bootsfahrt über das Mittelmeer, ihre Leichen werden angeschwemmt oder durch den schnellen Zersetzungsprozess des Leichnams durch das Meeressalzwasser nie gefunden.
Mit den Ursachen, was junge Männer dazu bewegt, das Land Senegal zu verlassen, setzt sich der Film Atlantique der franko-senegalesischen Regisseurin Mati Diop auseinander. Am Beginn des Films stehen Szenen wütender junger Arbeiter auf einer großen Baustelle, die über Monate kein Gehalt bekommen haben. Die Kluft zwischen den mächtigen Nichtzahlenwollenden und dem Gefälle der Armut steht gleich zu Beginn des Films. Im Hintergrund ist die Skyline von Dakar zu sehen. Die Empörung über die ungerechte Behandlung bildet den Auslöser für die Entscheidung der jungen Männer, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa den Senegal zu verlassen. In ihrem Spielfilmdebüt verknüpft Mati Diop Flüchtlingskrise und senegalesisches Frauenbild mit einer Geistererzählung. Die Hauptprotagonistin Ada soll auf Wunsch ihrer Eltern Omar, einen Sohn aus reichem Haus heiraten, obwohl sie den mittellosen Souleiman liebt. »Du hast nur Augen für den Ozean«, sagt sie zu Souleiman bei ihrem letzten Rendezvous am Strand, nichtsahnend, dass dieser noch in derselben Nacht zur riskanten Reise übers Meer aufbricht und, wie sie Tage später tragischerweise erfahren wird, dort stirbt. Auf das Leben der zurückgebliebenen Frauen und die Geister der toten Männer, die Durchdringung des senegalesischen Alltags mit Spiritualität und den Hang zum Übernatürlichen konzentriert sich in Folge der Film. »Ich brauchte die Geschichte der Bleibenden«, sagt Mati Diop, die mit Olivier Demangel das Drehbuch schrieb und im an die Filmprojektion anschließenden Publikumsgespräch erläuterte, weshalb es ihr wichtig war, angesichts des realen Flüchtlingsdramas die Geschichte der Lebenden, derjenigen, die im Senegal bleiben, zu erzählen. Bis dato hat sie im Dokumentarfilm gearbeitet. In Atlantique liegt die Regiekunst von Mati Diop darin, in der Dramaturgie europäischen Romantizismus und afrikanische Spiritualität aufeinandertreffen zu lassen und in der daraus resultierenden Hyper-Präsenz gleichzeitig den realen Bezug des Dokumentarischen im Augen zu haben. Der Soundtrack des Films wurde von Fatima Al Qadiri komponiert und von Milan Records zum Downloaden veröffentlicht. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig war Diop im Wettbewerb um die Goldene Palme die bis dato erste afrikanische Regisseurin.
Der von Valentin Vasyanovych 2019 in der Ukraine produzierte Streifen Atlantis ist ein Film, der die Realität des Krieges, die Besetzung der Ukraine durch Russland hautnah berührt. Die Mitwirkenden Andriy Rymaruk, Liudmyla Bileka und Vasyl Antoniak sind keine SchauspielerInnen, sondern Menschen, deren Erfahrungen im Krieg eine tragende Rolle einnehmen. Der Film spielt in der Zukunft, 2025. Laut Valentin Vasyanovych war ihm diese zeitliche Distanz wichtig, um Abstand vom aktuellen realen Geschehen zu gewinnen. Doch die Bilder – deren cinematografische Gestaltung in Tableaus eine totale Sogwirkung ausübt – sprechen vom Jetzt, von den Zerstörungen der Siedlungen und ökologischen Verseuchungen des Wassers und der Erde durch radioaktive Minenablagerungen als Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland. Was einst eine blühende Landschaft war, gleicht nun einer Ruine. Einige der gigantischen Industrieanlagen scheinen noch in Betrieb zu sein, doch die darin agierenden Arbeiter wirken apathisch, traumatisiert vom Krieg. Sergey, der Hauptprotagonist, ist ein demobilisierter Soldat, der sich auf der Suche nach seiner Heimat befindet. Er schließt sich der Schwarzen Tulpe – einer Organisation der Caritas – an, als er auf einer Landstraße auf Kate trifft, mit der er sich auf die Suche nach den teils bereits mumifizierten Leichen des Krieges begibt und mit der er eine Liebesromanze beginnt, deren Ausgang offen bleibt. Atlantis befasst sich mit der ökologischen und menschlichen Katastrophe eines Krieges in Europa. Der Film bot im Anschluss auch Anlass für eine Diskussionsrunde, in deren Rahmen über die von der Friedrich-Ebert-Stiftung ROCPE veröffentlichte alarmierende Studie zur Instabilität des Friedens in Europa gesprochen wurde. Mittels der aufgegriffenen Problematiken verkörpert die Viennale 2019 ein Kino, das in der Wahl der Filme neue Spannungsimpulse setzt, und gleichzeitig die Notwendigkeit von Zivilcourage und Widerstand im alltäglichen Leben thematisiert.
Ursula Maria Probst